Raphael Wicky: «Taktische Varianten kommen und gehen»

Raphael Wicky hat am Tegernsee sein erstes Trainingslager als Cheftrainer des FC Basel hinter sich gebracht. Im Interview spricht er über die Veränderungen im Fussball, über die Rolle von Matias Delgado in seinem System – und er erklärt, wie er sich das Pressing vorstellt.

In Gedanken bei der nahenden Zukunft: Raphael Wicky, der noch drei Wochen Zeit hat, den FC Basel für das erste Saisonspiel gegen die Young Boys vorzubereiten. (Bild: Andy Müller/Freshfocus)

Raphael Wicky, Sie stehen als Trainer des FC Basel für ein Konzept, das mehr junge Spieler im eigenen Kader vorsieht. Ihre Jungen werden von den Medien entsprechend beansprucht. War das zu Ihrer Zeit auch schon so?
Ich war natürlich total gefragt (lacht), schliesslich habe ich mit 17 Jahren mein erstes Tor geschossen, gegen Olympique Marseille. Das hatte eine mediale Explosion zur Folge. Vergleichbar ist es mit heute trotzdem nicht, es gab kein Internet beispielsweise. Heute ist alles live und direkt und die ganze Welt hat Zugriff.

Der Beruf hat sich verändert.

Einerseits hat sich das Spiel verändert, aber auch der Job. Mit den Sozialen Medien, das ist eine grosse Revolution. Für die Jungen von heute ist es ein ganzes Stück schwieriger geworden, weil sie unter ständiger Beobachtung stehen.

Wie hat sich denn der Fussball aus Ihrer Sicht verändert? Welche Elemente von damals können Sie als Trainer heute noch verwenden?

Vor allem athletisch hat sich viel verändert. Taktisch kommen hingegen immer wieder Elemente von der Vergangenheit auf: die Dreierkette beispielsweise. Taktische Varianten sind wie Modeerscheinungen: Sie kommen und gehen.

Zwei Ihrer jungen Spieler sind athletisch extrem stark. Man sah sie im Trainingslager aus dem Stand auf Schwedenkästen springen.

Dereck Kutesa und Afimico Pululu. Diese Übung zielte auf die Schnellkraft ab, ein Element, das im Fussball von heute sehr wichtig ist: beim Pressing, Gegenpressing, beim hohen Angreifen, beim Umschalten oder bei weiten Bällen, denen man 60, 70 Meter nachjagt. Das kann man nur spielen, weil die Fussballer athletisch viel besser sind als vor 15 Jahren.

Raphael Wicky (Mitte) stellt mit Matias Delgado (rechts) und Werner Leuthard (Leiter Fitness) die Schwedenkasten-Challenge auf.

Dann müsste man halt das Feld grösser machen.

(lacht) Nein, den Fussball muss man lassen, wie er ist. Und die Abseitsregel muss auch bleiben. Aber die Frage ist tatsächlich, was dereinst angepasst werden muss. Denn der Mensch kann irgendwann nicht mehr schneller werden, nicht noch höher springen.

Das sagt man seit jeher. Und doch geht es immer schneller und höher.

Usain Bolt braucht für 100 Meter weniger als 9,6 Sekunden. Der menschliche Körper hat sich also verändert. Die Fussballer von heute sind zwar keine Bodybuilder, aber sie sind extrem fit. Es gibt Spieler wie beispielsweise Stephan Lichtsteiner, die auf der Seite weite Wege machen. Solche taktischen Ausrichtungen gehen nur mit sehr fitten Spielern. Ein anderes Beispiel ist das Gegenpressing, das die spanische Nationalmannschaft und Pep Guardiola vor zehn Jahren eingeführt haben. Dieses System erfordert sehr viel Athletik. Und inzwischen gibt es Teams wie RB Leipzig, die die ganze Zeit pressen. Das ist extrem anstrengend für die Spieler.

Fasziniert Sie die Spielweise von Leipzig?

Faszinieren nicht. Interessant finde ich aber die Gesamtausrichtung: Leipzig scoutet seine Spieler und seine Trainer spezifisch nach dem Spielsystem, das sie schon in der Nachwuchsabteilung durchziehen. Ich finde es deswegen gut, dass Leipzig Erfolg hat. Er ist nämlich nicht nur eine Folge des Geldes.

Könnten Sie sich vorstellen, dass man auch beim FC Basel so arbeitet?

