«Musik darf nichts Gleichgültiges sein»

Er hat das Stimmen-Festival gegründet und zum grössten Open-Air-Happening der Dreiland-Region gemacht: Helmut Bürgel. Jetzt steht er vor seinem letzten Festival als Direktor. Und spricht im Interview über Sonderwünsche, Stars, Sinnlichkeit und Sinneswandel.

Engagierter Gastgeber im eindrücklichen Burghof: Helmut Bürgel hat der Kulturstadt Lörrach seit 1992 eine starke Stimme verliehen. (Bild: Michael Würtenberg)

Er hat das Stimmen-Festival gegründet und zum grössten Open-Air-Happening der Dreiland-Region gemacht: Helmut Bürgel. Jetzt steht er vor seinem letzten Festival als Direktor. Und spricht im Interview über Sonderwünsche, Stars, Sinnlichkeit und Sinneswandel.

Es ist ein sonniger, freundlicher Tag, als wir in Riehen die Grenze passieren und ins Zentrum von Lörrach fahren. Die meisten Basler machen das samstags, des schönen Marktes wegen. Bald aber werden diese erwünschten Grenzübertretungen auch an anderen Wochentagen zunehmen. Der Grund: Das 19. Stimmen-Festival vom 11. Juli bis am 6.August steht an. Ins Leben gerufen wurde es von Helmut Bürgel. Vor 20 Jahren zog es ihn von Singen nach Lörrach, wo er das Amt des Kulturreferenten antrat.

Bürgel war gekommen, um zu bleiben, um Grenzen zu sprengen – und um Lörrach kulturell eine Stimme zu verleihen: 1994 lancierte er das Stimmen-Festival, das jeden Sommer während mehrerer Wochen stattfindet und mit über 30 000 Besuchern längst zum grössten Musikfestival der Region gewachsen ist.

Grenzen hat Bürgel nicht nur stilistisch gerne überschritten – er, der von korsischen Chorgesängen ebenso begeistert ist wie von Soulstimmen oder Singer-Songwritern –, sondern auch geografisch: Indem er mit dem Festival auch Bühnen in der Schweiz und im Elsass bespielt und so Grenzen abbbaut. Jetzt tritt der Gründergeist kürzer, steht vor seinem letzten Festival, ehe er den Stab an seinen Nachfolger Markus Muffler übergeben wird. «Er teilt mit mir die Leidenschaft für die Musik, ich glaube, das Dossier ist in guten Händen», sagt Bürgel, dem der Schritt nicht leichtgefallen ist.

Helmut Bürgel, Sie stehen vor dem 19. Stimmen-Festival, dem letzten unter Ihrer Leitung. Weshalb geben Sie den Stab ab?

Helmut Bürgel: Ich habe das Gefühl, dass ich als Festivalmacher alles gesagt habe, was ich sagen kann. Ich war privilegiert, habe einen sehr grossen Freiheitsspielraum genossen, konnte immer das Programm machen, das ich mir wünschte. Aber obschon ich immer viel Neues entdeckt habe, gibt es den Aspekt der Wiederholung. Und den möchte ich vermeiden.

Welche Rolle spielte in diesem Prozess Ihre Erkrankung? Vor zwei Jahren mussten Sie pausieren, das Festival ging damals ohne Sie über die Bühne.

Die Entscheidung aufzuhören hatte ich schon vorher gefällt. Aber durch die Krankheit veränderten sich auch meine Werte – und mein Bewusstsein für die Endlichkeit von allem.

Auch Ihre eigene Endlichkeit?

Ja. Ich möchte eigentlich nicht darüber reden. Sagen wir es so: Ich bin einfach nur froh, dass ich noch am Leben bin.

Das sind auch wir. Sie haben als Kulturreferent in Lörrach ein Festival und ein Mehrspartenhaus, den Burghof, aufgebaut. Und sich auch mit vollem Einsatz als Kurator eingebracht. Stehen Sie deshalb dem Baselbieter Kulturverantwortlichen näher als der Stadt Basel?

