Ilhan Saygili steht seit 25 Jahren im diplomatischen Dienst der Türkei, er ist das, was man einen Karrierediplomaten nennt. Ein Mann ohne Parteibuch, ohne klar zuordenbare politische Präferenzen, der dem einen Herrn dienen kann und dann dem nächsten – ohne dass Verrenkungen sichtbar würden.
Seit acht Monaten vertritt Saygili die Türkei als Botschafter in der Schweiz, davor fungierte er als Chef-Berater des türkischen Aussenministers. Zum Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei öffnet seine Botschaft die Pforten für Schweizer Medien, auch die TagesWoche wird eingeladen. Saygili stellt eine Bedingung vor dem Interview: Er will die offizielle Sicht auf den Putschversuch wiedergeben.
Herr Saygili, vor exakt einem Jahr versuchten Teile der türkischen Armee die Regierung zu stürzen. Was bedeutet der gescheiterte Putschversuch für Sie?
In jener Nacht erlitt die türkische Nation ein schweres Trauma. Eine Terroristengruppe, die in den letzten 30 bis 40 Jahren die ganze Staatsinfrastruktur infiltriert hat, wollte das Land unter ihre Kontrolle bringen. Die Putschisten wollten die gewählte türkische Regierung mit Panzern und Flugzeugen stürzen. Und sie bombardierten das türkische Parlament und den Präsidentensitz. Dabei töteten sie 250 unschuldige Menschen und verwundeten mehr als 2000. Dieser Coup d’État ist einzigartig und wird in unserer Geschichte einzigartig bleiben. Wir werden für immer an die Opfer denken und dafür organisieren wir die Events, auch hier in der Botschaft.
Wie erlebten Sie diese Nacht?
Ich war damals Chef-Berater des Aussenministers. Als ich am Abend des 15. Juli von Samsun nach Ankara geflogen und dort am Flughafen angekommen war, sah ich plötzlich Menschen herumrennen, sah Kampfjets am Himmel. Gerüchte machten die Runde, es sei ein Putsch im Gang, doch Genaues wusste ich nicht. Auf dem Heimweg hörte ich im Radio eine Ansprache des Premierministers, der die Gerüchte bestätigte. Ich rief dann den Aussenminister an, der mir erklärte, wie ernst die Lage war. Wir begannen dann sofort Lageberichte an Botschaften und unsere Kontakte im Ausland zu senden. Ich arbeitete die ganze Nacht durch.
«Journalisten, Polizeikommandanten, Richter arbeiteten wie in einer Bande zusammen.»
Die Türkei hat sich seit dem Putschversuch verändert. Es sind brutale Veränderungen, deren Opfer oft die eigene Bevölkerung ist. Ihre Regierung hat Bürgerrechte beschnitten, sie schikaniert Oppositionelle und kerkert sie ein, sperrt kritische Journalisten weg. Soll die Türkei so sein?
Diese Frage muss ich oft beantworten. Ich verstehe, dass sie gestellt wird – wir erwarten aber auch ein gewisses Verständnis für die Regierung und das türkische Volk. Was sich abgespielt hat vor einem Jahr, war kein Putschversuch von irgendwelchen Amateuren. Die FETÖ [eine angebliche, vom Prediger Fethulla Gülen geleitete staatsfeindliche Gruppierung, die Red.] ist eine terroristische Organisation, deren Mitglieder sich überall eingeschlichen haben. In alle Staatsstrukturen, inklusive meinem eigenen Ministerium. 23 Prozent der türkischen Diplomaten wurden entlassen. Tausende Offiziere hatten das Heer, die Marine und die Luftwaffe infiltriert. Auch der Rechtsapparat war betroffen: Ich will nicht von einer Mehrheit sprechen, aber ein wichtiger Teil der Staatsanwälte und Richter waren Mitglied. Auch Journalisten waren bei der FETÖ. Sie fälschten Beweise und sie kommunizierten miteinander über ein geheimes Kommunikationssystem.
Woher wissen Sie das?
Das haben wir herausgefunden. Journalisten, Polizeikommandanten, Richter arbeiteten wie in einer Bande zusammen. Zuerst fälschten sie Beweise, dann wurden Ermittlungen aufgenommen. Ständig übermittelten sie sich gegenseitig Informationen, um gewisse Personen ins öffentliche Rampenlicht zu stellen. Mit Journalismus hatte das nichts zu tun.
«Die Opposition darf Demonstrationen abhalten. Das ist Teil des politischen Systems.»
Das ist Ihre Sicht auf die Dinge. Hunderttausende, die letztes Wochenende auf die Strasse gegangen sind, bewerten das Vorgehen Ihrer Regierung anders.
Welche Demonstration meinen Sie?
Der Protestmarsch nach Istanbul, der von der Oppositionspartei CHP organisiert worden ist.
Ach die, ja das ist normal. Das gehört zur Demokratie. Niemand verbietet solche Märsche. Sie gingen rund 450 Kilometer zu Fuss und Tausende machten mit. Das Hauptthema dieses Marsches war Gerechtigkeit, weil ein Parlamentarier der Partei im Gefängnis sitzt. Dieser Fall ist ein bisschen kompliziert, weil dieser Politiker mutmasslich Informationen an den «Cumhuriyet»-Chefredaktor Can Dündar weitergegeben hat. Das war eine Art von Spionage…
…so stellen jedenfalls Sie das dar…
…und daher kritisieren die CHP-Anhänger das türkische Rechtssystem. Das ist Demokratie, sie dürfen marschieren. Und selbstverständlich kommentiert die Regierung mit eigenen Statements diesen Protest. Aber die Opposition darf solche Demonstrationen abhalten. Das ist Teil des politischen Systems.
