«Melancholie – dieses Gefühl hat wahnsinnig viel mit der Schweiz zu tun»

Als Poetry-Slammer hat er alles abgeräumt, was es an Preisen gibt. Nun präsentiert Gabriel Vetter sein erstes Theaterstück. «Der Park» wird am Freitag uraufgeführt.

(Bild: Nils Fisch)

Als Poetry-Slammer hat er alles abgeräumt, was es an Preisen gibt. Nun präsentiert Gabriel Vetter sein erstes Theaterstück.

Am 19. April steht im Theater ­Basel die Premiere seines allerersten Theaterstücks an, und gerade eben hat er seine neueste CD getauft: Gabriel Vetter tanzt im Moment auf verschiedenen Bühnen und macht sich seine Gedanken zu den unterschiedlichen Rollen, die er inne hat. Im Gespräch – geführt im Unternehmen Mitte, weil die Theaterkantine dem theatereigenen Hausautor zu wenig gemütlich war – dreht sich einiges um Grosis, um eine neue Sicherheit beim Schreiben und darum, weshalb die Melancholie eine Schweizer Erfindung ist.

Sie sind am 8. März 30 Jahre alt geworden, am 19. April feiert Ihr erstes Theaterstück Premiere: Was macht Sie nervöser?

Die Premiere, auf jeden Fall. Mit der Zahl 30 hab ich mich schon fast ein bisschen abgefunden. Ich bin grad hierhergelaufen mit Musik im Ohr, Jay-Z «30 is the new 20, I’m so hot still». Und hab gedacht, sehr gut, das passt.

Aber wenn man als Slam-Poet 30 wird, ist das nicht so eine Marke, wo man sagt, ui, jetzt wirds langsam kritisch?

Doch, da wird man erschossen (lacht). Nein, ich glaube, man hört irgendwann einfach auf. Das liegt aber weniger am Alter als an der Halbwertszeit, die man als Slammer hat. Mehr als zehn Jahre sollte man das vielleicht nicht machen.

Gabriel Vetter (30) ist eine der prägendsten Figuren des Poetry-Slams in der Schweiz. Seine Karriere begann im Souvenir-Shop seiner Mutter in Stein am Rhein, wo er die ersten Texte schrieb. Im Nu eroberte er erst die Schweiz, dann den gesamten deutschsprachigen Raum. Mit 22 gewann er als jüngster Preisträger überhaupt den «Salzburger Stier». Wenn er nicht auf der Bühne steht, schreibt er Zeitungsartikel, Hörspiele oder ist mit seiner Satire-Sendung «Vetters Töne» auf Radio SRF 1 on air. Er wohnt in Basel, Winterthur und Florenz, zuhause ist er aber in der Sprache. Oder wie er sagt: «In allem anderen bin ich Analphabet.»

Sein drittes Soloalbum ist am 9. März erschienen:

(Bild: zVg)

«Vive la Résidence!», 28.–, ISBN 978-3-905825-50-3.

So lange sind Sie ja schon dabei, also ist es wirklich Zeit für Sie, eine andere Rolle für sich zu finden. Seit letztem Herbst sind Sie Hausautor am Theater Basel. War das ein Ziel, das Sie vor Augen hatten?

Nein, gar nicht, das hat sich einfach so ergeben. Als ich vor acht Jahren angefangen hatte, Theaterwissenschaften zu studieren, habe ich mir schon auch überlegt, dass es interessant wäre, selber für’s Theater zu schreiben. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie das geht. Nun bin ich so reingerutscht. Ich war auch sehr überrascht über die Anfrage. Und ich hab einfach ja gesagt.

Ein Theaterstück ist wohl anders zu schreiben als ein Text für einen Slam. Klappte die Umstellung gut?

Das ist total anders, ja. Davor hatte ich auch Angst. Ich glaube aber, es kam in meiner Entwicklung, was das Schreiben betrifft, für mich zu einer sehr guten Zeit. Saulang habe ich so Fünf-, Zehn-Minuten-Texte geschrieben, ein einziges Mal ein etwas längeres Hörspiel. Mich interessierte nun vor allem, ob ich es schaffe, einen dramaturgischen Bogen zu spannen, der über mehr als eine Stunde geht und mit mehr als zwei Charakteren funktioniert. Die Chance war relativ gross, dass das überhaupt nicht klappt. Ich wusste gar nicht, wie anfangen. Also habe ich zuerst einmal sehr lange zum Thema recherchiert. Dann irgendwann die ersten Dialoge zu schreiben versucht. Und es wurde schnell klar, dass das zum grössten Problem werden würde. Es ist sehr schwierig, die Handlung eines Stücks über die Gespräche zu erzählen. Die ersten Dialoge waren wirklich grausam – so pädagogisch erklärende Semiprosa irgendwie.

