«Jetzt schauen wir mal, wie weit das trägt»

Christopher Lauer, streitbarer Abgeordneter der Piraten in Berlin, erklärt seine Partei und sagt, warum gerade die Schweiz für eine Piratenidee besonders empfänglich sein sollte.

«Das ist es, was die Schweizer Piraten vor allem brauchen: Haltung», Christopher Lauer, Abgeordneter der Berliner Piratenpartei (Bild: Hans Christian Plambeck/laif)

Christopher Lauer, streitbarer Abgeordneter der Piraten in Berlin, erklärt seine Partei und sagt, warum gerade die Schweiz für eine Piratenidee besonders empfänglich sein sollte.

Ganz Deutschland zerbricht sich den Kopf über die Piratenpartei und lernt dabei junge Menschen wie Christopher Lauer kennen. Der ist seit 2011 im Berliner Abgeordnetenhaus, steckt hinter «Liquid Democracy», zieht durch sämtliche deutsche TV-Anstalten und verkauft sich, naja, ziemlich brillant.

Herr Lauer, Sie senden auf allen Kanälen. Wird Ihnen das nicht alles etwas viel im Moment?

Ich hab vor ein paar Monaten getwittert: Der einzige Weg, einem Medienhype aus dem Weg zu gehen, ist, einem Medienhype aus dem Weg zu gehen. Nein, mir persönlich wird das nicht zu viel. Es ist ja auch ein schöner Prozess: Die Erwartungshaltung an die Piraten wächst, und gleichzeitig wächst das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Piraten mit.

Die grosse Stärke der Piraten war immer ihre Offenheit. Nun drehen die politischen Gegner das gegen sie: Die Piraten seien beliebig, hätten von nichts eine Ahnung.

Da muss man differenzieren. Wir haben nie ein Geheimnis aus unseren Wissenslücken gemacht. Anstatt wie andere herumzuschwurbeln, geben wir einfach zu, dass wir gewisse Dinge nicht wissen. Das find ich okay. Das Problem aber ist die verlogene Haltung gegenüber der Politik. Wenn man sofort eine Antwort parat hat, heisst es: Naja, komisch, die wissen sofort zu allem was. Wenn man nichts sagt, heisst es: Naja, komisch, die wissen ja gar nichts. Wir reagieren so darauf, dass wir offen mit unseren Lücken um­gehen und versuchen, uns in die Themen einzuarbeiten.

Und alle schauen zu und machen sich zum Teil auch über Sie lustig. Die von der Piratenpartei propagierte Transparenz hat nicht nur Vorteile …

Ich war beim Thema Transparenz immer der Realo. Ich will nicht mit einer Helmkamera meinen Alltag dokumentieren. Aber wir brauchen Transparenz im staatlichen und politischen Handeln. Wir müssen wissen, wer an welchem Gesetz mitschreibt, welche Interessensvertreter mitreden.

Im Moment erfährt die Öffentlichkeit eher etwas über den Machtstreit an der Spitze der Piraten. Eine Auseinandersetzung mit Ihnen in einer zentralen Rolle.

Dann und wann tut es gut, die Politik erlebbar zu machen. So merken die Menschen und die Wähler, okay, die streiten sich in der Politik so wie wir uns in der Familie oder im Betrieb. Der Unterschied zu den anderen Parteien ist, dass wir das in der Öffentlichkeit austragen. Irgendwann werden sich die Leute daran gewöhnt haben. Irgendwann wird das kein Thema mehr sein.

Heute allerdings ist es noch eins. Es heisst, Sie möchten die Partei übernehmen.

Das ist die Sache mit demokratischen Parteien, die funktionieren mit Wahlen und so. Nicht mit Übernahmen … Ne ne, das ist Quatsch. Ich bin Mitglied im Abgeordnetenhaus in Berlin, werde das noch fünf Jahre sein und hoffe, dass wir danach wieder im Parlament Einsitz nehmen können. Mein ganz persönliches Ziel ist es, in der Öffentlichkeit ein einigermassen anständiges Bild abzugeben.

Und – wie gesagt – vielleicht eben doch eine interne Spitzenfunktion zu übernehmen?

