«Kriegsfotografen müssen ihr Hirn einschalten, bevor sie abdrücken»

Die Ausstellung «bildgewaltig» im BelleVue Basel zeigt Porträts von Frauen, die Gewalt erfahren haben – ohne die Gewalt explizit darzustellen. Das muss auch nicht sein, sagt Mitorganisator Reto Camenisch. Er will einen Gegenpol zur «Idiotie der heutigen Bildsprache» setzen.

Das Hauptschlachtfeld des Krieges ist der Körper der Frau.

(Bild: Reto Albertalli/phovea)

Die Ausstellung «bildgewaltig» im BelleVue Basel zeigt Porträts von Frauen, die Gewalt erfahren haben – ohne die Gewalt explizit darzustellen. Das muss auch nicht sein, sagt Mitorganisator Reto Camenisch. Er will einen Gegenpol zur «Idiotie der heutigen Bildsprache» setzen.

Reto Camenisch, zur Vorbereitung auf dieses Interview habe ich mir Kriegsbilder angeschaut. Eines zeigt kleine Kinder in einer Reihe am Boden: Sie sehen aus, als würden sie schlafen, doch sie sind tot. Opfer eines Chemiewaffenangriffs in Syrien. Das hat mich fast umgehauen.

Das ist das, was ich immer sage: Bilder wirken viel stärker auf uns, als wir erwarten oder glauben. Doch weil wir ständig überall Bilder sehen, ist unser Hirn überreizt, wir haben aber das Gefühl, das sei ein Normalzustand. Erst wenn wir zur Ruhe kommen, merken wir, wie müde wir sind.

Was können Bilder mit uns machen?

Mit Bildern kann man Leute auch in die Irre führen oder sie kaputt machen. Und das ist kein esoterisches Gerede, das ist Realität.

Wie machen Bilder uns kaputt?

Sie stumpfen uns ab, darüber will man offensichtlich nicht reden, keine Zeitungsredaktion, niemand. Alle sagen: «Wir müssen diese Fotos zeigen, wir müssen informieren», aber fast niemand kann schlüssig erklären, warum. Die Redaktionen zeigen seit vielen Jahren immer wieder genau die gleichen Bilder.

Zur Person:
Reto Camenisch (59) hat jahrelang als Fotograf für Tageszeitungen und Magazine (NZZ, Das Magazin, Du, Facts, Annabelle, Bolero, Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin, Stern usw.) gearbeitet und diverse Monografien herausgegeben. Er unterrichtet angehende Fotografinnen und Fotografen an der Journalistenschule MAZ in Luzern und hat die Ausstellung «bildgewaltig» organisiert, die ins BelleVue nach Basel kommt.

Eltern, die in Kriegsgebieten ihre toten Kinder halten

Ja oder ausgemergelte Kinder mit dicken Bäuchen, um Hungersnöte zu zeigen. Wenn man Dinge immer wieder gleich macht, kann man doch nicht erwarten, dass sich andere Resultate einstellen! Oder?

Das Resultat ist, dass die Menschen hinschauen, weil sie betroffen sind von der Realität in Kriegsgebieten.

Das ist das, was die Redaktionen behaupten. Die Bilderindustrie zeigt diese Bilder jedoch vor allem, weil sie glaubt, so am meisten Aufmerksamkeit und letztendlich Geld zu kriegen. Die am schnellsten publizierte Nachricht gilt als das Mass aller Dinge. Selten denkt jemand darüber nach, ob der Einsatz solcher Bilder richtig ist und ob sie tatsächlich von journalistischer Relevanz sind.




«Mit Bildern von toten Kindern stumpft man Menschen nur ab.

»

Bei mir haben diese Bilder durchaus eine Wirkung, sie machen mich todtraurig.

Und dann, was machen Sie mit Ihrer Trauer?

Ich hinterfrage mich: Versuche ich genug, die Welt ein klitzekleines bisschen besser zu machen?

Wenn die Betroffenheit zu politischem oder humanistischem Handeln führt, ja klar, dann heiligt der Zweck vielleicht die Mittel. Aber 90 Prozent der Leute fühlen nur diese seltsame Form von «amerikanischer Betroffenheit» im Sinne von: «So sad.» Punkt. «Kann ich noch ein Bier haben?» Mit diesen Bildern stumpft man Menschen nur ab. Wir gewöhnen uns so an den Gedanken, dass die Welt schrecklich ist.

