«Ich will das innere Ausland finden»

Der deutsche Autor und ehemalige «Literaturclub»-Moderator Roger Willemsen über das antiquierte Selbstbild der Schweiz, über die Fehler der Medien und warum Reisen so wichtig ist. Das vollständige Interview aus der aktuellen Wochenausgabe, auch als Video.

(Bild: Livio Marc Stöckli)

Der deutsche Autor und ehemalige «Literaturclub»-Moderator Roger Willemsen spricht über das antiquierte Selbstbild der Schweiz, über die Fehler der Medien und warum Reisen so wichtig ist.

Roger Willemsen ist in Fahrt. Zwischen seiner Ankunft am Badischen Bahnhof und einem Vortrag, den er am eco.naturkongress an der Basler Muba halten soll, haben wir genau 40 Minuten Zeit. Auf jede Frage folgt eine Redeflut, als hätte Willemsen nur auf dieses Thema gewartet. Kein Themenwechsel ist ihm zu abrupt, nachdenken muss er nie, zu jedem Zeitpunkt ist er die Zuvorkommenheit selbst – ganz der Fernsehprofi, der er einmal war.

Viele Leute stört das. «Ouh, Willemsen!», winken sie ab. Zu glatt und eifrig, finden sie, zu eitel, zu viel Selbstinszenierung. Man muss zugeben: Das Gespräch mit ihm geht so schnell und harmonisch, dass man verführt ist, einfach allem zuzustimmen. Auf der anderen Seite hat Willemsen keine Scheu, den Tarif durchzugeben. Sei es über die Schweizer Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative oder zur heutigen Medienlandschaft.

Zum Gespräch nimmt Willemsen Gipfel und Milchkaffee – «mein Mittagessen» –, abends will er in Mannheim das Literaturfestival «Lesen.Hören» als Schirmherr eröffnen. Schnell zur Sache!

Hallo, Herr Willemsen!

Grüss dich!

Wir sitzen am Badischen Bahnhof, wo Sie gerade aus dem ICE gestiegen sind. Wie reist es sich nach der angenommenen Initiative gegen Masseneinwanderung in die Schweiz?

Ein wenig beklommen schon. Man darf der Schweiz da nicht zu viel durchgehen lassen. Das Land hat sich lange daran gewöhnt, dass zum Teil fremdenfeindliche Texte in Zeitungen erscheinen, die in Deutschland so nicht publiziert werden dürften. Ich glaube, dass die Schweiz insgeheim schon lange das deutschenfeindlichste Land war, während sich die Deutschen mit etwas Herablassung ihrer Liebe für die Schweiz vergewissern. Mich hat das Abstimmungsergebnis nicht verwundert. Schaurig finde ich es trotzdem.

Wie verstehen Sie die Entscheidung des Stimmvolks?

Wahrscheinlich steht die Vorstellung einer weitestgehend ungestörten Kultur dahinter. Doch die ist für alle Staaten verloren. Die Schweiz kann sagen: 24 Prozent Ausländeranteil ist weit höher als in Deutschland. Das ist richtig. Aber ich glaube schon, dass hier die Vorstellung von einem umfriedeten europäischen Land gezüchtet wird, die antiquiert ist. Wir haben uns auf Migrationsbewegungen ganz anderer Art einzurichten. Sich dagegen hochzurüsten halte ich für wenig praktikabel.

Nach der Abstimmung wird viel über die Schweizer Abhängigkeit von der EU geredet. Wie wichtig ist umgekehrt die Schweiz für die EU?

Diese Frage hat sich lange nicht gestellt, und man wird sie jetzt neu formulieren müssen. Damit bin auch ich überfordert. Ich finde, dass die EU breitbeinig agiert und sagt: «Wir zeigen euch jetzt, wie sehr ihr uns braucht.» Dabei ist die Sache zunächst mal ein bürokratischer Vorgang, weil die parasitären Verhältnisse und Symbiosen im Zuge der Globalisierung längst existieren und nicht mehr gekappt werden können. Und weil sie sogar Verträge betreffen, die bereits abgeschlossen sind. Mich interessiert das Mentale daran mehr. In der Abstimmung steckt der Reinheitsgedanke von Völkern. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Asylsituation solche Begriffe nicht mehr erlaubt. Und die Schweiz sich auf der Spitze der ökonomischen Privilegien befindet.

Das Ergebnis ist also eher psychologisch relevant als politisch.

In den ländlichen Regionen der Schweiz, in denen die Initiative die grösste Zustimmung erhalten hat, ist diese typische Sache passiert: Man versucht sich mental zu konsolidieren, obwohl man von der Zuwanderung gar nicht betroffen ist. Das ist antiquarisch.

