«Kultur ist kein Luxus»

Der Bariton Matthias Goerne tritt heute Abend mit dem Sinfonieorchester Basel im Stadtcasino auf. Wir sprachen mit ihm über die Emotionalität in Gustav Mahlers «Kindertotenliedern», über Education-Projekte sowie über das Glück, die eigene Passion zum Beruf machen zu können.

Bariton Matthias Goerne bei der Probe, Stadtkasino in Basel am 29.10.2013 (Bild: Alexander Preobrajenski)

Der Bariton Matthias Goerne tritt gemeinsam mit dem Sinfonieorchester Basel im Musiksaal des Stadtcasinos auf. Wir sprachen mit ihm über die Emotionalität in Gustav Mahlers «Kindertotenliedern», über Education-Projekte sowie über das Glück, die eigene Passion zum Beruf machen zu können.

Herr Goerne, Sie haben gerade Gustav Mahlers Kindertotenlieder mit dem Sinfonieorchester Basel geprobt. Ist dies ein besonders herausforderndes Werk?

Ja, in jeder Beziehung. Schon allein das Sujet. Sich mit dem Tod von Kindern zu befassen – egal ob man selbst Kinder hat oder nicht – ist ein Tabu.

Was macht das Singen dieser Lieder so schwierig?

Die Emotionalität. Man muss sehr aufpassen, dass man sich nicht darin verliert.

Haben Sie bestimmte Strategien, um mit dieser Emotionalität umzugehen?

Ich muss mir klar machen, dass ich mir diese Emotionen nur vorstellen kann – zum Glück, meine beiden Kinder (13, 24) sind gesund! Aber selbst in diesem Versuch, sich das Schrecklichste vorzustellen, gibt es einen Punkt, über den man nicht hinausgehen darf. Dieses Kunstwerk ist nicht aus dem Moment heraus entstanden, sondern ist etwas streng Gesetztes mit einem ganz bestimmten Rahmen. Den muss ich emotional und musikalisch voll ausschöpfen – aber ich darf ihn nicht überschreiten, sonst entferne ich mich wieder vom Stück.

Friedrich Rückert schrieb über 400 Gedichte über den Tod zwei seiner Kinder, und auch Gustav Mahler verlor eine Tochter; allerdings erst einige Jahre nach der Komposition der Kindertotenlieder.  Die Kindersterblichkeit war damals bedeutend höher als heute…

…es kommt doch nicht auf die Quantität an! Wenn ein einziges Kind stirbt, ist das doch genauso schlimm. Ausserdem gibt es noch heute viele Regionen in der Welt, in denen die Kindersterblichkeit noch viel höher ist als zu Rückerts Zeiten – denken Sie nur an Afrika! Nein, es geht hier um den unfassbaren Verlust und die unerträglichen Schmerzen, die das mit sich bringt.

Sind die Lieder auch technisch schwer?

Ja. Es gibt kein leichtes Mahler-Lied. Sein Stil, jede Linie mit einem Rubato zu versehen, die Stabilität, die sich erst durch die Konstanz der Instabilität zeigt, dieses hin und her, das alle im Orchester mit sich nimmt, das braucht sehr viel Kraft.

Ein Ausschnitt aus den «Kindertotenliedern», gesungen von Matthias Goerne in London (2009):

Sie arbeiten zum ersten Mal mit dem Sinfonieorchester Basel zusammen. Wie ist Ihr Eindruck nach der Probe?

Es ist ein hervorragendes Orchester.

Was muss ein Orchester für Mahlers Kindertotenlieder können?

Kammermusikalisch denken, unabhängig spielen. Jeder muss seinen Notentext – nein: das ganze Stück – so gut kennen, dass man schnell aufeinander reagieren kann. Wenn man gut zuhört, dann ist das auch schön, aber dann ist man immer ein bisschen zu spät. Eigentlich muss das Orchester Gedanken lesen können.

Und der Dirigent?

Von ihm hängt natürlich sehr viel ab. Aber ich habe bei Dennis Russell Davies gemerkt, dass er eine immense Erfahrung er hat. Er kann auf eine sehr künstlerische und gleichzeitig ökonomische Art proben.

Das Konzertprogramm des heutigen Abends steht unter dem Motto «Skandal 1913». Das bezieht sich in erster Linie auf Igor Strawinskys «Le sacre du printemps», das 1913 uraufgeführt wurde. Sind die Kindertotenlieder auch ein Skandalstück gewesen?

