«Mein Buch hat keine politische Agenda»

Der 29. September steht für den Europäischen Tag der Jüdischen Kultur. Einen Tag zuvor gastiert der israelische Schriftsteller Assaf Gavron in Zürich. Dort liest er aus seinem neuen Roman «Auf fremdem Land». Wir haben ihn in Tel Aviv zum Gespräch getroffen.

Bestseller-Autor Assaf Gavron (45) hat zwei Jahre lang in Siedlungen recherchiert und seine Eindrücke in einem starken Roman verarbeitet. (Bild: zVg)

«Auf fremdem Land»: Der Israeli Assaf Gavron hat einen verstörend neutralen Roman über das Leben in einer israelischen Siedlung geschrieben.

Dieser Roman kommt zur rechten Zeit. Seit August dieses Jahres ­sitzen, überschattet von den Krisen in Syrien und Ägypten, Vertreter der ­israelischen Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Gesprächen zusammen, um den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen. Von den Gesprächen dringen kaum verlässliche Details nach aus­sen, aber irgendwann werden Orte wie jener, den der israelische Schriftsteller Assaf Gavron in seinem Roman zum fiktiven Schauplatz erkoren hat, zum Thema werden. Orte wie Maaleh Chermesch 3, ein «Outpost», ein Satellit einer seit Jahrzehnten bestehenden jüdischen Siedlung in den Hügeln der Westbank – diesem biblischen Landstrich westlich des Jordans, der einmal das Territorium eines Palästinenserstaates werden soll und von ­Israel seit 46 Jahren – je nach Lesart – «besetzt» oder «verwaltet» wird.

Jüdische Kultur im Fokus

Assaf Gavron liest am Samstag, 28. September, aus seinem Roman im Literaturhaus Zürich.

Der Sonntag, 29. September, steht für den Europäischen Tag der Jüdischen Kultur. Auch in Basel finden aus diesem Anlass mehrere Programmpunkte statt, das Jüdische Museum lockt etwa mit einem Tag der Offenen Tür.
Und in Hegenheim lädt Jacques Bloch zu einem Rundgang auf dem Jüdischen Friedhof. Das gesamte Programm finden Sie hier.

Im Konflikt um dieses Stück Land, so gross wie der Kanton Bern, überlagern sich die Interessen von jüdischen Siedlern und arabischen Einwohnern, die Sicherheitsinteressen Israels und die Staatlichkeitsansprüche der PA, weltliche Politik, biblische Heilsversprechen und Rechtssysteme. Hier kreuzen sich auch die Wege von Gavrons Figuren. Des jüdischen Siedlers, der Cherrytomaten anbauen will. Des arabischen Familienvaters, der aus jahrhundertealten Bäumen Olivenöl presst.

Aus der Perspektive der Teilhabe

Gavron hat einen Roman geschrieben, wie es kaum einen gibt, obwohl der israelisch-palästinensische Konflikt einer der meistbeachteten der Welt ist. Über die jüdischen Siedlungen in der Westbank mit ihren 340 000 Einwohnern gibt es politische Studien, religiöse Apologien, soziologische Untersuchungen. Gavron aber schreibt aus der Perspektive der Teilhabe.

Sein Roman «Auf fremdem Land» handelt von zwei Brüdern, die in ­einem Kibbuz nahe des Sees Genezareth als Waisen gross geworden sind. Der ältere, Roni, sucht zuerst als ­Barbetreiber in Tel Aviv und später als ­Investmentbanker in New York den ehrgeizigen Aufstieg, der andere, Gabi, findet nach einem verkorksten Familienleben seinen Frieden in der religiösen Versenkung im jüdischen Chassidismus. Beide treffen sich nach Jahren im «Outpost» Maaleh Chermesch 3 wieder, einer illegal errichteten Containeransammlung von jüdischen Siedlern, deren Ende besiegelt scheint: Ein Teil liegt auf einem Naturschutzgebiet, ein anderer auf brach­liegendem palästinensischem Privatland. Und mitten durch die Siedlung ist ein Abschnitt der israelischen ­Sicherheitsmauer geplant.

Gavrons Buch über die kleinen Krämpfe im grossen Konflikt geht nahe an die Menschen in den Siedlungen heran, ohne sie zu erhöhen, zu verdammen oder zu karikieren. Er blickt hinter die festgefahrenen Fronten und die Sperrgitter der verfeindeten Lager und versucht, die Beteiligten als Menschen zu fassen. Dass ihm das gelingt, ist an den Reaktionen der israelischen Presse abzulesen. Linksliberale wie rechtsnationale Medien bezeugen ­dieselbe Qualität von «Auf fremdem Land»: Ausgewogenheit. Die TagesWoche hat ihn in seinem Schreibbüro im Norden von Tel Aviv getroffen.

Herr Gavron, Sie sind weder ­religiös noch entstammen Sie ­einer Siedlerfamilie. Warum schreiben Sie über dieses Milieu?