«Der Park» am Theater

Als Hausautor am Theater Basel hat Gabriel Vetter sein erstes Theaterstück «Der Park» geschrieben. Es feiert am 19. April auf der Kleinen Bühne im Schauspielhaus Premiere – und ist bereits ausverkauft. Tickets für die folgenden Vorstellungen können auf der Seite des Theaters bestellt werden.

Der Autor über den Inhalt: «‹Der Park› beschreibt eine Zukunftsvision von einem Europa, in dem nichts mehr produziert wird. Die Schweiz ist zu einer Art historischem Disneyland geworden. Eine Inspirationsquelle dafür war das Städtchen Stein am Rhein, dort gibt es die ­Jakob- und Emma Windler-Stiftung. Diese besass Sandoz-Gründeraktien, und nach deren Fusion zur ­Novartis waren diese plötzlich sehr viel Geld wert. Ein Zweck der Stiftung ist die Verschönerung des Stadtbildes. Also haben sie alte Häuser aufgekauft, renoviert und der Stadt geschenkt, Pflastersteine verlegt, das Schloss restauriert etc. Das Städtchen sieht heute aus wie eine Kulisse. Eigentlich ist der Novartis Campus gar nicht in Basel, sondern Stein am Rhein, weil die ganze Stadt ist quasi mit Geld von einem Basler Chemieunternehmen gebaut. Meine Mutter hatte mittendrin einen Souvenirladen, mit Reliefmagneten und jodelnden Murmelis. Das in Kombination mit der Privatisierung von öffentlichem Grund, ist die Grundlage für mein Stück.»

Bis jetzt standen Sie selber auf der Bühne und trugen Ihre Texte vor, jetzt schreiben Sie, und jemand anders steht auf der Bühne. Was ist das für ein Gefühl?

Das ist tatsächlich recht komisch. Einerseits, weil man den Text ja nicht direkt einem Ensemble gibt, sondern einer Regie, und man sich schon mal klarmachen muss, dass die es wohl nicht eins-zu-eins so umsetzen wird, wie man es sich vorgestellt hat. Das ist ja auch richtig so. Nur ist es wirklich sauschwierig, das einzusehen, dass man nicht der Kontrollfreak sein kann über alles. Das erlebe ich im Moment gerade. Ich komme mir vor wie eine Mutter, die ihr Kind das erste Mal allein in die Ferien schickt. Bei den ersten Proben habe ich mir auch prompt überlegt, ob ich einfach mal so ganz zufällig vorbeischlendern soll, so wie ein eifersüchtiger Ehemann, der Angst hat, dass die Partnerin im Hotel grad mit dem Liebhaber rumturnt. Das ist recht lustig, das zu merken, wie strub man wird, weil einem der Text so wichtig ist.

Ist die Abnabelung denn nun gelungen?

Ich glaube schon… Ich war noch gar nicht viel bei den Proben. Es ist wohl sogar besser, wenn man nicht dabei ist. Denn wenn man alle Änderungen mitverfolgen würde, die ja auch immer wieder verworfen werden, dann würde man wohl durchdrehen.

Haben Sie Angst, dass der Erfolg ausbleiben könnte?

Was heisst schon Erfolg? Im Theater? Gute Kritiken, viel Publikum? Ich habe mir das ehrlich gesagt gar nicht überlegt…

Anders gefragt: Bislang wurden Sie in den Medien und auch sonst immer sehr gelobt. Sie teilen auch gerne aus in Ihren Texten. Könnten Sie denn auch einstecken?

