«List ist eine grosse Tugend im Denken chinesischer Unternehmer»

Mit der Übernahme von Syngenta durch ChemChina ist die chinesische Wirtschaftsmacht in Basel plötzlich sichtbar auf den Plan getreten. Filmemacher Jürg Neuenschwander hat sich in «The Chinese Recipe» auf die Spuren des chinesischen Unternehmergeistes gemacht.

High-Tech für die Landwirtschaft. Hier werden Maschinen zur Herstellung von Tierfutter produziert.

(Bild: zVg)

Mit der Übernahme von Syngenta durch ChemChina ist die chinesische Wirtschaftsmacht in Basel plötzlich sichtbar auf den Plan getreten. Filmemacher Jürg Neuenschwander hat sich in «The Chinese Recipe» auf die Spuren des chinesischen Unternehmergeistes gemacht.

Der Basler Agrochemie-Konzern Syngenta wird chinesisch. Die Übernahme hat für grosse Aufregung gesorgt und viele Ängste geweckt. Wie verändert sich ein börsenkotiertes, schweizerisches Unternehmen wenn es von einem chinesischen Staatskonzern aufgekauft wird?

Der Schweizer Filmemacher Jürg Neuenschwander hat selbst sechs Jahre in Shanghai gelebt und unterrichtet dort an einer Hochschule. In seinem Dokumentarfilm «The Chinese Recipe» hat er drei chinesische Unternehmer begleitet und dabei der chinesischen Wirtschaft im Kleinen auf den Zahn gefühlt. Wir haben uns mit ihm über den chinesischen Unternehmergeist unterhalten.

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Herr Neuenschwander, in Ihrem Film sprechen Sie davon, dass chinesische Unternehmer im Grunde zwei Methoden anwenden: Kopieren und Kreieren. Müsste man nach dem Syngenta-Deal nicht noch ein drittes K hinzufügen, das Kaufen?

Auf jeden Fall. Dass dies so offensiv geschieht, wie bei ChemChina und Syngenta ist allerdings eine eher neue Entwicklung. Es gab eine Phase, in der die Losung «technology for market» hiess. Damals erhielten westliche Unternehmen Zutritt zum chinesischen Markt, wenn sie im Gegenzug einen Technologietransfer ermöglichten. Verändert hat sich dies jetzt insofern, als dass die Chinesen nicht mehr einfach in China sitzen und warten, bis sich ein europäisches Unternehmen für sie interessiert, sondern dass sie aktiv nach aussen treten und im Ausland zukaufen. Das liegt auch daran, dass die chinesische Wirtschaft stark gewachsen ist und damit das nötige Kapital vorhanden ist.

Was ist aus chinesischer Sicht wichtiger, der Zugang zum europäischen Markt oder der Technologietransfer?

Die sogenannte Politik der Öffnung bedeutet zweierlei: China will aktiv auf dem Weltmarkt auftreten und vom reinen Produktions- zum Innovationsland werden. Und dafür sind Marktzutritt und Technologietransfer sehr wichtig. Volvo ist ein gutes Beispiel. Der schwedische Autoproduzent wurde 2010 nach China verkauft. Für die chinesische Autoindustrie ist das sehr wichtig, denn es ist ihr bis heute nicht gelungen, ein Auto zu bauen, das den Ansprüchen im Ausland genügt und exportiert werden kann. Etwas, das mich überrascht hat, ist: wie enorm langfristig chinesische Unternehmer planen.

«Es ist definitiv gewöhnungsbedürftig, wenn ein unterschriebener Vertrag am nächsten Tag unter Umständen bereits Makulatur ist.»

Diese Politik der Öffnung, gilt das nur für Staatskonzerne oder gibt es solche Vorgaben auch für private Unternehmen?

Der Staat hat natürlich fast überall seine Finger drin, die Kontrollen und Einflussmöglichkeiten sind vorhanden. Fast jedes Unternehmen ist in irgendeiner Form an den Staat gebunden.

Auch der Tüftler, den Sie porträtieren, der in seiner Werkstatt europäische High-End-Verstärker nachbaut und für einen Bruchteil des Preises verkauft?