Niggi Ullrich und ich sind da sicher ähnlich, ja. Wir haben beide ein Zitat von Christoph Vitali verinnerlicht, der, als er noch Kulturreferent in Zürich war, sagte: «Man muss sich die Hände schmutzig machen.» Dieser Satz hing lange Zeit in meinem Büro. Natürlich kann man den Job eines Kulturreferenten auch verwalten, aber heute, wo Kreativität aus allen Löchern spriesst, reicht das nicht. Man muss immer auf Empfang sein. Und kann deshalb den Job auch nur eine gewisse Zeit lang machen, weshalb ich immer dafür plädierte, dass man mir eine gewisse Macht gibt, aber nur auf beschränkte Zeit.

Diese Machtkonzentration löste aber auch Misstrauen aus.

Ja, doch konnte ich die meisten Leute davon überzeugen, dass ich das Vertrauen nicht missbrauchte. Manche Kritiker aus der Anfangszeit sagten später: «Lasst den Bürgel machen, der braucht diese Freiheit.»

Auf welchem Parkett haben Sie denn die grössten Kämpfe ausgetragen?

Auf dem politischen. Für eine Stadt wie Lörrach wäre es einfacher gewesen, ein Haus wie den Burghof hinzustellen und zu vermieten – ohne ein inhaltliches Konzept. Ich vertrat aber von Anfang an die Meinung, dass man in diese prächtige Hülle, die alles andere als eine Schuhschachtel ist, auch kein Schuhschachtel-Programm hineinplatzieren darf. Dagegen habe ich immer wieder angekämpft. Mit dem Argument: Das Besondere bekommt man nicht geschenkt. So bin ich froh, dass wir uns durchsetzen konnten. Denn ansonsten wäre Lörrach im Vergleich zu anderen, nicht nur gleich grossen Städten, ein Stück austauschbarer.

Wobei nicht nur der Burghof, sondern gerade auch das Stimmen-Festival Lörrach über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hat.

Ja. Noch bevor der Burghof gebaut wurde, fragte ich mich: Wo sollen denn all die Leute herkommen? So entstand die Idee mit dem Festival. Und auch da suchte ich nach etwas, das nicht austauschbar ist. Wollte den Gesang ins Zentrum rücken, die Stimmen, die uns so berühren können. Für mich war klar, dass bei einem Festival die Musik nichts Gleichgültiges sein kann, sondern mich bewegen sollte.

Jetzt, wo Sie den Stab abgeben, können Sie es ja sagen: Welches Konzert hat Sie gleichgültig gelassen?

Alle, die zu laut waren, und Künstler, die dachten, mit Laustärke, mit Technik ihr Publikum gewinnen zu können. Und die sind gar nicht so selten. Auch bei Stimmen nicht.

Das unvergesslichste Konzert?

Gab es einige. Johnny Cash, der bei uns sein Spätwerk «American Recording» vorstellte. Bob Dylan. Allen voran aber Leonard Cohen. Er kam – im Unterschied zu den anderen Stars – für den Soundcheck selbst auf die Bühne. Am helllichten Tag, als der Marktplatz für das Konzert noch gar nicht abgesperrt war. Cohen begann mit seiner Band zu spielen, viele Passanten kannten ihn gar nicht, waren aber von der Musik sofort tief berührt und hörten zu. Am Ende standen da 2500 Leute – und kamen in den Genuss eines Gratiskonzerts von Leonard Cohen. Weil das auch uns so faszinierte, vergassen wir, den Weg zur Garderobe abzusperren, sodass sich Cohens Bodyguard fragte: «Mit was für Dilettanten haben wirs hier eigentlich zu tun?» (lacht)

Cash, Cohen, Dylan: Sie haben viele Grössen nach Lörrach gebracht, als noch nicht jede andere Stadt versuchte, ebenfalls im Festivalzirkus mitzumischen. Hat Sie die zunehmende Konkurrenz und Preisspirale nie ernüchtert?

Das ist eine gefährliche Frage.

Warum?

Weil ich auf keinen Fall sagen will, dass früher alles besser war.

Aber es war doch früher bedeutend anders, preisgünstiger, einfacher, einen Bob Dylan engagieren zu können?

Ja, klar. Bob Dylan hat 2001 hier gespielt. Vor einem Jahr fragten wir wieder an, boten das Dreifache der damaligen Gage. Und erhielten die lapidare Antwort: «Herr Dylan schätzt Angebote wie dieses nicht.» Und zwar, weil wir offenbar viel zu wenig Geld boten.

Das ist ziemlich ernüchternd.

Naja, das ist die Realität. Man kriegt jeden grossen Künstler, wenn man genügend Geld auf den Tisch legt. Wobei ich überzeugt bin, dass Bob Dylan davon gar nichts mitkriegt, sondern allein seine Agentur, sein Management darüber entscheidet.