Für jeden Israeli sind der Nahostkonflikt und die Siedlungen in der Westbank Teil seines Lebens, und sei es nur, wenn Wahlen anstehen. Man ist involviert, auch wenn man sie zu ignorieren versucht. Ich wollte darüber schreiben, weil ich die Siedler für einen der interessantesten Teile der israelischen Gesellschaft halte.

Warum?

Interessant ist, wie die Region ­verwaltet wird. Es gibt keine eindeutige oder eindeutig durchgesetzte Rechtslage. Sie haben das internationale Völkerrecht, das in militärisch besetzen Gebieten in Kraft tritt und von Israel mitunterzeichnet wurde. Sie haben das israelische Zivilrecht, das für israelische Staatsbürger, also die jüdischen Siedler, gilt. Und Sie haben die palästinensische Verwaltung und das israelische Militärgesetz. In diese Lücken schlüpfen die Siedler hinein und kreieren ihr eigenes Rechtsverständnis. Wie im Wilden Westen.

Eine romantische Vorstellung.

Ja. Inmitten dieser undurchschaubaren Verflechtungen gibt es diese kleinen Siedlungen auf den Hügeln, wo die Leute sehr einfach leben, in Wohnwagen, ohne Wasser oder Strom. Viel davon geschieht aus leidenschaftlicher Ideologie. Ich meine, es ist der letzte Ort in Israel, wo eine Ideologie den westlichen Lebensstil des Individualismus übertrifft. Die Ideologie bestimmt, was geschieht. Es ist angespannt, es ist gewalttätig, und die Landschaft ist wunderschön.

Sie haben für Ihre Recherche während zwei Jahren viel Zeit in Tekoa Dalet, einem «Outpost» südlich von Jerusalem verbracht. Wie kamen Sie dorthin?

Ein Freund von mir wuchs dort auf. Sein Vater stammte aus einer Siedlerfamilie und war als Rechtspolitiker aktiv. Sein Sohn ist politisch im selben Lager, arbeitet aber als Autor für israelische TV-Serien. Daher kannte ich ihn. Dort fuhr ich während zwei Jahren jede Woche hin.

Wie sieht es dort aus?

Es gab ein Dutzend Wohnwagen, mittlerweile dürften es doppelt so viele sein. Damals wurde gerade eine Strasse gebaut, deshalb ist Tekoa Dalet ein gutes Vorbild für den «Outpost», den ich beschreibe. Die Infrastruktur entwickelt sich, die Gesellschaft ist durchmischt, das Leben wahnsinnig billig, der Alltag langsam und einfach und die Leute zugegebenermassen sehr freundlich. Die Siedlung Tekoa selbst wurde in den 1970er-Jahren gegründet und war zu Beginn von religiösen wie ­säkularen Menschen bewohnt. Mittlerweile sind die Religiösen in der Mehrheit, aber die Bevölkerung gilt weiterhin als moderat.

«Die Mischung der Charaktere ist abschreckend und anziehend zugleich.»

Zu den Charakteren in Ihrem Buch gehören auch gewaltbe­­reite Siedler. Haben Sie die getroffen?

Das sind einfache Charaktere, für die es Vorbilder gibt, die man den ­israelischen Medien entnehmen kann. Während meiner Recherche traf ich gewaltbereite Siedler, sogenannte Kahanisten, nur nördlich von Jerusalem. Und die wollten auch nicht mit mir reden, als sie mich ­sahen und erkannten, dass ich nicht ihre Ideologie teile – ausser ich hätte verkündet, ich wolle ein Buch schreiben, das ihre Ideologie unterstützt. Was natürlich nicht meine Absicht war. Aber wie gesagt, das sind einfache, fast eindimensionale Charaktere. Mich interessierte die komplexe Mischung stärker. Denn man trifft auf erstaunlich offene, nahezu liberale Menschen – offen für Literatur, Theater, für das Denken. Manche kommen vom Land, manche aus den Grossstädten und suchen das karge, urtümliche Leben – und manche kommen mit einem Pioniergeist an und wollen neue Grenzen erschlies­sen, mit allen Mitteln, die sie für gut befinden. Für einen Schriftsteller ist diese Mischung so abschreckend wie ­anziehend, weil sich die Interessen aller Beteiligten stets überlagern, manchmal sogar diejenigen der jüdischen Siedler und der Palästinenser.

Eine solche Szene beschreiben Sie im Buch: Ein arabischer ­Olivenbauer und eine radikal­religiöse Siedlerin stoppen gemeinsam einen Bagger, der sich durch das Land fressen will.

Ja, und diese Dinge geschehen nicht selten. Die Idee, dass die Geschehnisse in solch kleinen Siedlungen am gefühlten Ende der Welt eine Resonanz in der grossen Weltpolitik ent­fachen, habe ja nicht ich erfunden. George W. Bush hat, als er noch amerikanischer Präsident war, in ­einer Rede tatsächlich einen kleinen «Outpost» namens Migron erwähnt, der die Hindernisse auf dem Weg zum Frieden symbolisierte. Migron war damals nur eine Ansammlung von Wohnwagen, auf die plötzlich die Augen der Welt gerichtet waren.