Keine Ahnung. Die Chance, dass Kritik kommt, ist ja relativ gross. Auch beim Slam. Ich merke zum Beispiel, dass ich nach acht Jahren auf der Bühne immer wahrgenommen werde als derjenige, der so lustige Texte macht. Das ist irgendwie seltsam, plötzlich ist man in dieser Schiene drin, und man kann machen, was man will, man bleibt einfach der Vetter, der lustig sein will. Natürlich ist das Lustige ein Teil von meinen Texten, aber es ist zum Beispiel auch so, dass in fast allen meinen Texten jemand stirbt – das hat jedoch noch selten jemand bemerkt. Beim Theaterstück nun passierte etwas während dem Schreiben, das mir eine gewisse Sicherheit gibt, wo ich gemerkt habe, ah, krass, doch, für mich funktioniert es. Ich kann jetzt nicht einschätzen, ob das Stück wirklich gut ist oder nicht, aber ich merke, dass ich gut schreiben kann. Das hatte ich so noch nie. Vielleicht ist diese Sicherheit aber auch vollkommen trügerisch… Trotzdem behaupte ich jetzt mal zu meinen, dass – selbst wenn die Kritiken total beschissen ausfallen sollten –, ich diese Sicherheit mitnehmen kann.

«Man kann machen, was man will, man bleibt einfach der Vetter, der lustig sein will.»

Gibt es ein theaterinternes Feedback?

Vor allem von der Dramaturgie bis jetzt, auch vom Regisseur Simon Solberg. Zuerst war da wirklich das Problem des Dialogschreibens, das behoben werden musste. Aber das suchte ich auch, denn ich bin auf jeden Fall mit einem klassischen Autorenstück-Ansatz ans Schreiben herangegangen. Es war mir wichtig, eine stringente Geschichte zu erzählen, mit identifizierbaren Figuren, Dialogen, Szenen. Ich kam mir mit diesem eher herkömmlichen Ansatz zeitweise auch recht naiv vor, sodass ich mir sogar mal überlegte, einen fast monologischen Fliesstext, eine Textfläche zu schreiben – das wäre mir wohl einfacher gefallen. Aber genau das wollte ich nicht, weil das wäre gewesen, als würde man bei einem Slam-Text unten rechts klicken und ihn einfach grösser ziehen.

Sehen Sie das Theater nun auch als Emanzipation von Ihrer Rolle als Slam-Poet?

Emanzipierung – das ist schwierig, weil ich gar nicht weiss, ob man sich von dieser Rolle emanzipieren muss. Ich habe ja immer neben dem Slam noch anderes gemacht, für Zeitungen geschrieben, fürs Radio gearbeitet oder sonst Sachen. Man muss sich wohl eher vom Bild emanzipieren, dass man diese lustigen, spöttischen Kurztexte macht, mit treffenden Alltagsbeobachtungen, die man in irgendwelchen Jugendkellern vorträgt. Aber das ergibt sich eh von selbst.

Sind Sie eigentlich regelmässiger Theatergänger?

Jetzt schon (lacht). Vorher war ich sehr selten im Theater, auch weil ich halt selber abends oft Auftritte hatte. Das ist übrigens etwas, was ich jetzt sehr schätze: Ich habe mir jetzt fast schon bürgerliche Bürozeiten angewöhnt und habe dafür abends frei – und eben Zeit, um etwa ins Theater zu gehen.

Haben Sie Überlegungen angestellt, was die Funktion des Theaters heute ist oder sein soll?

Na ja, ich hab mich nicht hingesetzt und mir ein Pamphlet überlegt. Ich finde es sehr wichtig, dass – gerade in einer Stadt wie Basel – ein Theater nicht nur zu einer Insel verkommt, wo nur Leute hingehen, die sich die Eintrittspreise leisten können. Ich habe mich zum Beispiel aber auch gefragt, warum ich vorher nie ins Theater ging. Und die lapidare Antwort lautet wohl: Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Das hat mich recht schockiert. Aber auch in meinem Umfeld ist das so. Und ich frage mich, warum. Ich glaube, und das ist vielleicht eine zu einfache Erklärung, dass es aber schon auch an den Eintrittspreisen liegt, oder an der Schwelle, die diese aufbauen. Wenn man aber den Anspruch hat, ein relevantes Theater zu machen für eine Stadt, mit einer Stadt, aus einer Stadt, dann funktioniert es so vielleicht nicht. Man kann nicht auf einer Bühne politisches Theater machen wollen und etwa von einer sozialen Schere erzählen, wenn im Publikum nur Leute sitzen, die sich 60-Franken teure Tickets leisten können. Das ist dann relativ unglaubwürdig.