«Wir sind im Ausnahmezustand, es geht um die Existenz der türkischen Demokratie.»
Sie entscheiden, wer demonstrieren darf und wer nicht. Andere Proteste werden brutal niedergeschlagen. Und die Erdogan-Regierung entscheidet auch, wer ein legitimer Journalist ist und wer nicht. Derzeit sind in der Türkei mehr Journalisten inhaftiert als in China. Können Sie sich eine Demokratie vorstellen ohne freie Presse?
Wir durchleben als Nation aussergewöhnliche Tage. Wir sind im Ausnahmezustand, es geht um die Existenz der türkischen Demokratie. Wir befinden uns im Kampf gegen eine Reihe von Terrororganisationen, die FETÖ ist nicht die einzige. Auch die PKK, die YPG, die THKP-C und der IS kämpfen gegen uns. Natürlich müssen wir unsere Staatsstrukturen von diesen Terroristen säubern. Und die Journalisten sitzen, wie ich sagte, nicht im Gefängnis aufgrund ihrer journalistischen Arbeit.
…doch das tun sie. Wenn Sie sich den Fall des deutschen «Welt»-Journalisten ansehen…
…Sie meinen Deniz Yücel. Es gibt ernste Vorwürfe gegen ihn. Wenn er vor Gericht kommt, werden Sie verstehen, was er getan hat. Wir wissen noch nicht alles über den Fall, aber wir werden alles zu sehen bekommen.
Ilhan Saygili, darüber muss man sich keine Illusionen machen, hat auf jede kritische Frage zu den Zuständen in der Türkei eine Antwort parat. Doch die Repression zu spüren bekommen auch Menschen, die in der Schweiz zu Hause sind, die die unter dem Schirm von Ilhan Saygili leben. Dazu äussert sich der Botschafter in der ersten Videosequenz.
Kurdische Türken haben mir erzählt, dass sie der Botschaft nicht vertrauen.
Warum? Mein Kollege hier arbeitet beim Konsulardienst, und wir machen dort keinen Unterschied zwischen einzelnen Bürgern. Jeder kann herkommen. Alle sind gleichberechtigt. Wir schauen nicht auf ihre Herkunft, wir bieten allen den besten Service.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen türkischen Staatsbürger in der Schweiz verdächtigen, gegen die Regierung zu agieren?
Nachfragen über Personen, zu denen Ermittlungen von türkischen Justizbehörden geführt werden, übermitteln wir den Schweizer Behörden. So läuft dieser Prozess ab. Als Botschaft haben wir kein Recht, kriminelle Aktivitäten zu beurteilen.
Also sammeln Sie selber keine Daten oder Beweismaterial?
Nein, das tun wir nicht.
Erzählungen von Spitzeln, die für die türkische Regierung in der Schweiz operieren, gibt es viele. Beweisfest ist wenig. Dass in der Schweiz aber eifrig denunziert wird, räumt Saygili in der zweiten Videosequenz ein.
Jedenfalls gibt es tiefe Gräben innerhalb der türkischen Gesellschaft, sowohl in der Türkei als auch in der Schweiz. Es gibt keinen Dialog mehr zwischen den verschiedenen politischen und ethnischen Gruppierungen. Beunruhigt Sie das?
Es gibt in jeder Gesellschaft Leute mit grundverschiedenen politischen Ansichten. Das ist kein Phänomen in der Türkei alleine. So ist an vielen Orten ein Anstieg der Xenophobie festzustellen, solche Tendenzen gibt es in ganz Europa. Schauen Sie sich Österreich an, wo ein Ultranationalist fast die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. In der Türkei gibt es durchaus einen Dialog zwischen politischen Kontrahenten, terroristische Gruppierungen wie die PKK und FETÖ ausgenommen.
In der Schweiz, in Basel, gibt es kaum mehr einen Dialog, etwa zwischen kurdischen Aleviten und AKP-Anhängern. Was unternehmen Sie, um Ihre Landsleute zusammenzubringen?
Was sollen wir denn tun? Vor zwei Monaten habe ich eine alevitische Versammlung in Biel besucht. Wir hatten keine Probleme, uns miteinander zu unterhalten. Sie haben teilweise Kritik geübt, ich habe zugehört. Vor dem Referendum gab es Gespräche mit HDP-Politikern. Es stimmt nicht, dass es keinen Dialog gibt.
Also ist alles in bester Ordnung?
Das habe ich nicht gesagt. Die Türkei befindet sich in einem schweren Kampf gegen die PKK und gegen FETÖ. Natürlich schlägt sich das in den Köpfen der Leute nieder. Ich will nichts beschönigen. Aber geben Sie uns ein bisschen Zeit, es wird eine Entwicklung stattfinden.
Zum Schluss des Gesprächs kommen wir nochmals auf den Gedenktag zu sprechen. Und auf den Krieg in den kurdischen Gebieten im Osten der Türkei, wo in den letzten zwei Jahren mindestens 3000 Menschen getötet worden sind, darunter viele Soldaten und PKK-Kämpfer – aber auch mindestens 400 Zivilisten. Ilhan Saygili über Helden und Kollateralschäden: