Das neue Buch von Judith Hermann handelt von einer Frau mit gutem Berufs- und Familienleben. Trotzdem ist sie nicht glücklich. Wie kommt das? Ein Gespräch.
Judith Hermanns neues Buch «Aller Liebe Anfang» ist im vergangenen Sommer erschienen. Die Kritik daran war vernichtend und sich in verschiedenen Abstufungen darüber einig, dass Hermann eigentlich nicht schreiben kann. Wahrscheinlich liegt das immer noch am Nachhall ihres Durchbruchs im Jahr 1998 mit dem Erzählungsband «Sommerhaus, später». So, wie sie kürzlich heruntergeputzt wurde, wurde sie damals gekürt als neue Stimme, die dem jungen Leben im Berlin nach der Wende Ausdruck verleiht.
Wer so senkrecht gestartet ist wie die damals 28-Jährige, muss wohl noch 16 Jahre später etwas Aussergewöhnliches leisten, um mit einem neuen Buch zu beeindrucken. Und vor lauter Grübeln darüber, wie schlecht die Hermann schreibt, wurden die Themen des Buches aus den Augen verloren. Und die sind zahlreich: Wie geht man um mit einem Leben, das man sich zwar geschmackvoll eingerichtet hat, das aber auch bürgerlich geworden ist? Wie soll sich die Heldin Stella zu einem Mann verhalten, der sie stalkt, zugleich aber ein Symbol für ihre Sehnsüchte ist? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man im Leben etwas ändern muss?
Ein wenig ungewiss war es schon, ob Judith Hermann nach dem Shitstorm der letzten Monate überhaupt noch ein Gespräch über ihre Arbeit führen will, zu dem wir uns im Basler Literaturhaus treffen. Aber sie will. Sie ist weich geblieben, so wie ihre Stimme mit dem Berliner Dialekt, mit der sie auf die Fragen eingeht.
Frau Hermann, das Thema Stalking liegt nicht gerade auf der Hand. Welche Bedeutung hat es für Sie?
Im Buch fällt das Wort Stalking erst sehr spät. Ich wollte das Verhalten von Mister Pfister nicht zu früh diagnostizieren oder definieren; man könnte es auch etwas poetischer einen Liebeswahn nennen. Aber so oder so muss Stella einsehen, dass Mister Pfister jemand ist, dessen Neigung über sie hinweg und an ihr vorbei geht.
Warum braucht sie so lange, bis sie ihren Verfolger einen Stalker nennen kann?
Vielleicht wünscht sie sich ein wenig, dass Mister Pfister doch sie mit seiner Zuneigung meinen könnte? Er ist so etwas wie ein Symptom für die Lücke im System, für eine unbestimmte Sehnsucht, die Stella hat, eine Strömung, die unter dem scheinbar sicheren Haus mit dem gefügten Familienleben pulst.
Es geht also nicht vordergründig um Stalking.
Nein. Es geht um die Formen und Möglichkeiten von Liebe. Es gibt so viele verschiedene. Die Liebe zum Kind, die Liebe zur besten Freundin, die Liebe zum Mann. Die Liebe zu den alten Menschen, mit denen Stella arbeitet. Und dann geht es um die projektive und obsessive Neigung für einen Fremden. In der Zeit, in der ich das Buch schrieb, stand eine Postkarte auf meinem Schreibtisch mit dem Satz drauf: Aller Leiden Anfang ist Liebe. Ich fand den Satz wunderbar, rätselhaft und traurig. Es ist eine eigenartige Vorstellung, dass am Anfang des Leidens der schöne Impuls der Liebe gestanden haben soll.
«Aller Leiden Anfang ist Liebe.»
Was bedeutet das für die Liebe?
Dieser Satz ist wie ein Vexierbild, er kippt mal in die eine, mal in die andere Richtung, je nachdem vielleicht, ob ich gerade liebe, ohne zu leiden, oder ob ich leidend liebe. Und beim Schreiben des Buches trat der Titel aus dieser Postkarte geradezu heraus – Aller Liebe Anfang…
… ist Leiden?
Kann Leiden sein. Das Leiden ist die Unterströmung.
geboren 1970 in Westberlin. Nach einem abgebrochenen Studium der Germanistik und Philosophie studierte sie Klavier. Als sie dabei einen Vortrag hielt, animierte sie ein Dozent dazu, mit Worten zu arbeiten. 1998 erschien der Erzählungsband «Sommerhaus, später», für den sie schnell berühmt wurde. Es folgten «Nichts als Gespenster» (2003) und «Alice» (2009). «Aller Liebe Anfang» ist ihr erster Roman. Hermann hat einen Sohn und lebt in Berlin.