Apropos leisten können, Gabriel Vetter mit seinem Text «Wir sind die 1%»:

 

Mit der Art der Inszenierungen hat es also nichts zu tun, dass die Leute ausbleiben?

Ich weiss nicht, was man machen müsste, dass mehr Leute kommen. Klar kann man Klassiker aufführen, aber ein Stadttheater muss ein Raum sein, wo auch neue Texte passieren können. Stücke sollten einfach etwas auslösen. Und, das muss jetzt auch mal gesagt werden: Die Besucherzahlen im Schauspiel sind diese Saison markant höher als die letzten Jahre. So gesehen hat das Schauspiel sicher schon etwas ausgelöst.

«Der Stoff hätte auch ein Slam-Text werden können, jetzt aber ist es ein Theaterstück.»

Ihr Stück ist etwas, was eindeutig von Ihnen kommt. Sie greifen Themen auf, die man auch aus Ihren Slams kennt, das Schweizbild etwa, agierende Tiere oder Utopien (mehr dazu in der Box).

Ich befasse mich mit diesem Thema seit Jahren und versuche schon lange herauszufinden, was die beste Form dafür ist. Es hätte auch ein Slam-Text daraus werden können, jetzt aber ist es ein Theaterstück.

Sie haben vorher gesagt, Sie würden als der Lustige wahrgenommen, Ihre Texte sind aber auch sehr politisch. Wollen Sie damit – oder auch mit Ihrem Theaterstück – eine Message transportieren?

Ich finds immer seltsam zu sagen, man will irgendeine Message transportieren. Ich würde jetzt beispielsweise auch nicht sagen, dass ich weiss oder drauskomme, was in Basel passiert. Oder was bei der UBS passiert ist oder bei Novartis. Ich gefalle mir besser in dieser Hofnarrenposition, in der man unverbindlich auf etwaige Missstände hinweisen kann. Das ist auch in meinem Stück so: Ich scheue mich, gewisse Sachen zu vermischen. Politische Kunst ist immer auch mit Kritik an der Politik verbunden. Das Problem ist dann, dass Unterhaltung und Politik zusammenkommen, und das finde ich sehr schwierig, weil man dann wiederum unter Zugzwang gerät, dass politische Kritik unterhaltsam sein muss. Und das finde ich gefährlich. Das merkte man zum Beispiel an den Bush-Jahren: Plötzlich übte jeder Künstler Kritik. Dasselbe gilt heute für das SVP-Bashing. Dann hört man das über Monate, Jahre hinweg, und plötzlich heisst es, ach, das ist doch megalangweilig. Ja, ok, aber das darf doch kein Kriterium sein, dass man seine Langeweile darüber entscheiden lässt, was politisch wichtig ist, diskutiert zu werden. Deshalb scheue ich mich zu sagen, ich mache politische Kunst.

«Ich scheue mich zu sagen, ich mache politische Kunst.»

Sie arbeiten viel mit Schlagzeilen aus den Medien – ist es so, dass die Politik dadurch automatisch in Ihr Programm kommt? Kommen Sie deshalb gar nicht drumherum?

Ja, klar. Wenn ich etwas interessant finde, dann nehme ich es mit auf. Mich interessieren aber die grösseren Zusammenhänge. Beim Theaterstück jetzt haben mich nicht irgendwelche Einzelschicksale interessiert, oder irgendeine Familiengeschichte, bei der die Charaktere psychologisiert werden – da findet man ja eh überall. Ich finde die Labor-Situation spannend: Man nimmt die Schweiz, schmeisst sie in eine Situation und schaut mal was passiert. Das macht grossen Spass. Das ganze Gebilde behände an die Wand fahren. Das macht für mich mehr Sinn, als ein Psychologisierungsstück zu schreiben.

Ein anderes Thema, das sich immer wieder findet in Ihren Texten, ist die Globalisierung. Sie selbst sind ständig unterwegs. Wohnen in Basel, Winterthur, Florenz – gibt es für Sie so etwas wie Heimat?

