Frank Köhnlein ist Jugendpsychiater an der UPK Basel und seit neuem Krimi-Autor. Wir liessen ihn nicht nur aus seinem Buch «Vollopfer» lesen, wir sprachen mit ihm auch über sein Alter-Ego, kranke Kinder und warum ihn die Geschichten der Jugendlichen nicht fertig machen.
Die Bewertung auf Amazon hat Frank Köhnlein getroffen. «Nur zwei Sterne», sagt der 46-Jährige, noch bevor er sich zum Interview gesetzt hat. Ein Mann, der jeden Tag beelendende Geschichten von Jugendlichen hört, gekränkt von einer Lesermeinung. Wie kommt das?
Bevor wir die Frage stellen können, zuerst mal Kaffee und da tritt sein Alter-Ego aus dem Krimi bereits in Erscheinung. «Milch und Zucker bitte». Genau so trinkt auch Doktor Paul Hepp seinen Kaffee. Er ist Psychiater im Waldsonnenheim, wo «Vollopfer» spielt, ein Roman, der schon grauselig beginnt: Die Putzfrau des Internats für schwer verhaltensauffällige Jugendliche findet eines Morgens den Heimleiter bewusstlos in der Sauna, «mehr Hummer als Mensch».
Die Polizei lässt nicht lange auf sich warten, aber für Kommissar Poltrone ist der Fall allzu schnell klar: Ein Heim voller verhaltensauffälliger Jugendlicher und zwei verschwinden just in der gleichen Nacht – Fall gelöst. Hepp allerdings mag nicht glauben, dass einer seiner Jugendlichen etwas damit zu tun hat, und beginnt seine eigenen Ermittlungen.
Ritzen, Finger zusammenähen, Mutisten – alles erlebt
Was nach einem Krimi klingt, ist auch einer, aber eben nicht nur. Im Fokus steht auch die Jugendpsychiatrie. Hepp denkt sich während «Vollopfer» so einiges und spart – via unbekanntem Erzähler – nicht mit Kritik an der Branche, Seitenhiebe gegen Ausbildung, Lehrbücher und Pharma inklusive. Gleichzeitig vermittelt einem «Vollopfer» so viel vom Wesen der Jugendpsychiatrie, dass es teilweise auch in der Rubrik «Sachbuch» geführt wird.
Kein Zufall: Der Autor ist Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Basel (UPK). Und Protagonist Paul Hepp hat mehr mit Frank Köhnlein zu tun, als man zuerst denken würde. Die Personen im Buch sind zwar fiktiv, sie entstammen aber nicht der Fantasie von Köhnlein, sondern sind ein Mix aus verschiedenen wirklich existierenden Fällen des Arztes. Ritzen, Finger zusammenähen, Kinder, die seit Jahren kein Wort gesprochen haben – das hat der 46-Jährige in seiner Karriere alles erlebt – auch hier in Basel, wo er seit 2002 arbeitet.
Und man muss kein Psychologe sein, um zu sehen, dass Köhnlein im Buch auch Erfahrungen von sich selbst verarbeitet:
Wer nach diesem Ausschnitt nun das Gefühl hat, diesen Schreibstil von irgendwoher zu kennen, dem helfen wir gerne auf die Sprünge: Es klingt nach dem Krimi-Autoren Wolf Haas. Der mäandrierende Gedankengang von Paul Hepp, der gesprächsnahe und assoziative Erzählstil – es sind Elemente, die man auch vom Österreicher kennt. Und entsprechend kritisiert werden (und auch zu der Zweisterne-Bewertung auf Amazon führte), denn wie die Brenner-Bücher von Haas, ist auch «Vollopfer» ein Buch, das man liebt oder verschmäht
Herr Köhnlein, Ihr Stil wird sehr oft mit dem des österreichischen Krimiautors Wolf Haas verglichen, und der Stil ist ja auch sehr nahe. Stört Sie das?
Ich hab mich ja selbst da hinein manövriert. Ich habe mit einem Kollegen einen Workshop zum Thema Kindesmisshandlung gestaltet, und auf der Rückfahrt sagte er zu mir: «So wie Du vorträgst, müsstest Du die Bücher von Wolf Haas mögen.» Ich kannte ihn nicht, und der Kollege schenkte mir dann «Silentium!» von Haas – ich war völlig begeistert! So darf man schreiben, dachte ich mir, das gibt’s ja gar nicht.
