«Könnt ihr etwas leiser klatschen, liebe Schweizer?»

Kaum aus der Schule, schon am Open Air St. Gallen – und dort nur zwei Slots vor Radiohead. Der immense Erfolg von AnnenMayKantereit hat etwas Unwirkliches. Die zutiefst bodenständige Emo-Folk-Band scheint alle erdenklichen Nerven getroffen zu haben. Wir haben mit den vier Kölnern vor ihrem Konzert im ausverkauften Basler Volkshaus gesprochen.

Sonnige Gemüter, auch wenn die Welt untergeht: AnnenMayKantereit.

Sie sind erst Anfang 20 und spielen am Open Air St. Gallen, nur zwei Slots vor Radiohead. Der immense Erfolg von AnnenMayKantereit hat etwas Unwirkliches. Die bodenständige Emo-Folk-Band spricht vor ihren ausverkauften Schweizer Konzerten über ihr Verhältnis zu Drogen, Liedermachern, Fans und politischen Botschaften.

Drei Nachnamen, vier Musiker. Christopher Annen (Gitarre), Henning May (Gesang, Klavier), Severin Kantereit (Schlagzeug), Malte Huck (Bass) kennen sich seit der Schulzeit – und so lange ist die gar noch nicht her. Als Teenager begann alles mit dem freizeitorientierten Wunsch, zusammen auf der Wiese Musik zu machen. Als sie erkannten, dass ihr Sound dort ziemlichen Anklang findet, wechselten sie vom Park auf die Schildergasse, die grosse Einkaufsstrasse von Köln. Dort verdienten sie als Strassenmusiker gutes Geld.

Heute ist ihnen diese durch die Medien aufgebauschte Heldenreise («Von der Strasse in die Hallen!») eher peinlich. Viel zu stilisiert, viel zu angeberisch erzählt. Denn das stellt schliesslich eine der Grundtugenden im System AnnenMayKantereit dar: Auf dem Boden bleiben, sich selbst trotz unzähliger ausverkaufter Tourneen nicht zu wichtig nehmen. Sehr streng wirken die vier dagegen, wenn sie die Musikerkollegen von Wanda aus Österreich im Interview für deren ausgestellten Alkoholkonsum tadeln.

AnnenMayKantereit sind eben keine Band aus fickerigen, unreflektierten Jungspunden, sondern wirken in ihrer Kollektivhaftigkeit wie eine alte Seele. Dabei ist ihr Debüt-Album «Alles nichts Konkretes» (die vergriffene selbstveröffentlichte CD aus dem Jahr 2013 nicht gezählt) gerade erst erschienen. Doch spätestens seit Sänger Henning May seine markant raue Stimme dem Nummer-Eins-Hit «Hurra, die Welt geht unter» der Rapper K.I.Z. geliehen hat, also seit Mitte letzten Jahres, scheinen diese Folkrock-Wunderkinder ohnehin von Nichts und Niemandem mehr aufzuhalten zu sein. 

Ist diese Nahbarkeit, die so auffällig für AnnenMayKantereit steht, nicht anstrengend? In der Kunst besteht doch auch die Möglichkeit, Rollen anzunehmen oder mit dem eigenen Image zu spielen.

Malte Huck: Wir geniessen es, dass wir keinen Schalter umlegen müssen, wenn wir auf die Bühne gehen. Nichts gegen eine Band wie Bilderbuch, bei denen macht eine ausgedachte Bandpersönlichkeit total Sinn – aber für uns wäre das nichts.

Severin Kantereit: Die Gefahr besteht natürlich, dass man zuviel von sich preisgibt. Wenn ich mir unseren Instagram-Account angucke, fällt mir das immer wieder auf. Da ist nichts eine Pose, alles so passiert. Wir können nicht aus unserer Haut. Im Positiven wie Negativen ist dadurch auch klar, dass die Leute wirklich was von einem selbst kennen – und eben nicht nur ein künstliches Abbild betrachten.

Droht so nicht eine starke Vereinnahmung seitens des Publikums?

Severin Kantereit: Jeder kann in unsere Stücke reininterpretieren, was er möchte. Aber es gibt zu jedem Song einen persönlichen Bezug, den ich mit den Jungs teile und zu dem andere keinen Zugang haben.

«Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn politische Botschaften plump rübergebracht werden. ‹Nazis raus› als Refrain, das wäre mir zu blöd.»
Henning May 

Im Stück «Oft gefragt» geht es um den Vater, und es heisst: «Hab keine Heimat, hab nur Dich». Also eine Absage an die Identifikation über sowas wie Nation. Fühlen Sie sich zu klassischen linken Liedermachern hingezogen – also zum Beispiel Degenhardt, Hannes Wader, Mani Matter, Konstantin Wecker?

Henning May: Also für mich spielt das schon eine Rolle, wobei man natürlich nicht von einem auf alle schliessen kann. Wir hören alle sehr unterschiedliche Musik,  dem jeweiligen Instrument zugeordnet: Christopher steht auf Blues, Severin auf elektronische Acts, auf Neue Musik und Malte mag gern richtige Bandsachen. Ich bleibe vor allem an Texten kleben. Aber wenn man den Fokus auf Texte legt, kann man viele aktuelle Bands einfach nicht hören – da kommt man also schnell auf die genannten Liedermacher. Wobei Konstantin Wecker weniger, aber Hannes Wader, den halte ich für einen verdammt geilen Typen. Wenn man sich den Text von «Heute hier, morgen dort» genauer anschaut, ist das ein Lied, das enorm gut auf unsere momentane Lebenssituation passt. «Mich kaum vermisst / schon nach Tagen vergisst / wenn ich längst wieder anderswo bin» – das berührt mich immer wieder beim Hören.