Ja, es ist zwar ein Allgemeinplatz, aber für mich stimmt er wirklich: Ich finde Heimat in Gesprächen, der Sprache und Büchern, oder bei Menschen. Es klingt blöde, aber es ist so. Heimat ist für mich nicht geographisch gebunden. Natürlich gibt es auch bei mir einen Wiedererkennungswert von Sachen, die ich als Kind gesehen habe. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, der Ort, in dem ich zur Schule gegangen bin. Aber bei mir hat Heimat mit Freunden, Menschen…(bricht ab, lacht und zitiert aus seinem Theaterstück: «Ich wollte immer schon etwas mit Menschen machen»). Kommunikation mit all meinen Freunden, auch mit meiner Freundin, die in Italien studiert, funktioniert immer über Sprache: Wir waren lange Zeit selten in derselben Stadt. Das einzige, was blieb, war also schreiben, skypen, reden. In allem anderen bin ich aber auch analphabetisch. Sprache ist, wo ich mich sicher fühle – was Heimat ja vermitteln sollte.

Gibt es einen bestimmten Grund, dass Sie Ihre Heimat in der Sprache gefunden haben?

Wie jedes Kind habe ich mich hinter Büchern versteckt. Ich habe aber auch relativ früh gemerkt, das Sprache eine gute Waffe ist. Um sich zu schützen, zu verteidigen, aber auch um anzugreifen.

Wobei es bei Ihnen oft mehr der Angriff als die Verteidigung ist…

…ich habe relativ früh gemerkt, dass ich Sprache so einsetzen kann, dass die anderen die Intention nicht sofort bemerken. Aber das ist sowieso der Grundansatz von jedem Hofnarr oder Satiriker: Du kannst Sachen so oder so benennen, mit einem Gestus bringen, dass du gerade noch damit durchkommst.

Was wiederum dazu führt, dass Sie in Ihren Programmen wiederkehrende Figuren und Themen haben: Es gibt zum Beispiel den Föderalismus, Menschenrechte, aber auch Tiere oder das omnipräsente Grosi. Woher kommt das?

Tiere sind einfach sehr gute Platzhalter für den Menschen. Es ist eleganter, wenn du einen Iltis nimmst statt deinen Nachbarn. Die Verfremdung durch irgendwelche absurden Viecher macht für mich Sinn. Auch das Grosi ist ein Platzhalter, weil ich selbst nie eines hatte. Das Grosi ist die Projektionsfläche für die Sehnsüchte. Mein letztes Programm drehte sich eigentlich fast ausschliesslich ums Grosi, es ist eine Art Hommage, eine Liebeserklärung: Das Grosi hat immer alles im Griff, ist die Coolste. Sie ist meist stärker als alle anderen. Ich weiss gar nicht, ob ich so einen Text hätte schreiben können, wenn ich tatsächlich ein Grosi gehabt hätte.

«Ich weiss gar nicht, ob ich so einen Text hätte schreiben können, wenn ich tatsächlich ein Grosi gehabt hätte.»

Bei Ihren Texten weiss man nie, ist es erfunden oder autobiografisch. Erschaffen Sie sich so eine eigene Welt, die Heimat, die Sie mit sich tragen?

Natürlich: Einerseits erschaffe ich mir Heimat, andererseits aber auch eine Welt. Es ist immer Verhandlungssache, was man als Realität anschaut. Du kannst irgendetwas behaupten, du musst es nur gut genug behaupten, so dass es auch die anderen als Realität betrachten – und das macht die Sprache.

Aber wie viel steckt in Ihren Texten tatsächlich von Ihnen drin?

Echt ist für mich alles, worauf wir uns einigen, dass es echt ist. Bei mir in den Texten ist, ganz pragmatisch gesagt, gar nichts von mir drin. Was natürlich überhaupt nicht stimmt, aber ich meine es. Ich habe ein, zwei explizit biographische Texte geschrieben. Aber meine sonstigen Texte haben insofern wenig mit mir zu tun, dass ich nie zugeben würde, dass sie mit mir zu tun haben. Ich habe mal meine ersten Texte angeschaut: Es geht darin immer entweder um ein kleines Mädchen, einen Hamster oder eine Wurst, die etwas wollen, aber es nicht kriegen. Sie sind immer etwas quengelig, wäh, wäh, wäh. Irgendwann hab ich mir überlegt: «Fuck! Bin ich jetzt das?» – Aber nein, ich glaube nicht.

«Was bleibt später noch vom Grosi? Für mich war klar: dieses Huhn zum Beispiel, das wir gerade gegessen haben.»