Eine andere Figur im Buch empfiehlt Stella für die Liebe und das Geliebtwerden eine Haltung zwischen Gleichgültigkeit und Anteilnahme. Gelassenheit nennt er das.
Gelassenheit ist sehr wichtig, genau. Ich hätte sie selber gerne, aber sie ist, scheint mir, sehr schwer zu erreichen.
Haben Sie das schon einmal geschafft?
Nein. Oder doch – manchmal schon? Vielleicht kann es schon genügen, sich nur vorzustellen, wie sich diese Gelassenheit anfühlen würde? Über die Möglichkeit nachzudenken, dass man auch auf diese Weise durchs Leben gehen, den grossen emotionalen Verwirrungen und Anforderungen ruhiger gegenübertreten könnte.
«Ich glaube nicht, dass man mit Kommunikation in Beziehungen viel erreichen kann.»
Haben Sie Techniken, wie man diese Mischung aus Distanz und Anteilnahme findet?
Nein, ich bedaure, ich habe keine Techniken. Sie?
Ich denke, man kann mit Kommunikation einiges erreichen.
Oh, daran glaube ich nicht so sehr. Der Schriftsteller Raymond Carver hat diesen sehr schönen Satz gesagt: In einem Moment fühlen wir dieses und im nächsten etwas völlig anderes. Das ist ein Lebensprinzip, man muss das akzeptieren. Und es macht Gespräche sehr schwierig. Wenn ich mir die Figuren meiner Bücher anschaue und die Art und Weise, wie die Leute miteinander reden oder eben nicht reden, dann sehe ich schon ziemlich deutlich, dass ich eigentlich nicht daran glaube, dass miteinander reden etwas nützt. Gewisse Dinge vermitteln sich nur in nonverbalen Momenten. Durch Gesten und vor allem durch Schweigen. Aber auf der anderen Seite? Schreibe ich, drücke ich die Dinge durch Sprache aus, glaube ich an die Sprache und rede ich sehr gerne. Es ist ein Paradox.
Handelt Ihr Buch von der Sprachlosigkeit?
Ja. Die Einzige, die nicht unter dem Bann der Sprachlosigkeit steht, ist das Kind Ava. Aber die Frage ist, ob man das belastend finden muss. Ob man mit der Sprachlosigkeit nicht auch einverstanden sein kann.
Jason, der Ehemann von Stella, ist Handwerker und meist abwesend. Er spricht auch sonst nicht viel.
Ja, und etliche Leute denken, das müsse ja eine schreckliche Beziehung sein. Ich finde das überhaupt nicht (lacht). Beziehung definiert sich nicht darüber, wie oft man in der Woche zusammen zu Abend isst und worüber man dann dabei redet. Beziehung ist auch die Vorstellung, die wir uns vom Anderen machen. Stella sagt, es ist schön, wenn Jason da ist, aber es ist auch schön, wenn er nicht da ist; und wenn er nicht da ist, kann sie doch trotzdem an ihn denken, auch das ist eine Form von Liebe.
Das Buch endet sehr offen, man könnte auch sagen, mit einer Leere. Ist das Absicht?
Ja. Ein Roman endet klassischerweise mit einem Fazit, aber ein Fazit habe ich eben nicht. «Aller Liebe Anfang» ist mein erster längerer Text, und das offene Ende ist sicher meiner Neigung zur Kurzgeschichte zuzuschreiben. Ich möchte nicht abschliessend etwas «meinen», ich kann nichts behaupten oder mich für eine finale Version entscheiden.
«Ich wollte vor Jahren einmal in die Schweiz gehen. Ich bin sehr gerne hier.»
Haben Sie eigentlich immer in Berlin gewohnt?
Ja. Ich wurde in Neukölln geboren und bin, als die Mauer offen war, nach Ostberlin gegangen. Jetzt wohne ich schon 22 Jahre im bescheuerten Prenzlauerberg (lacht).
Keine Lust mehr?
Nein, eigentlich überhaupt keine Lust mehr.
Den grossen Schritt habe Sie nie gemacht?
Nein, den grossen Schritt habe ich nie gemacht. Es heisst immer: Wo willst du von Berlin aus hingehen? Und etwas daran stimmt, es stimmt, dass ich in Deutschland nicht woanders leben könnte. Ich wollte vor Jahren einmal in die Schweiz gehen. Aber alle Schweizer Freunde haben sehr ernst gesagt, wenn ich in die Schweiz ziehen würde, würde ich alles, was ich an diesem Land so schön finde, innerhalb kürzester Zeit schrecklich finden. Ich würde mir die Schweiz selber wegnehmen.
Und was ist das?