Und dann?
Ich nahm alles, was ich bis dahin geschrieben hatte, und legte es auf die Seite, weil ich merkte, was mir daran nicht gefiel. Es war nicht so, wie ich es erlebe, wie ich fühle und denke. Und dann habe ich angefangen, in diesem Stil zu schreiben – und es floss. Das Schicksal hat mich also nicht da hineingeworfen, sondern ich habe es aktiv gesucht. Ich bin selber schuld. Auf einen möglichen Vorwurf des Plagiats von Haas hat mich meine Verlegerin auch vorbereitet, aber er kam bisher noch nicht. Und ich glaube auch zu Recht. Ich glaube nicht, dass es eins-zu-eins Wolf Haas ist. Aber er war für mich ein Inspiration, ja – oder noch mehr: eine Befreiung. Er hat mich ermächtig, so zu schreiben, wie es für mich stimmt.
Und wenn die Kritik doch kommt?
Dann werde ich wohl Pablo Picasso erwähnen, der den Kubismus erfunden hat. Nach ihm kamen aber auch andere, die den Stil aufnahmen und weiter entwickelten. So ist das vielleicht bei Haas und mir. Mein zweiter Roman wird übrigens schon ein bisschen anders sein.
«Einerseits tun die Jugendlichen so blöd, weil sie manchmal blöd sind, andererseits machen wir sie aber auch blöd.»
Eine Zwei-Sterne-Kritik auf Amazon hat Sie getroffen. Die «richtigen» Schriftsteller sagen ja immer, es sei ihnen egal, was die Kritiker sagen.
Oh nein, das stimmt jetzt aber gar nicht. Das ist denen nicht egal, und auch mir ist das sehr wichtig. Einerseits bin ich eitel, andererseits ist es mein Erstling.
Aber das dürfen Sie doch nicht sagen als Schriftsteller!
Ach, wissen Sie, ich habe halt noch kein richtiges Coaching erhalten. (Lacht.) Aber ernsthaft: Es ist mir wirklich nicht egal, was die Kritiker sagen. Und ich glaube, wenn man auch den Jugendlichen so begegnet, dass es einem eben nicht egal ist, wenn sie dir einen «Vollopfer»-Kleber auf die Stirn drücken, dann nehmen sie einen als authentisch wahr. Der Jugendliche sagt nämlich etwas, das auch mit dir zu tun hat, und nicht nur mit ihm, der gerne mal als asozialer Jugendlicher dargestellt wird in solchen Momenten, als einer, der die Körpergrenze nicht kennt, keinen Respekt hat und so weiter. In einer solchen Situation nimmt er dich offensichtlich als Opfer wahr, und wenn du dann demütig genug bist und sagen kannst: «Hey, Du hast das Recht, mit Erwachsenen so umzugehen, gerade auch mit mir, wenn du mich so wahrnimmst», dann spürt er die Authentizität. Darum ist es mir nie egal, was Kritiker sagen, weder in der Arbeit mit Jugendlichen, noch im Zusammenhang mit meinem Buch.
Treffen Sie die Beschimpfungen von Jugendlichen?
Natürlich. Wenn dir ein Jugendlicher sagt: «Sie sind so ein Arschloch», kann ich schon sagen, «das sagst du aber nur einmal zu mir!» Aber mit nach Hause nehme ich das trotzdem, weil er wahrscheinlich irgendwo recht hat. Er sagt das nicht, weil er selbst eines ist, sondern vielleicht auch, weil ich was Unmögliches gemacht habe.
Gibt es denn auch Jugendliche, die das durchschauen und absichtlich die Knöpfe drücken beim Gegenüber?