Trotzdem hat die Schweiz eine neue Bestimmung in der Verfassung. Wie sollte sie diese umsetzen?

Damit bin ich überfordert. Ich glaube, dass viel Bewusstseinsarbeit nötig ist. Man muss bei vielen Medien nachschauen, was die eigentlich so publizieren und wo die Gesinnung ihren Ausgang hat, die zur Annahme der Initiative führte. Nur predigt man damit meist zu den Bekehrten. Wahrscheinlich brauche ich das den Bürgern von Zürich und Basel nicht zu sagen. Den Appenzellern, die gerade das Frauenrecht durchgesetzt haben, schon eher.

Wie hat sich die Wahrnehmung der Schweiz in Deutschland verändert?

Es gibt einen Sympathieverlust. Der begann aber schon lange vor diese Abstimmung. Ich muss Ihnen gestehen, ich habe sogar einmal Auftritte in der Schweiz abgesagt. Ich sagte mir, ich muss nicht in einem Land auftreten, das mich nicht möchte. Allen Freunden von mir, die in der Schweiz leben, wurden die Antennen an den Autos umgedreht oder Ähnliches, wenn sie noch ein deutsches Kennzeichen hatten. Das ist lästig und kleingeistig.

Ich kritisiere Deutschland schon so lange und bin immer bereit zu sagen, wie unangenehm die Deutschen sein können. Viele Vorurteile der Schweizer sind keine Vorurteile, sondern analytisch richtige Beobachtungen – aber die Antwort, die darauf gegeben wird, beruht auf Ressentiment. Das finde ich immer doof, ganz egal, ob es Lappländer betrifft, Samen oder Suahelis.

«Wenn es  das ist, was wir wollen: Hurra! Das ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Idioten.»

Macht die EU in ihrer Reaktion auf die Abstimmung etwas falsch?

Das halte ich für möglich. In Konstanz sagt man jetzt: «Schweizer Studenten raus!» Und die Uni dort ist voller Schweizer Studenten. – Wenn es wirklich das ist, was wir wollen: Hurra! Das ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Idioten. Ich hänge an Europa. Nicht als Vereinigte Staaten von Europa, sondern als morphologisch hochdifferenziertes Gebiet unterschiedlicher Stammeskulturen. In dem Sinne könnte man sagen, diese Abstimmung ist eine Bewahrung des Bestehenden. Aber es gibt auf der anderen Seite Notwendigkeiten, die soziale Fragen und Arbeitsmärkte betreffen. Unsere Länder sind angewiesen auf Arbeitskräfte aus dem Ausland. Deutschland ist voller Pflegepersonal aus Polen. Das ist eine hässliche Mehrklassengesellschaft, die sich darauf eingerichtet hat, bestimmte Serviceleistungen abzugeben an Schwellenländer. Doch wenn man jetzt sagt: «Wir können das alles selber» –, dann wäre das ein gewagtes soziales Experiment. Mich wundert nicht, dass es Rückschläge gibt bei solchen Initiativen, aber mich wundert die Drastik, mit der die Schweiz bei Volksabstimmungen immer wieder in konventionelles Denken zurückfällt. Damit verweigert sie den Aufklärungsgedanken.

Sie sind trotzdem hier. Was hat Sie bewogen, die Einladung anzunehmen?

(Ironisch) Die gute Sache.

Sie sind eingeladen, am eco.naturkongress über das Thema Reisen und Mobilität zu sprechen. Was ist an der heutigen Mobilität auszusetzen?

Die junge Generation richtet häufig die Frage nach der Ökobilanz des Reisens an mich. Zumal wenn ich ein Buch mache mit dem Titel «Die Enden der Welt» und an 23 Orte reise, die diesen Titel verdienen. Dann werde ich gefragt: mit welchem Recht? Aber es gibt kein Ende der Welt, an dem ich nicht die Zerstörung der Natur und den Wegfall von Zivilisationsformen sehe. Das zu erkennen und zu beschreiben ist meine Aufgabe.

Für Sie als Reisenden: Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus, dass sich Reisen ökologisch immer schlechter rechtfertigen lässt?

Kein zweiter Wohnsitz, genauere Überlegung darüber, warum ich eine Flugreise antrete, ich habe keinen Führerschein, ich fahre viel Bahn, ich habe kein Handy, mein Haus hat Solarzellen.

Sie machen eine Balancerechnung.

Ja.

Aber Reisen muss sein?

Ja, aber es ist weniger geworden. Seit «Die Enden der Welt» ist das Reisen für mich auch nicht mehr von innerem Pathos begleitet. Ich habe mich so viel mit Fremde behangen, dass ich im Moment Lust habe, den europäischen Kontinent genauer zu beobachten. Das geht per Bahn und auf eine glanzlosere Art.