Die schönen Städte. Die gefügten, scheinbar geordneten Verhältnisse. Die Redewendung «es nimmt mich wunder». Ich liebe diesen Ausdruck, und der Ausdruck «hast du kalt» ist auch sehr schön. Beide Worte haben etwas sehr Bildliches, ich habe mich, glaube ich, auch zur Sprache hingezogen gefühlt. Ich bin sehr gerne hier.
Zum Klang der Sprache oder zu den Ausdrücken?
Sowohl als auch! Zu dem damit verbundenen Gefühl, dass der Umgang miteinander hier etwas feiner und vorsichtiger sei, was natürlich gar nicht stimmt. Aber die Sprache ist langsamer, vorsichtiger, umständlicher, höflicher.
Fehlt Ihnen der Schritt, den Sie nicht gemacht haben?
Es gab einen Schritt, als ich nach Ostberlin gezogen bin. Ostberlin war eine fremde und neue, eine andere Stadt. Und trotzdem habe ich einfach räumlich nicht besonders viel Distanz zwischen mich und mein Elternhaus gelegt.
«Vielleicht wird es immer im Leben so sein, dass man auf eine Veränderung wartet.»
In Ihrem Buch ist das ein zentrales Thema: Stella muss ihr Leben nochmals ändern.
Als ich das Buch zu Ende geschrieben hatte, habe ich sehen können, dass Stella und ihre Freundin Clara die gleichen Figuren wie die aus «Sommerhaus, später» sind, sie sind Ruth und die Ich-Erzählerin aus «Nichts als Gespenster». Sie sind erwachsen geworden! Sie haben das erreicht, von dem sie früher dachten: Das wird man sicher einmal haben wollen, aber noch nicht jetzt, bloss noch nicht jetzt, später dann schon. Sie haben Mann und Kind, Haus und Beruf, aber es stellt sich kein Seelenfrieden ein. Sie warten immer noch, es geht tatsächlich immer noch ums Später. Und ich denke, vielleicht wird das immer so sein. Vielleicht gehören die Unterströmung und die unbestimmte Sehnsucht zum Leben dazu.
Im Wesentlichen ändert sich nichts?
Die grösste Zäsur, die ich erlebt habe, war die Geburt meines Kindes. Vorher konnte ich mir in vielen Situationen vorstellen, dass ich gar nicht ich bin, dass ich jemand ganz anderes bin. Ich konnte mich von oben sehen, aus der Vogelperspektive und wie in einem Film. Seitdem ich Mutter bin, ist das weg. Ich muss immer in einer bestimmten Bereitschaft sein, ich kann nicht einfach jemand anderes sein. Und das ist eine grosse Veränderung.
Stella hat am Schluss die Einsicht: «Veränderung ist kein Verrat.»
Ja, und der Satz geht noch weiter: «Und wenn doch, dann wird er nicht bestraft.» Vielleicht ist Veränderung doch ein Verrat? Aber einer, der folgenlos bleibt. Das hat auch etwas Trauriges, denn ein Verrat gehört ja doch bestraft. Wenn du was verrätst, musst du erschossen werden. Wenn du das, was du mal wolltest, einfach fallen lässt – bedeutet das nicht, dass du nicht wahrhaftig warst? Ich weiss es selber nicht. Deswegen bleibt dieser Satz wohl in der Schwebe. Ich tue mich schwer mit Veränderung. Wohnort, Beziehung, Rituale, Gegenstände. Woran liegt das eigentlich? Und dabei ist die Veränderung, wenn sie dann da ist, nie so schlimm, wie ich vorher gedacht habe.
Ich habe einen Lieblingssatz im Buch: «Es scheint, dass Jason einen Augenblick lang – es ist ein goldener Augenblick – einfach nicht mehr damit aufhören kann, Mister Pfister den Schädel einzuschlagen.» Es wirkt so, als hätten Sie Verständnis für seinen Gewaltrausch.
Auf jeden Fall. Das ist die Schlüsselszene, von dieser Szene aus habe ich das Buch geschrieben. Eigentlich wollte ich eine Erzählung schreiben, aber ich habe deutlich gespürt, dass ich mehr Raum brauche, damit diese Szene plausibel wird. Ich habe die Szene ursprünglich noch ausschweifender geschrieben, mir hat das sehr grosse Freude gemacht. Sie musste etwas Ekstatisches haben! Aber im Lekorat habe ich mich dann doch gezügelt.
Es ist ein Tabu.
Mir haben die Knie gezittert beim Schreiben, es war toll.
Haben Sie Lust auf mehr?
Nein. Ich glaube, ich kann das nicht wiederholen. Es war eben ein «goldener Augenblick».