Ein Ende der Preisspirale ist also nicht abzusehen?

Leider nein. Selbst in der World Music sind die Gagen in den letzten fünf Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Und auch die Forderungskataloge haben stark zugenommen. So erhielten wir etwa von einer kolumbianischen Rockband einen technischen Rider, den ich so von den Rolling Stones erwartet hätte. All die technischen Sonderwünsche, das glaubt man gar nicht. Das nimmt mittlerweile absurde Züge an: Unzählige Male Mails werden hin- und hergeschickt, über Details wird gestritten – und am Ende taucht dann ein Tourmanager auf, der den technischen Rider seiner Agentur selber noch gar nie gesehen hat.

Die Agenten und Manager nehmen sich immer wichtiger?

Leider, ja. Als Veranstalter ist man ganz am Ende der Kette – und versucht, das bestmögliche zu machen.

Welche Sonderwünsche brachten Sie am meisten ins Schwitzen?

Naja, es kam vor, dass wir eine Liste erhielten, auf der nebst unzähligen technischen Anforderungen auch geschrieben stand, welche Drogen wir bereitstellen sollten.

Und was haben Sie da jeweils gemacht? Sich ins Auto gesetzt und sind nach Amsterdam gefahren?

Nein, nein. Ich antwortete stets: «Besorg dir dein Zeug selber.» Oder nett formuliert: «Everything we do is according to german law.»

Wer Sie kennt, weiss, dass Ihre grosse Leidenschaft den Entdeckungen und Vernetzungen gilt. Sind die grossen Marktplatzkonzerte ein Vehikel? Weil Sie damit Publizität und Sponsorengelder erhalten, die überhaupt erst die Stimmen-Experimente ermöglichen?

Es war immer schon so, dass wir mit dem Überschuss der Marktplatzkonzerte unsere Abenteuer finanziert haben. Auf dem Marktplatz entscheidet das Geld, da müssen wir uns nichts vormachen. In diesem Jahr tritt die Französin Zaz auf. Wir hätten sie vor einem Jahr schon engagieren können. Aber da war mir das noch ein zu gros-ses Risiko, weil wir kurz zuvor den französischen Rapper Abd al Malik auf der Bühne hatten, der etwa vergleichbar bekannt war – uns aber, trotz des grossartigen Konzerts, einen grossen Verlust bescherte. Also wollte ich noch etwas zuwarten, bis Zaz auch im deutschsprachigen Raum bekannter war. Jetzt zahlen wir zwar eine bedeutend höhere Gage, aber ich bin zuversichtlich, dass sie vor 5000 Zuschauern singen wird.

Mit anderen Wort: Das Zaz-Konzert wird ausverkauft sein?

Ich glaube schon, ja. Was nicht heisst, dass das Konzert – hätten wirs 2011 durchgeführt – nicht auch mit 2000 Besuchern ein Erfolg geworden wäre. Aber leider ist es so, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Marktplatzkonzerte nur erfolgreich laufen, wenn sie ausverkauft sind. Die Masse zählt. Dabei war eines der schönsten Konzerte für mich im Lörracher Rosen-felspark. Die Leute sassen im strömenden Regen und waren total begeistert, weggetragen von Mercan Dedes Konzert …

… das war 2006, als Sie auch einige Konzerte im Münchensteiner Walzwerk durchführten. Dort, wo einst türkische Gastarbeiter malochten, spielte der Istanbuler Perkussionist Burhan Öçal. Ein tolles Konzept. Dennoch haben Sie solche Länderschwerpunkte aufgeben müssen. Waren diese zu aufwendig?

Nein, es war gar nicht vorgesehen, in jedem Jahr einen Länderschwerpunkt fest zu installieren. In diesem Jahr etwa kreisen mehrere Abende um die Orpheus-Thematik. Dem ging eine jahrelange Sammlung voraus, das ist fast noch aufwendiger, als nach Istanbul zu reisen und nach zwei Wochen mit einer Handvoll spannender Engagements zurückzukehren.

Was werden Sie machen, nachdem Sie in diesem Jahr Ihre Schlüssel an Ihren Nachfolger Markus Muffler abgegeben haben?

Lachen. So viel lachen wie möglich.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.06.12

Nächster Artikel