Wozu reisen Sie eigentlich?

Um das innere Ausland zu finden. Um mich mit Zuständen zu konfrontieren, die man nur erleben kann, wenn man sich dem Ressentiment, dem Ekel, der Langeweile, dem Unverständnis aussetzt. Dabei lernt man an sich Verhaltensformen kennen, die sich nicht vorwegnehmen lassen.

«Mich interessiert beim Reisen weniger das Ankommen, sondern nicht mehr zu existieren.»

Sie finden beim Reisen zu sich selbst?

Ich lösche aus. Mich interessiert beim Reisen weniger das Ankommen als Reporter, der irgendwie den Krieg erlebt hat, sondern nicht mehr zu existieren. Ich bin nur noch die Membran, durch die die Fremde eindringt. Es gibt einen Zusammenhang dazwischen, in die Welt hineinzuwollen und aus ihr hinauszuwollen. Im Reisen steckt eine Suizidbewegung.

Sind Sie Buddhist?

Nein. Aber wenn ich eine Philosophie in der Wahrnehmung von Fremde und auch in Bezug auf die Lebensführung vorbildlich finde, dann ist es der Buddhismus.

Macht Reisen glücklich?

Unter anderem. Es macht vieles. Es gefährdet, es macht fassungslos, es macht ohnmächig vor bestimmten Verhältnissen, es weist einen in die Schranken.

Wenn Sie künftig weniger reisen, was machen Sie stattdessen?

Reisen und darüber schreiben hat immer etwas sehr Autobiografisches. Es geht auch selbstloser. Ich habe zum Beispiel ein Jahr lang den Deutschen Bundestag besucht, habe mich auf die Tribüne gesetzt und das Parlament beobachtet.

Auch eine Reise.

Ins Herz der Demokratie und ins Herz Deutschlands, wo man sehr viel Unerfreuliches findet. Was in dem Buch rauskommt, wird vielen nicht gefallen.

Welche Reise würden Sie jedem empfehlen?

Machen wir es mal ohne ökologische Moral: Myanmar, weil es über Jahrzehnte hinweg weitgehend geschlossenes Territorium war. Inzwischen kann man sich länger aufhalten und findet Regionen, die von der westlichen Kultur unerschlossen sind. Je mehr Strapazen man auf sich nimmt, desto magischer wird es.

Einer der schönsten Orte, die ich in meinem Leben gesehen habe, ist ausserdem Eua, eine kleine Insel in Polynesien. Die Grundstücke werden mit Wäscheleinen abgegrenzt, Schweine laufen frei herum, Mangos fallen auf den Boden und werden nicht exportiert: Das wäre ja Arbeit. Die Leute sind ganzkörpertätowiert und zwei Zentner schwer und lieben sich nach allen Formen des Kamasutra. Man hat das Gefühl, hier ist alles gut. Dortige sagten mir: Wir brauchen Geld nur für Schule und Strom, alles andere nehmen wir aus dem Boden.

Wenn Sie ein Reisebuch über die Schweiz machen würden, wie würden Sie das anstellen?

Sie werden sich wundern, aber ich würde in die Täler gehen und der Musik nachspüren. Da passiert zurzeit sehr viel Interessantes. Ich habe sogar mal was in der Berliner Philharmonie gemacht mit dem Titel  «Global Jodeling». Die Schweizer sind in der Volksmusik extrem weit. Da kann man alle Heimatklischees bestätigen und konterkarieren. Der Klang ist sehr avanciert, das hat nichts mehr von Heimatroman.

Müssen die Schweizer mit ihren Klischees aufräumen?

Es würde ihnen helfen. Sie müssen mit der Mentalität «Wir sind klein und haben Minderwertigkeitsgefühle» aufhören. Sie nehmen sich selber nicht ernst. Nach innen schon, aber nach aussen nicht. Ich wurde manchmal von Schweizern gefragt: Kannst du nicht mal was gegen die ‚Bild‘-Zeitung schreiben? Ich sagte: «Macht es selber! Helft uns doch mal gegen die Arschgeigen der ‚Bild‘-Zeitung. Oder gegen Hans Magnus Enzensberger. Oder gegen Helmut Schmidt.» in der Schweiz fehlt die Courage, mit Gegenwehr umzugehen.

«Fernsehen macht nicht klüger, vor allem die Macher.»

Vor einigen Jahren habe Sie sich aus dem Fernsehen zurückgezogen. Warum?

