In Zürich ist ein Buch erschienen, das sich mit dem 13. Mai 2006 beschäftigt, dem Tag, als der FCZ dem FC Basel in der 93. Minute den Titel entriss. Auf prallen 200 Seiten wird minutös und in vielen Facetten nacherzählt, was damals geschah. Auch Ex-Trainer Lucien Favre schildert seine Erinnerungen an einen in vielerlei Hinsicht unvergesslichen Tag.
13. Mai 2006, 19:37 Uhr – der Moment in dem der FC Basel mehr verliert als einen sicher geglaubten Meistertitel. Und in dem der FC Zürich mehr gewinnt, als er und seine Fans zu träumen gewagt hatten.
So ist mit dem 13. Mai und den Ausschreitungen im Stadion, damals live im Fernsehen zu sehen und von einem Hobbyfilmer festgehalten, beim FCB ein dunkles Kapitel verbunden; mit jener 93. Minute des Spiels und dem Tor von Iulian Filipescu beim FCZ jedoch der selige Augenblick, als nach 25 Jahren wieder eine Meisterschaft gewonnen wurde.
Wer sich in Basel daran erinnern kann, wie es war, als der FCB 2002 eine Durstrecke von 22 Jahren ohne Titel beendete, mag ein Stück weit nachvollziehen, was diese 93. Minute einem FCZler bedeutet. Nach diesem immerwährenden Moment wurde schon ein Clubmagazin des FCZ mit «93. Minute» benannt und inzwischen wieder eingestellt.
Das Fest zur Unzeit, das Buch für die Ewigkeit
An diesem Freitag feiert der FC Zürich mit der Südkurve, dem Pendant zur Basler Muttenzerkurve, ein Fest aus Anlass des zehnten Jahrestages. Eine Party zur Unzeit angesichts der aktuellen Verfassung der Zürcher.
Ausserdem ist dem Tag ein Buch gewidmet, das unter der Regie der Südkurve entstand und das nicht anders heissen kann als «Die 93. Minute». Auf über 200 prallen Seiten kommen Protagonisten von damals zu Wort, werden die Saison, der 13. Mai 2006 und die letzten, dramatischen Szenen minutiös beschrieben und nachgezeichnet. Ein Buch von FCZ-Fans für FCZ-Fans, keines für FCB-Anhänger oder höchstens für jene mit guten Nerven und einem Sinn für Fussballgeschichte.
Die Macher des Buches haben den beim FCZ über alle Massen verehrten Meistertrainer von damals in seiner Heimat, dem Wohnort Saint-Barthélemy in der Waadt, besucht. Im Interview schildert der heute 58-jährige Favre seine Erinnerung an den 13. Mai 2006. Ein Auszug daraus wurde der TagesWoche zur Verfügung gestellt.
Lucien Favre, wissen Sie eigentlich, dass Sie in Zürich nach wie vor als Stadtheiliger verehrt werden?
Lucien Favre als Trainer von Borussia Mönchengladbach am 19. September 2015. Einen Tag später trat er zurück. (Bild: Imago)
Lucien Favre: Nein, das wusste ich nicht. Aber ja, die Zeit in Zürich war super. Im FCZ hatte ich alles: eine gute Mannschaft, eine funktionierende Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen und viele gewonnene Titel. Und natürlich erinnere ich mich an die Feiern auf dem Helvetiaplatz – die waren klasse.
Was waren Ihre Ziele, als Sie in die Meistersaison 2005/06 starteten?
Die Saison zuvor hatten wir den Cup gewonnen. Der Cupsieg war ein Signal: Die Mannschaft wusste, dass sie Titel gewinnen kann. In der Saison 05/06 wollten wir um die Meisterschaft mitspielen. Wir wollten das Team deshalb punktuell verstärken, holten Raffael und von Bergen. Ich erhielt meine Wunschspieler. Bei Transfers machten wir damals keine Fehler, die Mischung stimmte.
Im Winter 05/06 haben Sie Gökhan Inler entdeckt. Wie kamen Sie auf ihn? Er war damals Ersatzspieler beim FC Aarau …
Soll ich die Wahrheit sagen? Ich hatte von seinem Berater Dino Lamberti eine DVD erhalten. Darauf waren nur Highlights von Inler zu sehen – obwohl er bei Aarau meistens auf der Bank sass. Ich merkte aber sofort: Dieser Spieler hat Potenzial. Er war robust, konnte gut den Ball halten, war beidfüssig und torgefährlich. Ein Scout von mir war dann an einem Freundschaftsspiel von Aarau gegen Sion in Vevey. Auch er merkte bereits zur Halbzeit, dass Inler gut war und wir ihn holen mussten. Ich fragte mich aber, ob ich seine Defizite korrigieren kann.
Sie zweifelten.
Inler spielte manchmal zu kompliziert. Er wollte zu viel. Im Trainerteam haben wir uns dann entschieden, ihn zu verpflichten und zu schauen, was wir alles aus ihm herausholen konnten. Er war ja ein Schnäppchen. Vor der Verpflichtung zögerte ich aber noch einmal: Ich wollte, dass er sich vor der Vertragsunterzeichnung einem Fitnesstest unterzog. Ein zentraler Mittelfeldspieler muss schliesslich viel laufen. Ich war dann mit Inler alleine auf dem Platz, er musste einen Kilometer rennen, dann zwei Minuten Pause machen, dann wieder einen Kilometer rennen, dann wieder Pause und so weiter. Nach drei Kilometern brach ich die Übung ab. Ich hatte genug gesehen. Er war eine Maschine.
In den Nullerjahren haben sie mit Ihren Trainingsmethoden beim FCZ Massstäbe gesetzt. Sie waren in Sachen Technik und Taktik der Zeit weit voraus. Von wem lernten Sie?
Ich habe als Spieler von allen Trainern profitiert. Alle haben mir etwas gebracht. Ich habe auch viel hospitiert. Ich war bei Rafael Benitez, bei Arsène Wenger und zwei Wochen bei Johan Cruyff in Barcelona. Ich war zu Beginn meiner Karriere bei Echallens Juniorentrainer. Da hatte ich viel Freizeit und konnte von den grossen Trainern profitieren. Ich sprach mit Ottmar Hitzfeld. Ich ging überall hin: nach Argentinien, nach Schweden.
Hat Sie das geprägt?
Ja, als Trainer merkte ich sofort, was mir diese Eindrücke brachten. Ich hatte eine Idee: flach und kreativ zu spielen.
Zwängen Sie Ihre Spieler eigentlich nie in ein taktisches Korsett?
Der Spieler ist für mich immer wichtiger als das System. Meine Spieler sollen ihre Kreativität ausleben können und die Eins-zu-eins-Situation suchen. Aber für die Mannschaft gilt die Disziplin. Wenn ein Spieler blind überall hin läuft, bringt das gar nichts. Ich erwarte von einem Spieler, dass er die richtigen Laufwege kennt und auch defensiv arbeitet.
«Ich bin weder links noch rechts.»
Wie wichtig ist Ihnen das schöne, offensive Spiel?
Schon als Spieler war mir das sehr wichtig. Mein Ziel war es immer, die gegnerische Mannschaft zu destabilisieren, sie «out of position» zu bringen. Das schafft man nur mit einer sehr, sehr schnellen Ballzirkulation. Wenn die Gegner schieben, findet man immer Lücken. Dann muss man die Überzahlsituation suchen, das ist zwar risikoreich, aber so funktioniert mein Spiel. Hierzu braucht man Spieler, die schnell und in den Eins-zu-eins-Situationen stark sind. Solche, die den letzten, den tödlichen Pass spielen können. Wenn man keine Spieler hat, die den Unterschied ausmachen können, ist der Fussball doch langweilig.
Kennen Sie die Theorie von Menotti vom linken und rechten Fussball? Offensivspiel und Kreativität stehen für den linken, Ergebnisorientiertheit für den rechten Fussball. Sind Sie ein Linker?
Ich bin weder links noch rechts. Aber ich bin ein guter Linksfuss (lacht).
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» Dieser Auszug ist auch in der jüngsten Ausgabe #54 des Fussballmagazins «Zwölf» erschienen.
» Das gesamte Interview mit Lucien Favre ist im Buch «Die 93. Minute» der Zürcher Südkurve nachzulesen.
» Fundsache
Dieses YouTube-Video, nach einem Requiem benannt (Lacrimosa dies illa, zu deutsch: Tränenreich ist jener Tag), zeigt von einem Zuschauer im Stadion gefilmt über eine dreiviertel Stunde lang, was am 13. Mai 2006 in der 93. Minute und danach passierte: