Paarlauf mit dem Komponisten

Heute hat das Musiktheater-Stück «Anschlag» von Michael Wertmüller seine Basler Premiere im Rahmen der «Journées Contemporaines». Das Libretto dazu schrieb kein Geringerer als Lukas Bärfuss.

«Zwischendurch stehe ich auf und singe», sagt Lukas Bärfuss. (Bild: Christian Schnur)

Lukas Bärfuss und Händl Klaus erzählen vom sinnlichen Dialog zwischen Musik und Wort, den sie als Librettisten erleben.

Libretti stehen hoch im Kurs. Allein in der Schweiz sind in jüngster Vergangenheit zahlreiche neue Texte für Oper und Musiktheater entstanden: Thomas Jonigk verfasste das Libretto für Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper «Der Sandmann», die 2012 in Basel uraufgeführte wurde; Klaus Händl führte seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Georg Friedrich Haas in der Oper «Thomas» fort, die im Mai an den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt wurde. Igor Bauersima schrieb die Texte für die jüngst in Bern gespielte Oper «Rage of Life» der Australierin Elena Kats-Chernin.

Raphael Urweiders Libretto zu Christian Henkings neuester Oper «Figaro¿» (mit Raptexten von Greis) wird 2014 am Theater Biel Solothurn uraufgeführt. Und am 10. November hat das am diesjährigen Lucerne Festival uraufgeführte Musiktheater-Stück «Anschlag» von Michael Wertmüller seine Basler Premiere im Rahmen der «Journées Contemporaines». Das Libretto dazu schrieb kein Geringerer als Lukas Bärfuss.

Unterschätzte Leistung

Von den Librettisten hört man meist weniger als von den Komponisten. Oft steht ihr Name nur kleingedruckt im Programmheft, selten erscheint er auf dem Werbeplakat. Ihre Leistung und ihre Bedeutung fürs Werk werden unterschätzt. Und doch haben in der Geschichte des Musiktheaters immer wieder berühmte Schriftsteller für und mit Komponisten geschrieben – Hugo von Hofmannsthal für Richard Strauss, W.A. Auden für Benjamin Britten, Ingeborg Bachmann für Hans Werner Henze und Elfriede Jelinek für Olga Neuwirth, um nur einige zu nennen.

Was macht also den Reiz von -Libretti aus? Was ermöglicht und verlangt diese Textgattung? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Komponisten? Über diese und weitere Fragen, über gesungene Sprache und den reinen Klang haben sich Lukas Bärfuss (41) und Händl Klaus (44) mit uns bei einem Glas Rotwein unterhalten – an einem milden Herbsttag auf einer sonnigen Terrasse mit Blick auf den Zürichsee.

Händl Klaus, ein Libretto ist für singende Stimmen geschrieben. Was heisst das für Sie?

Händl Klaus: Dass ich es mit dem hörbaren Ausatmen zu tun habe, mit dem Erklingen und Verklingen. Mit einem ständigen Sterben eigentlich. Es gibt so etwas wie ein Todesbewusstsein in den Opernstoffen. «Thomas», ein Libretto für Georg Friedrich Haas, handelt ganz vom Ausatmen. Es beginnt mit den letzten Atemzügen eines Sterbenden, und die Menschen, die ihn begleiten, verklingen auch alle, sie singen und verklingen wie die Musik. Georg hat da ausschliesslich Zupfinstrumente verwendet, die also ständig reissen, Zither, Harfe, Cembalo, Mandoline und Gitarre. Er arbeitet so feinporig, in diesem Bewusstsein, das hat diesen Stoff ausgelöst.

Herr Bärfuss, was war der Auslöser für Ihr Libretto zu «Anschlag»?

Lukas Bärfuss: Ich kannte Michael Wertmüllers Band «Alboth!» von früher, aus meiner Jugend, und ich war und bin sehr begeistert von dieser komplexen und leidenschaftlichen Musik. Als ich Michael persönlich kennenlernte, hatte ich sehr schnell ein Gefühl dafür, welchen Text ich ihm vorlegen wollte. Etwas mit starken Konturen, etwas Brockenhaftes. Das Libretto zu «Anschlag» untersucht das Verhältnis von Körper und Bewusstsein, und zwar des revolutionären Bewusstseins. Welches Verhältnis zum eigenen Körper hatten die Revolutionäre wie Rousseau oder Marat? Wie sieht das bei Albrecht von Haller aus, dessen Arbeiten die Wissenschaften revolutioniert haben? Und wie sieht das aus bei einer Figur wie Linda Lovelace, dem ersten Star des Pornofilms? Sie selbst sah sich nämlich ebenfalls als Revolutionärin. Und schliesslich: Liegt es vielleicht an unserem Bild des eigenen Körpers, dass wir in unserer Kultur keine Vorstellung mehr haben, wie unsere Gesellschaft verändert werden könnte? Dazu habe ich zehn Texte geschrieben, die sich auf beiden Seiten einer Spiegelachse ausbreiten und formal streng geordnet sind. Schliesslich sollte daraus Musik, also Form und Organisation werden. 

Hätten Sie sich mit diesen Fragen auch in der Form eines Theaterstücks auseinandersetzen können?

LB: Nein.

HK: Was führt denn dazu, dass du sagst, das eine muss ein Stück werden und das andere ein Roman?

LB: Ich stelle mir diese Frage nie. Das ist von Anfang an klar. Stoff und Form sind untrennbar. Ich nehme nicht irgendeine Form und packe einen Stoff rein.

HK: Es kommt schon im Gefäss zu dir, sozusagen.

LB: Ja, und das ist immer mit einem Klang verbunden, mit einem Ton, einem Rhythmus, egal, ob ich einen Roman, ein Stück oder ein Libretto schreibe. Denn Dichtung ist Rhythmus, Erzählen ist Atmen und Gehen. Und manchmal Singen.

Inwiefern?

LB: Ich singe oft.

Beim Schreiben?

LB: Zwischendurch. Ich stehe auf und singe.

Versteht man die komplexen, dichten Texte Ihres Librettos für «Anschlag», wenn sie auf der Bühne gesungen werden?

LB: Nicht immer. Aber alle können den Text lesen. Das Libretto dient zuerst der internen Kommunikation zwischen dem Komponisten, den Musikern, dem Dirigenten und den Sängerinnen. Für die Aussenpolitik ist eindeutig die Musik zuständig.

HK: Die Sprache löst die Musik mit aus. Und dann ist die Musik dasjenige, das du zunächst empfindest, weil du sie anders aufnimmst als die Sprache. Der Dialog, in den du mit der Musik trittst, ist ein sinnlicher, hoch komplexer, der kaum noch formulierbare Gedankengänge birgt. Das ist ja das Grossartige, dass Musik etwas schafft, an das die Sprache nicht heranreicht.

LB: Ach, lass das, Klaus. Ich krieg die Krise.

KH: Ach wirklich? Tut mir leid.

Jeder Dichter sehnt sich nach der Musik. Nach dem reinen Klang. Nach dem Augenblick. Und er weiss, dass diese Sehnsucht in der Literatur nie erfüllt wird.

HK: Ich erlebe die Arbeit an einem Libretto als einen Paarlauf mit dem Komponisten. Man sucht einander und wünscht sich einander als Partner, weil man mit der Arbeit des andern buchstäblich etwas anfangen kann, weil sie einem ein Stück weit aus der Seele spricht. Und diese Musik, diese Sprache ist jeweils unverwechselbar, ihre Temperatur, ihr Farbspektrum, ihre «Natur» – die dann jeweils auf den verwandten Stoff trifft. Ein Stoff für Heinz Holliger kann zum Beispiel kein Stoff für Beat Furrer sein, obwohl beide grossartige Komponisten sind. Man ist gespeist von der ureigenen Klangwelt, mit der der andere arbeitet. Man hat Sehnsucht nach seiner Musik. Nach diesem Übersetzen, diesem Hinüber-ins-nicht-mehr-Sagbare, das die Musik leistet.

LB: Ich kenne das von der Arbeit mit den Schauspielern. Sie lesen Texte nicht nur, sie verkörpern sie. Ich weiss beim Schreiben, dass meine Sprache eine körperliche Präsenz haben wird. Das Wort wird mehr sein als ein abstrakter Begriff, es wird hörbar sein, sichtbar. Es gibt nichts, was einen mehr über den eigenen Text lehrt.

HK: Dazu kommt beim Musiktheater die Verortung in einem musikalischen Spannungsfeld, dieser unglaubliche Austausch mit dem Organismus im Orchestergraben. Alle atmen miteinander aus und ein. Sänger verstehen, dass ihre Stimme aufgeht in dem Ganzen, dass es Einsätze gibt, Bezugnahme auf andere Linien, dieses Geflecht aus allem, und darin die stete Widerrede, oder Antwort … einen Gesamtkörper.

LB: Das kann ein Schriftsteller nur bewundern und begehren.

Entsteht das Libretto, bevor die Musik geschrieben wird?

HK: Nicht immer. Bei «Buch Asche» für Klaus Lang hatte ich es zu tun mit Silbenzahlen, die bereits vorgegeben waren, weil die Musik nach chinesischen Schriftzeichen entstanden war. Diese Zahlen musste ich blindlings einhalten, in Einklang mit der Psychologie der Figuren, und zugleich die Handlung vorantreiben. Das war eine extreme Suchbewegung nach allen Seiten, höllisch. Aber schliesslich auch erlösend.

Kann man den literarischen Wert eines Librettos denn unabhängig von der Musik beurteilen?

HK: Ja, natürlich. Es stellt seine Gesetze auf, denen es folgt oder die es bricht, und es hat seine Gestalt, seine Syntax, seine Lautlichkeit, wie Lyrik lässt es sich analysieren.

LB: René Goscinny war ein Genie. Er hat wunderbare Geschichten geschrieben, unter anderem «Asterix und Obelix» und «Lucky Luke». Er hatte nicht immer die besten Zeichner, aber das hat seinen Geschichten nicht sehr geschadet. Wir lesen sie trotzdem voller Bewunderung und Vergnügen.

Das Libretto wird dennoch als Gebrauchsliteratur abgetan.

LB: Ist das so?

HK: Ich glaube, das liegt an der Macht der Musik. Immer wieder hat man sich gesagt, «die Musik wird es dann schon richten», und en passant etwas hingeschmiert zwischen zwei Dramaturgiesitzungen. Und die Musik richtet es natürlich nicht, denn der Fisch stinkt immer vom Kopf. Aber es geht doch darum, mit dem Libretto ein Kerngehäuse zu schaffen, und die Musik wäre das Fruchtfleisch. Die Sprache löst die musikalische Form mit aus.

LB: Ich muss mich frei fühlen. Michael Wertmüller hat mir gesagt, schreib, was du willst. Und ich dachte, komponier, was du willst. Lass uns einen Ort suchen, wo wir uns verstehen. Das ist für mich wichtiger als der Status einer literarischen Form im Kanon der Literatur oder der Kriterien der Literaturbehörden.

HK: Für mich zählt letztendlich, dass es diesen Organismus gibt, der sich so vielen unterschiedlichen Kräften verdankt.

LB: Sind wir beide nicht oft genug am Theater total exponiert? Da stehen William Shakespeare, Händl Klaus und Lukas Bärfuss auf demselben Plakat. Ich fand es angenehm, mich bei «Anschlag» einmal anzuschmiegen, mich ein bisschen verstecken zu können.

HK: Nur bekommst du mitleidige Seufzer zu hören, wenn du statt eines Stücks ein Libretto schreibst, als wäre das ein Abstieg. Aber ich kenne nichts Schöneres als die Musik. Klar, man verschwindet hinter dem Komponisten. Es wird immer heissen: prima la musica e dopo le parole. Doch das ist ja auch meine eigene Lust. Womit wir wieder beim Ausatmen wären.

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