Nein, sie sind nicht skandalös, aber erschütternd. Ich habe noch nie erlebt, dass das Publikum nach diesem Stück «Bravo» ruft, und sei es noch so gut gewesen. Es gibt einen Punkt in diesem Zyklus, im zweiten Lied – das an Schönheit nicht zu überbieten ist! – wenn die Kinder im Fieberwahn zum Vater sprechen «Sieh‘ uns nur an, denn bald sind wir dir ferne!», da merkt man ganz häufig beim Publikum, wer das gerade versteht. Es gibt doch mehr Leute als man glaubt, die vom Verlust eines Kindes betroffen sind. Da entsteht dann eine ganz grosse Distanz zum Stück, weil das kaum mehr zu ertragen ist.

Begrüssen Sie es, wenn Konzerte solch ein Motto haben? Spricht man damit vielleicht auch grössere Publikumskreise an?

Wenn es dazu beiträgt, dass mehr Leute den Weg ins Konzert finden, dann ist so ein Motto gut. Das Wichtigste ist für mich, dass Leute ins Konzert kommen, und davon möglichst viele.

Den viel beschworenen Publikumsschwund, spüren Sie den?

Ja und nein. Als ich anfing zu singen, wurde darüber schon geklagt. Aber wenn man dann bekannter wird und ein grösseres Publikum bekommt, dann merkt man es nicht. Die grösste Veränderung in den letzten hundert Jahren ist jedoch das Ansehen der Musik. In unserer spezialisierten Welt kann heute jemand in einem bestimmten Bereich sehr erfolgreich sein, ohne aber etwa einen Satz von Mozart zu kennen.

Könnten neue Konzertformen eine Möglichkeit sein, neues Publikum zu generieren?

Ja, aber man sollte dem Publikum nicht zu sehr hinterher rennen. Ein Konzertveranstalter kann nicht ein Bildungsdefizit wettmachen! Die Problematik ist eine andere: Kultur ist ein Bildungsauftrag einer jeden Regierung. Kultur ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für die Gesellschaft. Sie würden sich wundern, was aus einer Gesellschaft wird, in der es keine Kultur gibt – sie würde verrohen!

Sie leben in Deutschland. Unternimmt die deutsche Regierung genug in Sachen Kultur?

Gemessen an den vielen Ländern, wo gar nichts läuft, findet Kultur hier immer noch auf einem relativ hohen Niveau statt. Doch es wird nur 1% des Bruttosozialprodukts dafür ausgegeben – und bei der ersten Gelegenheit wird an der Kultur gespart. Dabei müsste man die Bezüge für die Kultur erhöhen!

Engagieren Sie sich in Education-Projekten?

Ich würde, wenn man mich fragte. Aber es müssen nachhaltige Konzepte sein. Eine Studie besagt, dass beim berühmten Projekt «Rhythm Is It!» der Berliner Philharmoniker keiner der damals Tanzenden jemals wieder Kontakt mit Kultur, Tanz, Theater oder Musik hatte! Man sieht zwar den Enthusiasmus und die Freude dieser Kinder – aber das zeigt nur, dass das Potential von Kindern generell sehr gross ist, dass man sie in jede Richtung formen kann. Aber wenn man nichts unternimmt, werden die Kinder in die andere Richtung geformt, in das Berieseln lassen, das völlige Verblöden vor dem Fernseher, diese schreckliche Art der Berieselung! Aber das ist eine Exploration unserer Zeit…

…wie auch die wichtige Frage nach der sogenannten Work-Life-Balance. Wie halten Sie es damit?

Ich kann das für mich nicht trennen. Ich habe nie das Gefühl, arbeiten zu gehen, sondern tu einfach das, was ich tun muss und habe dabei noch ein schönes Leben (lacht). Ich weiss, dass ich damit zu einer sehr glücklichen Minderheit der Menschheit gehöre.

  • Skandal 1913:
    Alban Berg, Drei Orchesterstücke, op. 6
    Gustav Mahler, Kindertotenlieder
    Igor Strawinsky, Le sacre du printemps
  • Leitung: Dennis Russell Davies, Gesang: Matthias Goerne
  • 30. Oktober 2013, 19.30 Uhr, Musiksaal, Stadtcasino Basel. Es gibt noch Restkarten

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