Schade, viele Männer dürften sich wohl – nach dem Hören von «The Big Lebauchski» auf der neuen CD – freuen, dass sie nicht die einzigen sind, die sich für ihren Bauch rechtfertigen müssen.

Nein, jener Text ist eher wieder vom Grosi her gekommen. Es ist alles auch nur erfunden, aber der Anstoss kam aus einer realen Situation. Wir waren vergangenen Sommer beim Grosi meiner Freundin und sie kocht, wie halt ein Grosi kocht: Grossartig! Du hockst da und bist im Himmel. Wir haben uns dann später darüber unterhalten – sie ist relativ alt – was bleibt dann später noch von ihr. Und da war für mich klar: dieses Huhn zum Beispiel, das wir gerade gegessen haben. All meine Erinnerungen an dieses Grosi haben mit Essen zu tun. Warum geht man zum Grosi? Man geht essen – zum Zmittag, zum Znacht oder sonntags zum Zvieri. Der Text sollte etwas werden, auf das man sich einigen kann, etwas, das nicht einfach verschwindet. Bei der Sprache ist das ja immer die Gefahr, aber mit dem Essen hast du etwas Konkretes, etwas Fassbares, das bleibt: Hier, dieses Fett auf der Flanke. «The Big Lebauchski» ist der Versuch, etwas Theatralisches zu verfleischlichen.

Sie sind viel in der Schweiz unterwegs, aber auch im Ausland. Sehen Sie sich als Schweizer, als moderner Nomade oder doch als Thurgauer?

Ich weiss nicht so genau. Es hängt – glaube ich – damit zusammen, wo man gerade ist. Ich merke einfach, dass ich damit kokettiere, anders zu sein: Wenn ich in Basel bin, spiele ich die Rolle des Ostschweizers; in der Ostschweiz denjenigen, der in der Kulturstadt Basel wohnt; im Ausland werde ich zum Schweizer; in der Schweiz zu jenem, der immer im Ausland ist. Es sind viele Rollen, ich würde mich nicht auf eine festlegen. Habe mir auch nie überlegt, ob ich mich als Schweizer sehe. Wohl ja, aber man müsste sich fragen, was das heisst.

Was heisst es denn?

(lacht) Keine Ahnung, ich weiss es nicht.

Ihr Stück «Das Herz der Schweiz» auf der neuen CD widmet sich der Direkten Demokratie (im nachfolgenden Video zu sehen). Dass man in der Schweiz immer über alles abstimmen muss, selbst darüber, was ein Mensch ist.

Vielleicht ist das ein guter Ansatzpunkt für die Frage vorher. Das Grundgefühl, das ich im Theaterstück vermitteln wollte, war Melancholie, ein gewisse Sehnsucht. Dieses Gefühl hat wahnsinnig viel mit der Schweiz zu tun. Dieses Sich-Sehnen nach etwas, Heimweh-Haben nach etwas, das es gar nicht gibt, gar nie gegeben hat oder von dem man nicht weiss, was es ist. Ich habe während der Recherche herausgefunden, dass die Melancholie eine Schweizer Angelegenheit ist. Was ja mega lustig ist. Das erste Mal, dass die Melancholie auftaucht, da hat man sie noch Schweizer Krankheit genannt. Keine Ahnung, ob es wirklich genau so stimmt, aber die Söldner, die – glaube ich – für Napoleon gekämpft haben, sind alles stramme, krasse Kerle gewesen. Blutrünstig, stark, die härtesten Söldner halt. Plötzlich wurden die aber alle krank. Keiner wusste warum. Irgendwann stellte man fest: Ah, die haben Heimweh. Dann hat man sie tatsächlich auf Türme gestellt. Man dachte es sei die Höhenluft, die ihnen fehlt. Irgendwann fanden die Leute: Wenn diese härtesten, blutrünstigsten, krassesten Kerle plötzlich einknicken und sich nach einem Ort sehnen, was muss das für ein wahnsinnig schöner und toller Ort sein. Ich glaube, dieses Gefühl von damals ist heute das Grundkapital von unserem Fremdenverkehr: Dieses Gefühl, das gar nicht von den Schweizern kam und kommt, ist eine Projektion von den Leuten, die nur von der Schweiz hören. Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Strindberg-Ausstellung in der Bibliothek der Uni Basel. Strindberg schreibt, wie wundervoll, grossartig – das schönste Land überhaupt – die Schweiz sei. Nach drei Jahren hat er über alle geflucht und ist gegangen. Ich glaube, diese Sehnsucht nach irgendetwas, aber nicht genau wissen nach was, macht den Schweizer aus.