Der Liedermacher steht auch für das «politische» Lied. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Henning May: Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn politische Botschaften plump rübergebracht werden. «Nazis raus» als Refrain, das wäre mir zu blöd, so eine Aussage sollte man nicht immer betonen müssen. Mir erscheint es eher interessant, sowas wie den Nationalitätengedanken zu verhandeln, den empfinde ich nämlich als absurd. Ich besitze zwar kein Vaterland, aber einen Vater – wenn man so will, ist der irgendwie meine Heimat. Das ist natürlich auch politisch zu verstehen, solche Nuancen finden sich immer mal wieder bei uns. Allerdings haben wir alle die Erfahrung gemacht, dass man Menschen nicht überzeugt, in dem man sich ihnen aufdrängt. Wir sprechen untereinander viel über politische Dinge, aber begreifen uns nicht als politische Band, wir wollen keine Generation in eine bestimmte Richtung drücken, wenn das überhaupt ginge. Uns geht es um Emotionen – und darin fühle ich mich bestärkt, wenn ich andere Bands höre, die diese Trennung nicht besitzen. Von deren politischen Äusserungen werde ich meist schon durch die Art der Wortwahl abgeschreckt.


«Ich nehme keine Drogen», ist eine Zeile in «Oft gefragt», die der Text dann aber als Lüge entlarvt. Wie stehen Sie zum Recht auf Rausch?

Henning May: Der Mensch besitzt ein gewisses Recht auf Rausch – das ist allerdings nur meine Meinung. Ich bin aber niemand, der sich zum Beispiel dafür ausspricht, dass Marihuana überall frei verkauft werden kann. Dieses Argument, Drogen verlören ihren Reiz, wenn sie frei zugänglich wären, das sehe ich anders. Alkohol wird dadurch ja auch nicht weniger attraktiv. Insgesamt ist das eine Diskussion, die wir aber lieber unter uns führen als über die Band oder in der Musik.

Christopher Annen: Wir sind mittlerweile an einem Punkt, wo uns sehr viele Leute zuhören und der eine oder andere sich auch was abguckt. Ich finde es echt daneben, sowas zu bringen wie der österreichische Rapper Moneyboy, also sich vor einem Interview total dicht machen, um dann sowas zu sagen wie «Heroin ist schon ganz geil».

«Es gibt Bands wie zum Beispiel Wanda, die sich eben über Alkoholkonsum profilieren – das finde ich nicht korrekt.»
Henning May 

Henning May: Man kann ruhig mal ein Bier trinken, aber ich finde es nicht gut, sich über sowas profilieren zu wollen. Wir rauchen mitunter mal eine Zigarette, aber das würden wir nie auf der Bühne tun! Da schwingt doch dann mit: «Ich bin cool, und hey, ich rauche auch noch.» Schade, dass man bloss im HipHop dissen darf, aber es gibt Bands wie zum Beispiel Wanda, die sich eben über Alkoholkonsum profilieren – das finde ich nicht korrekt.

Wie sind Sie auf die Coverversion vom Zarah-Leander-Stück «Nur nicht aus Liebe weinen» gekommen?

Christopher Annen: Das ist in Köln ein bekanntes Karnevalslied. Wir hatten selbst Bock auf einen karnevalsmässigen Song und uns dann für den entschieden.

Henning May: Es sollte auf jeden Fall nichts mit einem kölschen Bezug sein und ein Stück sein, das man auch unabhängig von der Saison hören kann. Ich finde vor allem den Text genial, auch wenn ich wirklich kein Zarah-Leander-Fan bin – das war eine ganz schreckliche Frau, allerdings mit einer tollen Stimme.

Sie ist zwar gebürtige Schwedin aber vor allem bekannt für ihre Durchhalte-Songs während der Nazizeit in Deutschland.

Henning May: Ich wollte eigentlich nicht drauf zu sprechen kommen, aber ich hätte sie fast als Nazi-Flittchen bezeichnet – doch das ist ja etwas, damit muss man vorsichtig sein. (Gelächter)

Severin Kantereit: Zum Glück hast du es nicht gesagt!

Bald spielen Sie in der Schweiz, in Zürich und Basel. Auch diese Konzerte sind längst ausverkauft, Sie waren ja auch schon einige Male in der Schweiz. Woran denken Sie, wenn der Tourplan Sie hierher führt?

Henning May: Sie meinen abseits des guten Essens? Also ich finde, die Schweizer sollten mal auf die Strasse protestieren gehen, dass in ihren Clubs nicht mehr die Maximalvorgabe von 100 Dezibel gilt. Wir haben das bei einem Konzert erlebt, als wir das Publikum bitten mussten, zwischen den Nummern nicht zu klatschen. Denn die erlaubte Lautstärke errechnet sich aus einem Mittelwert, das heisst, es wurde immer wieder gemessen, und wenn nicht geklatscht wird, hast du einen kurzen Moment Stille, der den Durchschnitt wieder senkt. Und dann kann man in den Liedern wieder etwas lauter sein. So kam es zur auch für uns absurden Bitte ans Schweizer Publikum: «Könnt ihr bitte etwas leiser klatschen?» Das könnte sich doch echt mal ändern!

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AnnenMayKantereit im Volkshaus Basel: Samstag, 16. April 2016, 20 Uhr. Das Konzert ist ausverkauft. 

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