Das ist mir eigentlich egal. Man muss die Piraten hier beim Wort nehmen: Wir wollen flache Hierarchien, flache Strukturen. Wenn wir an die Basisdemokratie glauben, müssen wir bei jedem Entscheid jedes Mitglied miteinbeziehen. Da kann jetzt nicht plötzlich jemand kommen und – lalala – nach irgendwelchen wichtigen Posten verlangen. Das wäre nicht glaubwürdig. Wir gehen bewusst andere Pfade und schauen jetzt mal, wie weit uns das trägt.

Ihre Antwort auf die Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit zu Beginn Ihrer Zeit im Berliner Abgeordnetenhaus ist auf Youtube ein Renner. Als Schweizer haben wir über die negativen Reaktionen der anderen Abgeordneten gestaunt – Sie haben mehr Gestaltungsfreiraum und Mitbestimmung für die Bürger gefordert. So aussergewöhnlich klingt das zumindest in unseren Ohren nicht.

Da haben Sies: Ich sage schon lange, wir bräuchten in Deutschland ein Mehrparteiensystem wie in der Schweiz; das scheint ja ganz ordentlich zu funktionieren. In Berlin haben wir dagegen die Regierungskoalition. Da nützt es auch nur bedingt, dass wir im Parlament neben den Linken, Grünen, der SPD und uns nur die CDU als einzige konservative Partei haben. Mehrheiten für das Wahlalter 16 oder das kommunale Wahlrecht für Ausländer gibt es so nur theoretisch – weil die grosse Koalition die Umsetzung verhindert. Das kann doch nicht im Interesse der Wähler sein!

Und was genau war nun Grund für das Gebuhe während Ihrer Rede?

Meine Rede war schon ein Affront, ich habe das System angegriffen. In Deutschland und speziell in Berlin ist die Politik stark von der Verwaltung getrieben. Die Gesetzesentwürfe werden in der Verwaltung geschrieben und von den Fraktionen nur noch abgenickt. Das ist eine verfahrene Situation. Es fehlt uns der Mut zum Experimentieren.

Verstehen sich die Piraten als revolutionäre Partei?

Nicht im klassischen Sinne, weil wir keine Gewalt anwenden. Unser grosser Vorteil ist, dass wir keine politische Geschichte haben. Man kann uns unsere Vergangenheit nicht vorwerfen. Darum können wir in den Parlamenten ziemlich unverkrampft sagen, was Sache ist. Das ist mindestens eine kleine Revolution.

Die in Deutschland – das ist unser Eindruck – aber nicht verstanden wird. Warum nicht?

Deutschland ist ein sehr sehr konservatives Land. Statt sich über den frischen Wind in der Bude zu freuen, werden die Neuen erstmals kritisch beäugt. Man weiss nicht, wie man mit uns umgehen soll. Die Mainstream­medien haben sich lange nicht mit den Piraten beschäftigt. Nach dem Hype während der Bundestagswahlen 2009 wurden wir nicht mehr weiter beachtet. Dann hatten wir bei den Berliner Wahlen 8,9 Prozent und alle waren total überrascht. Alle ausser wir: Wir hatten uns vier Jahre den Arsch aufgerissen, was natürlich zum Erfolg führt.

Die Piraten sind die neuen Grünen, und gerade die scheinen überhaupt keine Freude am Erfolg der Piraten zu haben.

Die sind jetzt seit 30 Jahren im Politbetrieb dabei, und die Piraten sind der Wink mit der Marmorsäule: Nur weil ihr ab und zu mit einer Jeans im Parlament auftaucht, seid ihr schon lange nicht mehr die Jungen.

Die Grünen sind im Establishment angekommen. Das könnte Ihnen gleich ergehen.

Natürlich! Davor muss man aber keine Angst haben, man muss es sich einfach bewusst machen. Rechnen Sie mal 30 Jahre in die Zukunft und gehen Sie davon aus, dass sich die Piraten längerfristig etablieren können. In 30 Jahren werden die heute Geborenen Probleme haben, von denen ich dann, mit 57 Jahren, keinen Schimmer mehr habe! Und es wird dann hoffentlich eine Bewegung oder eine Partei geben, die sich genau dieser Probleme annimmt. Es ist doch schön, dass das deutsche System immerhin noch so flexibel ist, dass es solche Bewegungen integrieren kann. In Nordafrika braucht es dazu Revolutionen, in Amerika hat man ein faktisches Ein-Parteien-System, und die Jungen müssen sich bei Occupy die Füsse in den Bauch stehen. Eine gewisse Dynamik erträgt also offenbar sogar unser Politbetrieb.