Melancholie, das klingt ja schon sehr schweizerisch: mit dem CH und dem LI am Schluss.

(Lacht) In meinem Stück kommt diese Melancholie auch immer wieder vor. Beispielsweise in der Anfälligkeit auf Leuchtkörper: Sterne, Kerzen, Sonne, Mond, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Liechtli – das hat alles etwas sehr Melancholisches, sehr Schweizerisches. Dieses: «Ah lueg, d Sunne goht under.»

Lassen Sie uns noch einen Schritt weiter ins Innere des Landes machen: Sie haben kürzlich in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» Basel durchwegs positiv beschrieben. Aber dennoch sei auch nach Jahren eine Fremdheit geblieben. Warum?

Ich weiss es nicht. Es ist so eine Art Grundgefühl. Das ich aber lustigerweise inzwischen auch in Schaffhausen habe. Es ist schwierig zu beschreiben: Irgendetwas ist so ein bisschen verschoben, seltsam – ein diffuses Gefühl. Ich bin ja in Basel inzwischen zuhause, auch wenn ich mehrheitlich in Winterthur wohne. In Basel habe ich die meisten Freunde, kenne die Stadt inzwischen am besten, besser als Schaffhausen. Doch, vielleicht bin ich Basel wirklich inzwischen zuhause. Was aber wohl wiederum mit den Leuten zu tun hat, mit den Gesprächen.

Aber das Fremdheitsgefühl ist trotzdem noch da?

Ja, irgendwie. Einmal dachte ich, ich könnte es daran deutlich machen, wie ich durch den Bahnhof laufe. Wenn ich in Schaffhausen durch den Bahnhof gehe – das klingt jetzt so pseudo-esoterisch – läuft man nicht ständig in Leute hinein, man ist so im «Flow» dieser Leute. In Basel komme ich an und es geht los: Von links, von rechts, von hinten , von vorne – ständig läuft man in irgendjemand fast hinein. Die ganze Zeit! Vielleicht hat es auch mit der blöden Architektur zu tun. Man ist zu schnell, zu langsam – man bekommt irgendwie das Gefühl, nicht in den Fluss dieser Stadt zu passen.

«In Basel komme ich an und es geht los: Von links, von rechts, von hinten , von vorne – ständig läuft man in irgendjemand fast hinein. Die ganze Zeit!»

Sie haben vorhin gesagt: Schweizer sein bedeutet, sich nach etwas Sehnen. Der Historiker Philipp Sarasin schrieb neulich, dass Schweizersein aus dem Blick des Schweizers selten gut wegkommt. Könnten Sie sich ein Schweizersein vorstellen, dass Ihnen mehr entspricht?

Ich kann mir keine Utopie vorstellen, zu der es keine Gegenposition gibt. Um nochmals aufs Theaterstück zurückzukommen: Die Utopie, in der es allen gut geht – alle in der Neutralität leben, alle haben ihr Grundeinkommen – basiert dort auf dem Erfolg eines Unternehmens, das Landminen und Beinprothesen verkauft. Eine Utopie – etwas extrem Positives – fusst für mich also immer auf etwas Negativem. Ich weiss deshalb nicht, ob ich mir wirklich eine Utopie herbeiwünschen soll.

Es könnte ja nicht nur darum gehen, dass wir als Schweizer glücklich sind, sondern wahrhaftig. Weg von diesem Schweizersein als Täuschung, die Sie vorhin beschrieben haben.

Was wäre denn dieses Wahrhaftige? Ich glaube nicht daran, dass es etwas gibt, das wahrhaftig ist. So gesehen kann man auch nicht danach streben. Es ist immer Verhandlungssache, was echt ist oder eben wahrhaftig. Vielleicht ist es genau das, was die Schweiz ausmacht: Wir zerreissen uns in unserer Direkten Demokratie darüber, was echt und recht ist. Was gilt und was nicht. Vielleicht ist das der Kern: Dieser Versuch, das Wahre, Echte zu finden, aber gleichzeitig genau zu wissen, dass es das nicht gibt. So gesehen wäre es bereits eine ideale Situation.

Ist der Schweizer ein ewiger Zweifler in Ihrer Wahrnehmung?