In der forensischen Psychiatrie, bei Jugendlichen, die immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten, gibt es das durchaus, aber nicht bei den Jugendlichen, mit denen ich zu tun habe. Sonst müsste ich anders umgehen mit solchen Situationen – ich müsste mich dort mehr abgrenzen. Die Jugendlichen mit denen ich zu tun habe, schätzen am Köhnlein wohl, dass er authentisch ist. Und es gibt wirklich Therapiesitzungen – das klingt jetzt etwas pathetisch – in denen ich Tränen in den Augen habe. Sitzungen bei denen ich mir denke: «Das gibt’s gar nicht, was der mir erzählt.» Laut Lehrbuch sind die Tränen fehl am Platz, nehme ich an, auch wenn ichs noch nie nachgeschlagen habe und das wohl auch nie tun werde. (Lacht.)
Warum macht Sie das mit der Zeit nicht kaputt?
Weil ich weiss, dass es das gibt, in der Realität. Weil ich weiss, dass es zum Mensch-Sein gehört. Und ich versuche, die Geschichten auch wieder loszuwerden, indem ich sie erzähle. Etwa vom Kind, das hier in Basel jahrelang unzählige Nachmittage imKeller verbracht hat, weil der Vater immer gesagt hat, er würde sonst Migräne kriegen. Der Junge kam aus der Schule und wurde in den Keller gesperrt. Jahrelang. Bis eine Primarschullehrerin ihn mal darauf angesprochen hat, warum er denn so bleich sei. Dann brach die Geschichte aus ihm heraus. Solche Sachen muss auch ich wieder loswerden, das muss jeder, sonst verelendet er.
Ist dieses Buch Ihr Weg, die Geschichten loszuwerden?
Nicht einfach loswerden, aber erzählen. Ich will darauf aufmerksam machen, dass es das gibt. Und es geht dabei auch darum zu sagen: Einerseits tun die Jugendlichen so blöd, weil sie manchmal blöd sind, andererseits machen wir sie aber auch blöd. Die Geschichten, die ich im Buch erzähle, sind zum grössten Teil reale Beispiele, auch wenn sie natürlich aus verschiedenen Biographien zusammengestückelt und verfremdet sind.
Im Buch wird immer wieder erwähnt, dass die Eltern die Probleme nicht sehen, sie ignorieren, nicht wahrhaben wollen. Ist das Buch auch der Versuch zu sagen: «Hey, schaut hin, redet darüber mit den Kindern»?
Vieles, was Jugendliche tun, ist ein Appell, ein Hilfeschrei – «Nehmt wahr, was mit mir passiert!» Und es ist erstaunlich, wie lange Eltern gewisse Sachen nicht wahrhaben wollen. Eine Vierzehnjährige hat einen ganzen Sommer lang, blutige Wäsche in den Korb gelegt, weil sie sich geritzt hatte. Abend für Abend. Die Mutter hat sie gewaschen und schön gebügelt wieder in den Schrank geräumt. Tag für Tag, ohne irgendetwas zu sagen.
Hat die Mutter nichts gemerkt?
Das habe ich die Jugendliche auch gefragt, und sie sagte: «Doch, gesehen hat sie es wohl schon, aber sie wusste wohl nicht, wie ansprechen.» Wenn das Buch eine Aussage hat, dann wohl wirklich die: «Schaut hin, sprecht die Probleme an.» Die Jugendlichen machen das alles nicht ohne Grund, ihre Probleme legen sich nicht einfach über sie. Ich stelle in meiner Tätigkeit auch immer wieder fest, dass Erwachsene zu schnell ein Bild, eine Erklärung haben. Sie haben schon Antworten, da habe ich noch nicht mal die Fragen gestellt.
Wie viel Köhnlein steckt noch in Hepp? Was hat es mit den Tieren auf sich, die im Buch vorkommen und ist der Umgang von Hepp mit den Jugendlichen der richtige Weg? Die Antworten auf diese und mehr Fragen lesen Sie am Freitag im grossen Interview mit Frank Köhnlein in unserer Wochenausgabe vom 24. Januar – auf Papier oder in der App.
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LeserInnen-Angebot:
TagesWoche-Leserinnen und Leser können bis Ende März 2014 für 19.90 statt 24.90 Franken (inkl. Porto und Verpackung) direkt beim Wörterseh Verlag bestellen. Per Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder per Tel. 044 368 33 68. Stichwort: TagesWoche.
Mehr zum Buch gibt es auf der Website des Romans: «Vollopfer».