Nicht immer. Nehmen Sie das Bild des dreijährigen Syrers Aylan, der tot am Strand liegt, ertrunken auf der Flucht. Das Bild war umstritten, doch es hatte Wirkung: Mehrere Regierungen kündigten an, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, und es bildeten sich Bürgerinitiativen.

Ich bin nicht total gegen diese Art von Bildern, wage aber zu behaupten, dass sie kaum nachhaltig zu bewegen vermögen. Ich sage einfach: Passt auf, Bilder können abstumpfen, gar Menschen fehlleiten.

Fehlleiten?

Ja, beispielsweise, wenn man über Prostitution berichtet …

… und dann sind die Bilder der Prostituierten so erotisch, dass die Bildbetrachter erregt werden, statt sich über das Leben der Frauen Gedanken zu machen.

Es gibt Arbeiten über Kinderprostitution in Südostasien, die einfach voyeuristisch sind. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, wenn ein junger Mann sich von den Mädchen irgendwie angezogen fühlt. Auf den ersten Blick ist man vielleicht einfach überwältigt von der grenzenlosen sexuellen Verfügbarkeit. 

Sarah ist aus Afrika nach Italien gereist. Bezahlt hat sie die Reise, wie viele Migrantinnen, mittels Prostitution. (Bild: Jean Revillard)

Dann muss man halt das Hirn einschalten.

Genau, dann muss dieser Mechanismus kommen: «Ist ja schon in Ordnung, dass ich das zeigen will. Aber ist es auch in Ordnung, dass ich es auch mache? Geht es denn hier nur um mich? Würde diese Frau das machen, wenn sie anders Geld verdienen könnte, um ihre Familie durchzubringen?» Keine 40 Kilo leichte Frau geht freiwillig mit einem 90 Kilo schweren 70-Jährigen ins Nest, das ist Zwang. Das muss man den Bildern ansehen, man muss das Material sorgfältig editieren. Es geht in solchen Fällen nicht um fotografische Eitelkeit, sondern um einen konstruktiven Beitrag zur Veränderung.

«Ich bin bei Bildbesprechungen ein nerviger Nachfrager.»

Interessiert das die Fotografen überhaupt? Die «Zeit» sprach für den Artikel «Diese Bilder lügen» mit mehreren Fotografen. Fazit: Diese Leute sind nicht politisch, sie denken nur an den eigenen Lebensunterhalt, jagen mit dem Flugzeug schnell nach Syrien und Griechenland, machen ein Bild und gut ist.

Ich befürchte manchmal ein bisschen, dass das vielfach die Beweggründe sind. Um diesen Formen etwas entgegenzuhalten, bin ich unter anderem an der Journalistenschule MAZ Studienleiter für Fotografie. Ich betreibe hier eine Art konstruktive Subversion und sensibilisiere junge Fotografinnen und Fotografen für genau diese Themen. Ich bin bei Bildbesprechungen ein nerviger Nachfrager.

Wie tönt das?

Ich frage den Fotografen: «Was wolltest du genau mit dem Bild dieser Frau aus der Ukraine?» Antwort: «Einfach spüren, wie traurig sie ist.» Ich: «Was, wie traurig?» Er: «Ja, es war so ein toller Moment, ich musste einfach abdrücken.» Nachfrage: «Warum genau?» Ich frage nach, bumm, bumm, bis eine mehr oder weniger differenzierte Antwort kommt. Und dann frage ich weiter: «Wie lange warst du da? Zwei Tage, nur zwei Tage in der Ukraine? Du kommst zurück, und willst uns glauben lassen, das reicht, um Anteil nehmen zu können, in die Tiefe gehen zu können … in 48 Stunden? Und in diesen 48 Stunden bist du auch noch geflogen? Hin und zurück? Ist es wirklich möglich, innerhalb so kurzer Zeit und ohne echte Anteilnahme gute Fotografie zu machen?»

Und? Ist das möglich?

Da wird durchs Zeug gerannt, wild fotografiert, täck, und Bildmaterial gesammelt. Das hat nichts mit meiner Vorstellung von «guter Fotografie» zu tun, das ist dokumentieren, im besten Fall. Aber dafür braucht es keinen Profi, da wäre es noch ehrlicher, mit einem Stirnband mit einer GoPro-Kamera rumzulaufen, dann muss man nicht einmal mehr Anteilnahme heucheln.




Porträt aus der Arbeit «Nobody’s Women – Breaking the Silence: Sexual Abuse in India». (Bild: Daniel Auf der Mauer)

Aber es gibt auch andere Fotografen.