Reden wir über die Schweiz. Was können Sie den hiesigen Piraten raten? Wie kann der deutsche Erfolg wiederholt werden?

Ich habe nur ganz wenig Ahnung von der Schweiz …

… keine Ahnung zu haben, ist für Sie doch normalerweise kein Hindernis.

Da haben Sie nicht ganz unrecht. Wir sind in unserem Wahlkampf in Berlin hingestanden, haben den Leuten unser Programm präsentiert und gesagt: Wenn ihr das wollt, dann wählt uns. Wenn nicht, dann wählt jemand anders. Das ist es, was auch die Schweizer brauchen: Haltung. Ich denke auch, dass in einem Land wie der Schweiz unser Konzept von «Liquid Democracy» grosse Chancen hat.

Das haben wir doch schon: Macht die direkte Demokratie «Liquid Democracy» nicht überflüssig?

Denken Sie doch mal an diese Minarett-Geschichte zurück. So wie ich es im Kopf habe, standen die Menschen in der Wahlkabine und konnten ein Kreuzchen bei Ja oder Nein machen. Das Ergebnis war, dass in Gegenden mit den wenigstens Minaretten und wenigsten Ausländern wegen einer diffusen Angst am ehesten gegen die Minarette gestimmt wurde. Bei «Liquid Democracy» wäre die ganze Übungsanlage eine andere: Jemand würde ein Minarett-Verbot vorschlagen, ein zweiter ein Verbot von allen sakralen Bauten, ein dritter ein grundsätzliches Verbot von Gebäuden mit einer Höhe von über 30 Metern. Dann wird debattiert und entschieden. Im Unterschied zu Ihrer direkten Demokratie erhält man bei «Liquid Democracy» keine vorschnelle, vorgefasste Antwort. Da die Schweizer gewohnt sind, zu entscheiden, würden sie sich wohl auch eher auf ein solches Konzept einlassen.

Wie gross ist die Gefahr, dass Sie scheitern?

Das werde ich immer wieder gefragt. Natürlich gibt es diese Gefahr – aber wie soll ich sie ausdrücken? In Prozent? In Quadratmeter? In Saarland? Schauen Sie, die FDP hatte bei den letzten Bundestagswahlen 14 Prozent, heute stehen sie in den Umfragen bei drei Prozent. Das kann jeder Partei passieren. Wie gross die Gefahr bei uns ist? Ich kann es nicht sagen.

Nicht einmal in Saarland?

Nein. Wir sind in Berlin mit 8,9 Prozent ins Abgeordnetenhaus eingezogen, die aktuellen Umfragen sehen uns bei 14 Prozent. So schlecht können wir es also nicht gemacht haben.

Fürchten Sie sich bei diesen Umfragezahlen eigentlich auch ein bisschen vor der Verantwortung?

Die Verantwortung bleibt immer dieselbe. Als Berliner Abgeordneter vertritt man alle 3,5 Millionen Berlinerinnen und Berliner. Die interessante Frage zu den Umfragewerten ist, was wir tun, wenn wir tatsächlich eine Zehn-Prozent-Partei werden. Dann müssen wir uns überlegen, ob wir Koalitionen weiterhin ablehnen und uns so lange sperren, bis alle kapiert haben, dass wir ein Mehrparteiensystem wie in der Schweiz brauchen.

So abgeklärt wie Sie reden, tönen Sie manchmal schon fast wie ein gewöhnlicher Politiker. Stört Sie diese Feststellung?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, die letzten sechs Monate hätten mich nicht verändert. Ich bewege mich in anderen Kreisen, in einer Politblase. Rede mit Politikern, mit den Leuten in der Partei und auf der Strasse, und ich rede mit Journalisten. Und da kommen ja auch nicht immer die total neuen Fragen, da kann man sich darauf einstellen.

Kommen Sie, wir haben uns doch Mühe gegeben!

Wie konnte ich nur so etwas sagen! Das hier war natürlich eines der spektakulärsten Interviews, das ich je gegeben habe. Danke dafür!

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

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