Ist den Siedlern bewusst, dass ihr Leben im Fokus der Welt­öffentlichkeit steht?

Manche wollen nur ihr einfaches ­Leben leben und Landwirtschaft ­betreiben. Aber es schmeichelt ­natürlich, für so wichtig gehalten zu werden, und andere fühlen sich dadurch gestärkt, dass ihr Handeln von Bedeutung ist.

Kein Denkanstoss zur Legitimität des eigenen Handelns?

Ich will nicht verallgemeinern, aber es gibt einen blinden Fleck im Denken der Siedler – wie der tote Winkel beim Autofahren. Mein Freund, der als Autor fürs Fernsehen arbeitet und den ich sehr mag, sagt: Politik interessiere ihn nicht. Man muss blind sein, um in einer Siedlung ­leben zu können und zu behaupten, die Politik gehe einen nichts an. Wer sich entscheidet, dort zu leben, tritt in ein Zweiklassensystem ein, in dem es Herren und Diener gibt. In dem eine grosse Bevölkerungsgruppe ohne gleiche Rechte und ohne Möglichkeit zur Selbstverwirklichung lebt. Wie freundlich und offen ein Siedler als Person auch sein mag, auf diesem Auge ist er blind, und das ist mehr als problematisch. Aber mein Buch hat keine politische Agenda. Ich denke, der Leser merkt, dass hier etwas völlig verkehrt läuft.

Andererseits erzeugen Sie auch Empathie für das Handeln Ihrer Hauptfiguren. Mögen die Siedler Ihr Buch?

Das gibt es. Erst vor wenigen Wochen fand ein rechtsgerichteter Autor sehr lobende Worte. Auch per Mail oder via Facebook erhalte ich positive Reaktionen von Siedlern. Aber es gibt auch andere Meldungen, und ich bin froh darum. Es wäre seltsam für mich, wenn alle Siedler mein Buch mögen würden. Ich hoffe aber, dass die Leser ausserhalb dieses Milieus mein Buch nicht als relativierend oder verteidigend begreifen. Ich denke, wer ein Buch liest, ist bereit, sich auf komplexe Figuren einzulassen.

Ihr früherer Roman «Ein schönes Attentat» hatte einen ähnlichen Zugang: Sie folgten dem Charakter eines palästinensischen Selbstmordattentäters und beschrieben sein Leben.

Die Parallele ist korrekt, ja. Empathie für den vermeintlichen Feind hilft, die eigenen Vorstellungen zu hinterfragen. Es ist richtig, die Tat eines Selbstmordattentäters als böse oder unmenschlich zu beschreiben. Dafür gehört er ins Gefängnis und von der Gesellschaft weggesperrt. Mich interessiert aber der Hintergrund eines Attentäters, seine Familie, sein Werdegang. Wenn man diese Fragen stellt, erblickt man automatisch einen Menschen. Ich vergleiche nicht Siedler mit Selbstmordatten­tätern, aber es geht mir um ein ­verwandtes Wahrnehmungsmuster: Stecken hinter ihren Taten Menschen, die auch gute Menschen sein können? Zu ihren Kindern, zu ihren Frauen, zu ihren Nachbarn oder zur Natur? Das macht die Welt komplizierter, aber ich glaube, Literatur ist geeignet dafür, in die tieferen Strukturen des menschlichen Wesens und Handelns hineinzublicken. Aber ­natürlich, wenn am Ende des Tages mein Buch als siedlerfreundlich wahrgenommen wird, dann sträube ich mich dagegen. Das muss ich aushalten.

Über diese komplizierte Welt wird nun in den Friedensgesprächen geredet. Sind die Siedlungen ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden?

Das kann ich nicht beantworten. Die Vergangenheit lehrt Verschiedenes: Die Siedlungen wuchsen ungehindert, daran konnte – oder wollte – noch kein israelischer oder amerikanischer Präsident etwas ändern, auch nicht die Uno, auch nicht die EU. Sie wachsen weiter. Auf der anderen Seite hat man immer wieder Überraschungen erlebt. Zum Beispiel Sharons Rückzug aus dem ­Gazastreifen 2005. Niemand konnte das voraussehen. Vielleicht wird ­jemand dasselbe mit der Westbank tun. Vielleicht kocht Netanyahu das gerade aus, und vielleicht hat auch Obama mehr Einfluss, als alle meinen. Man sollte sich nicht bequem in der Annahme einrichten, dass es so weitergehen wird und Menschen dort weiterhin ohne Grundrechte ­leben müssen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 27.09.13

Fehler korrigiert am 28.9. dank Leserhinweis: Westlich des Jordans, nicht östlich.

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