Nein, zumindest nicht direkt. Aber auch bei ihm wird bestimmt registriert, was er macht. Solange er unauffällig bleibt, mit seinen Produkten ein Bedürfnis der Bevölkerung abdeckt und Steuern bezahlt, lässt man ihn machen. Wobei das nicht heisst, dass er seinen gesamten Umsatz versteuert. Es gibt einen grossen Markt für Schwarzgeld. Er kann seinen Kunden entweder eine offizielle Quittung geben, die er dann auch registrieren und besteuern muss. Oder er gibt ihm eine eigene Quittung, damit der Kunde seine Garantie einlösen kann. Das wird in China aber nicht als etwas Verwerfliches angesehen, sondern ist gang und gäbe.

Schwarzgeld, Kopien, eine Börse auf Achterbahnfahrt, geschönte Kennzahlen: Die chinesische Wirtschaft geniesst in Europa und in den USA einen zweifelhaften Ruf. Zurecht?

Das grösste Problem ist die fehlende Rechtssicherheit. Es ist definitiv gewöhnungsbedürftig, wenn ein unterschriebener Vertrag am nächsten Tag unter Umständen bereits Makulatur ist. Andererseits zeigt mein Film auch, dass mit dem Maschinenbauer Bühler ein Schweizer Multi in China sehr erfolgreich sein kann, wenn er im System mitspielt. Wer jedoch versucht, seine westlichen Werte und Überzeugungen mit aller Macht durchzusetzen, läuft auf. Ich kenne unzählige Geschichten von westlichen Investoren und Unternehmern, die in China Geld verloren haben, weil irgendein Vertrag oder ein Versprechen nicht eingelöst oder falsch interpretiert wurde.

Das ist also einfach Teil des Risikos, wenn man in China Geschäfte machen will?

Ja, das verändert sich auch ständig. Es werden laufend neue Regulierungen durchgesetzt. Im Moment gibt es zum Beispiel überall DVD-Shops, wo man für wenig Geld Filme kaufen kann, die noch nicht einmal im Kino laufen. Es ist aber sehr gut möglich, dass die Regierung solche Raubkopien irgendwann von einem Tag auf den anderen verbietet und rigoros dagegen durchgreift. Das System würde kollabieren, wenn man gegen alle diese Geschäfte im gesetzlichen Graubereich vorgehen würde. Eine DVD zu einem Preis von 15 Franken kann sich in China einfach kaum jemand leisten. Das Land entwickelt sich wirtschaftlich derart rasant, dass die Kaufkraft der Menschen und der Markt gar nicht mitkommen. Also schaut die Regierung im Inneren weg, nach aussen wird gleichzeitig der Anschein erweckt, dass solche Urheberrechtsverletzungen nicht toleriert werden.

«Die Chinesen haben selbst die Nase voll von dem billigen China-Schrott und haben deshalb keinerlei Vertrauen in chinesische Produkte oder Marken.»

Wird von staatlicher Seite versucht, Schritt für Schritt eine Rechtssicherheit aufzubauen?

Garantiert. Insbesondere in den Bereichen, in denen die Chinesen technologisch führend sind, wird das Kopieren nicht mehr toleriert. Die chinesischen Blockbuster-Filme findet man in den illegalen DVD-Shops zum Beispiel nicht. Diese Flexibilität ist einerseits spannend, da man als Unternehmer permanent die Grenzen ausloten muss. Wir Europäer, die wir uns strikte Regeln gewohnt sind, sind in einem solchen System natürlich völlig aufgeschmissen.

Rechtssicherheit bedeutet in China also ein permanentes Aushandeln?

Sehr vieles basiert auf Vertrauen. Hat man mit jemandem ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, kann man sich auf diese Person auch verlassen. Der Handschlag und ein gut funktionierendes Beziehungsnetz, Guanxi genannt, gilt viel mehr als der unterschriebene Vertrag.

Einer der Protagonisten in ihrem Film kopiert recht schamlos die Produkte europäischer Hersteller. Inwiefern ist das typisch für den chinesischen Unternehmergeist?

Natürlich gibt es grosse Unterschiede innerhalb von China. Das sogenannte Shanzhai-Prinzip, das diesem Selbstverständnis des Kopierens zugrunde liegt, kennt zwei Ausprägungen. Es gibt die Billigkopien, die für den schlechten Ruf von «Made in China» verantwortlich sind. Das ist auch vielen Chinesen etwas peinlich. Sie haben selbst die Nase voll von dem billigen China-Schrott und haben deshalb keinerlei Vertrauen in chinesische Produkte oder Marken. Spannender finde ich Shanzhai, wenn es darum geht, etwas Bestehendes genau zu studieren und weiterzuentwickeln, zu verbessern. Das ist zum Beispiel bei den Mobiltelefonen geschehen. In Shenzen, der Sonderwirtschaftszone wo vor allem die Elektronikunternehmen tätig sind, wurden früher ganz einfache Kopien von Nokia und Co. hergestellt. Dann haben die Firmen damit angefangen, eigene, modifizierte Modelle zu kreieren.