Ouh… ich weiss nicht, ob der Schweizer einer ist. Ich bins.

Sie spielen trotzdem immer mit Stereotypen: dem Deutschen, dem Schweizer, dem Österreicher. Wie ist denn Ihr Schweizer, so wie er in Ihren Stücken vorkommt?

Ich würde nicht sagen, dass ich ein Bild vom Schweizer habe, das ich klischiere. Ich habe mir das aber auch nie überlegt, was der typische Schweizer ist. (Pause) Hab ich mir echt nie überlegt, lustig. Vielleicht müsste man sich überlegen, was ein schweizerisches Attribut ist. Das wäre ein Versuch.

Welches wäre eines?

Eines ist sicherlich – um auch den Gedanken von vorhin nochmals aufzunehmen – diese Beschäftigung mit dem Land, dem Volk oder sich selbst. Der Schweizer ist ein huere Narziss. Es geht immer um dieses Spiegeln der Erwartungen anderer. Ums Theater spielen. Ich vergleichs gerne mit Schaffhausen: Wenn im «Tages-Anzeiger» etwas über Schaffhausen steht, steht am nächsten Tag in den «Schaffhauser Nachrichten», dass im «Tagi» etwas über Schaffhausen gestanden hat. Man will immer wahrgenommen werden von dem, das grösser ist. Das ist mit der Schweiz dasselbe: Man will von aussen wahrgenommen werden – und das am liebsten gut. Die Schweiz kann nicht damit umgehen, wenn sie nicht wahrgenommen wird. Sie ist ein wenig wie ein narzisstisches Einzelkind. Oft.

«Der Schweizer ist ein huere Narziss.»

Klingt, als ob die Schweiz einen Geltungsdrang hätte und gleichzeitig die Sehnsucht nach etwas, das es nicht gibt. Keine nette Umschreibung…

Aber ist das so schlecht? Es hat doch etwas Rührendes.

Haben Sie denn Frieden mit dem Schweiz-Sein?

Frieden? Nein. Aber ich glaube, den hätte ich auch nicht, wenn ich Österreicher, Lette oder sonst was wäre.

Brauchen Sie dieses Zweifeln, um sich überhaupt die Gedanken zu machen für Ihre Stücke?

Ja, klar.

Alles Positive baut auf etwas Negativem auf, haben Sie vorhin gesagt. Ist das Zweifeln der Preis für die erfolgreiche Karriere, die Sie bisher hatten?

Nein, ich glaube eher, meine Karriere ist das Resultat davon.

«Jetzt also Grandseigneur. Oha!»

Sie sind gerade eben 30 geworden. Ihr Verlag nennt Sie bereits jetzt «den Grandseigneur des Poetry Slam»…

Was? Ehrlich?

Hier – sehen Sie – die Pressemitteilung zu Ihrer Live-CD.

Ist ja grossartig! Als ich mit Poetry Slam angefangen habe vor zehn Jahren, bin ich die ersten sechs Jahre als Shooting-Star durch die Medien gereicht worden. Und dann – wirklich ohne zu übertreiben – von einem Tag auf den anderen schrieb jemand: der Veteran des Poetry Slam. Jetzt also Grandseigneur. Oha!

Wo sehen Sie sich mit 40 Jahren?

Das will ich gar nicht wissen (lacht). Aber echt. Ist ja grossartig, diese Kombination von Grandseigneur und Poetry Slam. Zauberhaft. Die Kombination dieser Worte ist an sich schon so dermassen wunderbar lächerlich, dass man das doch alles gar nicht ernst nehmen kann.

Aber trotzdem, Grandseigneur Vetter, nochmals die Frage: Wo stehen Sie in zehn Jahren?

Wahrscheinlich werde ich immer noch schreiben. Ich kann nicht viel anderes. Vielleicht schreib ich ein Buch, wer weiss. Oder anders gesagt, wenn ich ausnahmsweise mal blumig werden darf:

(Für alle Offline-Leser, die verkürzte Antwort: Ich merke, dass ich, wenn ich ausnahmsweise mal blumig werden darf, in diesem Dorf, das die Sprache ist, jetzt mein Haus gefunden habe. Ich muss es aber noch renovieren. Die Bausubstanz ist zwar gut, aber das Bad muss neu geplättelt werden.)

(Bild: Nils Fisch)

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