Es konnte mein Leben verbessern. Fernsehen macht nicht klüger. Vor allem nicht die Macher. Sie glauben in der Regel, sie könnten ihrem Publikum nichts zumuten. Es gab einen englischen Zeitungsmacher, den Chef der «Daily Mail»: Er hatte über seinem Schreibtisch ein gerahmtes Bild hängen, auf dem stand: «Es ist zehn.» Damit war nicht die Uhrzeit gemeint, sondern das geistige Alter des Lesers. So denkt das Fernsehen, und es fällt auf die zurück, die so denken. Immer wieder kriege ich Angebote vom Fernsehen. Das Letzte, was ich machen sollte, war ein Gespräch mit Eva Herman und Hansi Hinterseer. Das kann ich nicht, daran nehme ich Schaden.

Machen die Medien was falsch?

Sie unterwerfen sich dem Druck der Kommerzialität, und das ist letztlich uninteressant. Wenn sich alles am Markt messen muss, dann kommt man zu einem Satz des vormaligen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück: «Gerechtigkeit rechnet sich und muss sich rechnen.» Das ist inhuman. Gerechtigkeit war bisher ein Wert, der den Märkten entzogen war. Ich glaube weder, dass sie sich rechnet noch dass sie das muss.

Früher war es besser?

Das ist zu einfach, aber es gibt gute Argumente für Kulturpessimismus. Zum Beispiel sind der redaktionelle Teil und der Anzeigenteil in vielen heutigen Zeitungen untrennbar verschmolzen. und viele lassen sich ihre Berichterstattung bezahlen mit der Begründung, dass sie die Sponsoren der Veranstaltung nennen, über die sie berichten. In solchen Fällen ist Journalismus nicht mehr unabhängig und uninteressant.

Inzwischen machen Sie vor allem Bücher. Ist das eine gute Entwicklung?

Ich habe immer Bücher gemacht, das Fernsehen war nur eine Episode. Wenn man nicht permanent über Mehrheiten nachdenken will, dann schreibt man lieber ein Buch. Ich habe Guantánamo-Häftlinge aufgespürt und mit denen Interviews gemacht. Das hat keine Zeitung interessiert. Sie fragen, ob früher alles besser war – vor 20 Jahren hätte mir «Der Spiegel» das aus der Hand gerissen. Und das Fernsehen sagt: «Darüber lieber nicht reden.»

Schreiben Sie, um zu informieren?

Ja, aber auch, um zu rühren, um zu amüsieren. Ich schreibe, um Artenschutz für meine Art zu betreiben.

Was ist das für eine Art?

Verschrobene Leute mit Minderheitsinteressen, die dann und wann impulsartig humanitär bewegt sind und die eine andere Vorstellung davon haben, wie gelebt werden soll. Sie müssen sich dauernd verteidigen, weil ihr Milieu schrumpft, ihr Lebensraum und ihre Interessen. Ich finde es eine sehr plausible Tätigkeit, alles dafür zu tun, diesen Lebensraum aufrechtzuerhalten.

Bevor ich Sie nach Basel entlasse, muss ich noch eines wissen: Warum zum Henker sprechen Sie Ihren Vornamen «Roger» aus wie «Tiger».

Das haben mir meine Eltern eingebrockt. Aber stellen Sie sich Rogé Willemsen vor, das wäre schon sehr parfümiert. Eigentlich bin ich nach dem holländische Maler Rogier van der Weyden benannt (sprich Rochier, Red.). Da ich Rogier als eine Rachenkrankheit erkennen würde, sage ich wenigstens Roger. Den Namen gibt es tatsächlich, er ist eine Vorform zu Rüdiger. Ich mag ihn nicht, aber er ist mein Schicksal.

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Videoaufzeichnung von Roger Willemsens Vortrag am eco.naturkongress

Roger Willemsen, 1955 in Bonn geboren, ist heute ein vielgeladener Talkshowgast. Bekannt ist er jedoch für seine Fernsehmoderationen, aus denen er sich sukzessive zurückzog. Zuletzt moderierte er 2004 bis 2006 den Literaturclub im Schweizer Fernsehen. Vormals gehörten zu seinen Interviewpartnern Audrey Hepburn, ein Kannibale, Pierre Boulez, ein Bankräuber und Jassir Arafat. Die Festlegung auf einen bestimmten Gegenstand oder Stil war nie Willemsens Sache. Er war ausserdem mit dem Satiriker Dieter Hildebrandt auf Tour und drehte einen Dokufilm über den Jazzpianisten Michel Petrucciani, mit dem er bis zu dessen Tod befreundet war. Seinen Hauptberuf nennt Willemsen von jeher das Schreiben. Zuletzt erschien das Buch «Es war einmal oder nicht», in dem Willemsen die Lage Afghanistans durch die Wahrnehmung der dortigen Kinder beschreibt.

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