Mit Erfolg?

Durchaus. Besonders erfolgreich war ein Handy für Moslems, das anzeigt, wo Osten liegt und wann man beten muss. So etwas gab es vorher nicht. Die Chinesen haben erkannt, dass das ein Marktrenner sein könnte. Irgendwann begann ein Unternehmen, einzelne, standardisierte Bestandteile für Mobiltelefone zu verkaufen. So konnte sich eine ganze Industrie bilden, die mit Basiskomponenten das Produkt Mobiltelefon rasant weiterentwickeln kann. Heute werden in China etwa 600 Millionen Mobiltelefone pro Jahr produziert. Lauter günstige No-Name-Telefone, die vor allem in Entwicklungsländern wahnsinnig wichtig sind. Diese Form des Shanzai ist ein Geben und Nehmen und deshalb sehr nahe am Open-Source-Gedanken.

«Der Staat investiert viel Geld in die Startup-Förderung.»

Wollen junge Leute in China heute Entrepreneur werden und eigene Startups gründen?

Es gibt Hochschulen, die ihre Studenten explizit zu Unternehmern ausbilden und beim Gründen von Startup-Unternehmen aktiv mithelfen. Die Nachfrage nach solchen Ausbildungen ist explodiert. Das ist inzwischen auch bei ausländischen Spitzenunis und Unternehmen angekommen. Das MIT aus Boston etwa, unterhält sehr gute Beziehungen zu einem Startup-Labor an unserer Universität. 

Ist diese Dynamik neu?

In den Zentren wie Shanghai und Beijing gibt es solche Innovations-Spaces vielleicht seit fünf Jahren. Inzwischen sind es landesweit vielleicht einige Hundert oder Tausend. Bereits hat auch die Regierung die Entwicklung registriert und die Chance erkannt. Der Staat investiert viel Geld in die Startup-Förderung.

Gibt es Branchen, die besonders florieren?

Die Elektronik- und Telekommunikatiosunternehmen in Shenzen boomen stark. Dort wimmelt es von hochkompetenten KMU. Diese Firmen sind fähig, in kurzer Zeit Kleinserien herzustellen, etwa für Prototypen. Und das ist wiederum für die grossen Konzerne oder Tech-Startups interessant. Shenzen ist ein eigentliches High-Tech-Ökosystem, wo rasch und günstig Prototypen hergestellt werden können. Dadurch werden natürlich auch die Preisstrukturen der Marktführer unterwandert. Einerseits hat das etwas Bedrohliches. Andererseits ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten und fördert wiederum Innovation.

Sie porträtieren in Ihrem Film drei private Unternehmer mit eher kleineren Firmen. Gleichzeitig gibt es in China die mächtigen Staatskonzerne. Stellen die Kleinen für diese Giganten eine Konkurrenz dar?

Die kleine dynamische Unternehmerszene und die alteingesessenen Staatskonzerne leben in völlig verschiedenen Welten und haben kaum Berührungspunkte. Sie bewegen sich auf veschiedenen Märkten und funktionieren ganz anders. Die Staatsbetriebe sind berüchtigt dafür, riesige, ineffiziente Geldvernichtungsmaschinen zu sein. Sie verändern sich nur langsam. Seit der Jahrhundertwende gab es deshalb eine grosse Privatisierungswelle. Wie man in meinem Film am Beispiel der Firma Bühler Changzhou sieht, ist dadurch viel Know-How wieder zurück in die private Marktwirtschaft gelangt. Das ist politisch gewollt.

«Wenn ein Staatsbetrieb durch ein Jungunternehmen konkurrenziert wird, wird dieses einfach aufgekauft. In dieser Hinsicht funktioniert China dann wiederum sehr einfach.»

Aber ChemChina zum Beispiel ist breit diversifiziert, das Unternehmen stellt vom Gummipneu bis zum High-Tech-Saatgut alles her. Der Syngenta-Zukauf etwa ist der Versuch in ertragreichere, innovative Geschäftsfelder vorzustossen. Gerade im Bereich Life Sciences gibt es doch bestimmt auch Startups, die eine Konkurrenz darstellen.