Ja, die gibt es. Ich bin einfach dankbar, wenn junge Fotografinnen und Fotografen kommen, die anders arbeiten. Die still, fein und zurückhaltend fotografieren und ihre Arbeit machen, ohne zu beschönigen, ohne wegzuschauen, aber eben differenziert und ohne Rumgeschreie. So wie die Fotografen der Ausstellung «bildgewaltig», die ab 12. März in Basel gezeigt wird. Sie haben die porträtierten Frauen wochenlang, gar monatelang begleitet und mit ihnen geredet.

«Ich bin überzeugt, dass leise Bilder nachhaltiger wirken.»

Diese Bilder sind sehr zurückhaltend. Ein Foto von Michael Hauri zeigt ein junges Mädchen, es blickt auf den Boden, die Haare sind etwas zerzaust, obwohl aus der Brusttasche ihres Kittels ein Kamm herausragt.

Dieses Mädchen kommt aus Vietnam, doch es wurde entführt, nach China verschleppt und verkauft. In China hat es weniger Frauen als Männer, deshalb herrscht ein Handel mit Frauen, die dann zwangsverheiratet werden.



Als Thao* 14 Jahre alt war, wurde sie entführt, nach China verschleppt und an einen Bauern verkauft, der sie zu Farmarbeit zwang.

Mit 14 Jahren von Vietnam nach China verschleppt und verkauft. (Bild: Michael Hauri / Globetrotter Wor)

Der Leidensweg des Mädchens ist aber nicht sichtbar.

Nein, ein kurzer Blick reicht hier nicht, um das Leid zu sehen. Aber wenn man länger hinschaut, dann sieht man plötzlich: «Holy moly, da stimmt was nicht.» 

Wirken denn solche Bilder wirklich? Sind sie nicht so leise, dass man sofort wieder wegschaut?

Ich bin überzeugt, dass leise Bilder nachhaltiger wirken. Schauen sie, es ist wie bei der Liebe: Am Anfang schlägt sie ein wie ein Feuerwerk, sie ist laut und wild. Doch nach fünf oder zehn Jahren wird alles etwas leiser, aber auch tiefer, differenzierter. Ist ein gutes Bild tatsächlich dasjenige, das sofort wirkt? Oder ist es dasjenige, das einen zweiten und dritten Blick, das gedankliche Arbeit vom Betrachter einfordert?

«Ich glaube, es gibt Menschen, die hinschauen wollen.»

In der Ausstellung geht es um Gewalt an Frauen. Aber alle beteiligten Fotografen sind Männer. Das hat Tradition, dass Männer schauen und Frauen angeschaut werden. Ist das nicht etwas zynisch?

Ja, das habe ich mir schon überlegt. Aber ich hatte per Zufall diese jungen Fotografen, die sich alle mit Gewalt an Frauen beschäftigen und das mit einer differenzierten Bildsprache – auf eine zurückhaltende, feinfühlige Art. Hätte ich extra noch eine Fotografin suchen sollen, nur um dieser Kritik entgegnen zu können? Ausserdem plane ich eine Folgeausstellung mit Bildjournalistinnen.

Kommen denn die fotografierten Frauen in der Ausstellung zu Wort?

Ja, denn es handelt sich bei allen ausgestellten Projekten um multimediale Beiträge. Und wenn du dir diese Geschichten anschaust und anhörst, dann kannst du gar nicht anders, als irrsinnig traurig zu werden.

Ich frage nochmals: Sind die Leute parat für solche leisen Fotos? Befürchten Sie nicht, dass sie in der Bilderflut untergehen?

Doch, das kann natürlich passieren. Aber ich glaube, es gibt Menschen, die hinschauen wollen. Und wenn man erst einmal hinschaut, wirken die leisen Bilder viel nachhaltiger als die gängige Ästhetik des Schrecklichen.  

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«bildgewaltig – Frauenporträts» aus Afghanistan, Indien, Vietnam, Namibia und Italien.
12. März bis 9. April, BelleVue, Ort für Fotografie, Breisacherstrasse 50, Basel. Vernissage: 11. März, 17 Uhr; Podiumsgespräch: 1. April, 14.30 Uhr, «Realität und Abbild: Welche Bilder brauchen wir?»

Samstag, 29. April, ab 16 Uhr, fünfjähriges Jubiläum im BelleVue mit Bild-Auktion und Fest!

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