Wenn ein Staatsbetrieb durch ein Jungunternehmen konkurrenziert wird, wird dieses einfach aufgekauft. In dieser Hinsicht funktioniert China dann wiederum sehr einfach. Wenn die Partei entscheidet, wird nicht mehr gross diskutiert. In Shanghai gab es beispielsweise ein erfolgreiches Ausgehmagazin, gegründet von einem Engländer. Irgendwann hat ihm die Regierung dieses Magazin einfach weggenommen. Diese fehlende Sicherheit über das Eigentum ist für ausländische Investoren eine grosse Herausforderung.

Haben Sie versucht, in einem Staatskonzern zu filmen?

Der grosse Tierfutterproduzent den wir im Film besuchen, gehört zumindest teilweise dem Staat. Meine chinesischen Crewmitglieder wurden ganz nervös, als wir dort hin gingen. Wir wussten nicht, was uns dort erwartet. Aber das sind halt auch Vorstellungen, Vorurteile von Unerfahrenen. Letzlich konnten wir dort genauso frei filmen wie auch sonst.

Gab es Situationen und Orte, wo Sie ihre Kamera abschalten mussten?

Der einzige Ort wo wir nicht filmen durften, war ein riesiger Schrottplatz für Elektroabfall. Eine eigentliche Stadt, in der die ganze Bevölkerung vom Handel mit Elektronikabfällen lebt. Es war allerdings nicht der Staat, der uns dort vom Filmen abhielt, sondern die grossen Schrotthändler vor Ort. Dieses Geschäft ist sehr lukrativ und von einigen Familien dominiert, die Strukturen sind mafiaähnlich. Auslöser war eine kritische BBC-Reportage über die katastrophalen Bedingungen für die Umwelt und die Gesundheit der Arbeiter. Nach diesem Bericht hat die Regierung einzelne Unternehmen geschlossen, um ein Exempel zu statuieren. Sobald solche Missstände öffentlich werden, vor allem im Ausland, greift die Regierung durch, um das Ansehen zu wahren.

«Die Chinesen sind nicht daran interessiert, ihre alten Vorstellungen durchzusetzen, sondern am Fortschritt.»

Die Umweltstandards sind genau ein Aspekt, der nach der Bekanntgabe des Syngenta-Deals vielen Menschen Sorgen macht. Nämlich, dass Syngenta künftig nach den tiefen chinesischen Umweltstandards produzieren wird.

Diese Befürchtungen sind begründet. Chinesische Unternehmer denken sehr pragmatisch. Sie machen das, was möglich ist und was sich rechnet. Wenn also die Produktion nach höheren Umweltstandards irgendwann zu teuer wird, werden die Standards wohl sinken. 

In ihrem Film sieht man, wie die gesamte Belegschaft einer Futtermühle frühmorgens im Kollektiv Gymnastik treibt. Klar ist das ein Extrem, aber die Tatsache, dass Syngenta zu einem chinesischen Staatsunternehmen wird, weckt viele Befürchtungen. Gibt es so etwas wie eine typisch chinesische Unternehmenskultur?

ChemChina hat gesagt, dass die Firmenkultur bei Syngenta nicht verändern werden soll. Diese Frühsportgeschichte kommt aus einer gewissen Zeit. Syngenta wird aber ein modernes Unternehmen bleiben, wie es sie in China massenweise gibt. Solche Turneinlagen sind ein Relikt, das wird in Fabrikationsbetreiben auf dem Land noch praktiziert, wo die Angestellten in alten Militäruniformen an den Maschinen stehen. Die Chinesen sind ja nicht daran interessiert, ihre alten Vorstellungen durchzusetzen, sondern am Fortschritt. Sie wollen weiterkommen, sich weiterentwickeln, von uns lernen. Das zeigt auch das Beispiel von Volvo, diese Autos werden immer noch in Göteborg entwickelt. Typisch für den chinesischen Unternehmergeist ist sicher die List. Listkundigkeit ist eine grosse Tugend im chinesischen Denken, List und Weisheit werden mit dem gleichen Schriftzeichen ausgedrückt. Ein bekanntes Sprichwort heisst grob übersetzt etwa, «Wenn am Wegrand ein Schaf steht, dann greif zu.» Dieses permanente Scannen nach Möglichkeiten ist etwas, was im chinesischen Denken und Handeln tief verankert ist.

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«The Chinese Recipe» läuft ab dem 17. März 2016. In Basel sind bis jetzt keine Vorführungen geplant.

» Und hier kommen Sie nach dem Trailer rasch wieder zum Anfang des Gesprächs

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