(überlegt) Es ist nicht an mir, das zu bestimmen. Meine kurzfristige Absicht ist es jedenfalls nicht. Ein Verein darf in solchen Fragen nicht von seinem Trainer abhängig sein. Wenn ich irgendwann wieder weg sein sollte, dann müsste man ja mit einem neuen Coach wieder alles anpassen. Es gibt zudem die Haltung, dass es nicht gut ist, wenn in allen Altersstufen die gleiche Spielweise praktiziert wird. Ein Spieler, der die Akademie in Barcelona durchläuft, kennt dann nur genau diesen Fussball. Wenn er wechselt und plötzlich tief verteidigen muss, wird es für diesen Spieler vielleicht schwierig.

«Es wäre gut, wenn ein Spieler mit 23 oder 24 Jahren einen Teil der Trainerausbildung macht.»

Darf man von einem Fussballer die Flexibilität verlangen, sich in ein Spielsystem hineinzudenken?

(überlegt) Es ist ja nicht der Fussballer, der die Spielweise vorgibt. Er versucht lediglich umzusetzen, was der Trainer verlangt. Ich kann nur von mir als Spieler reden: Ich war einer, der relativ viel nachdachte. Trotzdem war ich nie so weit, mir über die Arbeit der Trainer und die Konsequenzen daraus Gedanken zu machen. Man darf von einem Spieler also nicht verlangen, wie ein Trainer zu denken. Mittlerweile glaube ich allerdings, dass es gut wäre, wenn ein Spieler mit 23 oder 24 Jahren einen Teil der Trainerausbildung macht.

Warum glauben Sie das?

Als ich in Deutschland Profi war, sagte mir ein Trainer: «Sie müssen doch wissen, wie man in diesem Spielsystem agieren muss!» Ich sage: Nein, das muss ich als Fussballer eben nicht. In einem Team kommt einer aus Tschechien, der andere aus Afrika, wieder andere aus der Schweiz. Die sind alle anders ausgebildet. Ich als Trainer muss den Spielern sagen, wie ich es will, und ihnen in diesem Rahmen gewisse Freiheiten für ihre Kreativität lassen. Als Spieler bist du vor allem mit dir selbst beschäftigt. Du schaust, ob du gut oder schlecht gespielt hast. Und dann gibt es ein paar Fussballer, die überlegen ein bisschen mehr, andere ein bisschen weniger.

Und jene, die mehr überlegen, würden Sie mit 23 in die Trainerausbildung schicken?

Vielleicht. Es würde einem Spieler sicher nicht schaden. Das wären keine monatelangen Ausbildungsblöcke, sondern mal irgendwo eine Woche. So lernst du, Dinge mal aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Tägliche Arbeit auf dem Platz – nicht mehr im Juniorenbereich wie bisher, sondern für die erste Mannschaft des FC Basel.

Ginge es darum, aus der egozentrischen Perspektive des Spielers auszubrechen und eine globalere Sicht des Spiels zu erlangen?

In der Trainerausbildung realisierte ich, dass es gut gewesen wäre, wenn ich einen Teil dieses Wissens schon als Spieler gehabt hätte. Ich war ein zentraler Mittelfeldspieler mit der Tendenz, wenig vertikale Bälle zu spielen. Viel Einfluss auf die Offensive hatte ich damit nicht, dafür verlor ich aber auch weniger Bälle.

Sie hatten als Spieler also keine hohen Packing-Werte, weil Sie mit Ihren Pässen wenig Gegner überspielten.

(lacht) Nicht wirklich.

Was halten Sie davon, mit solchen Werten die Leistung von Spielern zu beurteilen?

Ich verlasse mich nicht nur auf Statistiken, um Spieler zu bewerten. Aber schauen Sie sich Toni Kroos an, der hat extrem hohe Packing-Werte, daran sieht man, dass diese Zahlen durchaus Aussagekraft haben. Aus Trainersicht kann das also interessant sein, aber ich brauche nicht nach jedem Training eine riesige Datenlieferung.

Es ist doch eine problematische Zeiterscheinung: Man sucht sich Indikatoren, die dann in einer Absolutheit für die Leistung der Spieler stehen.

Für einen Sportdirektor oder im Scouting kann das interessant sein. Da sieht man, dass ein gewisser Innenverteidiger den Ball immer zum Aussenverteidiger spielt. Er hat dann automatisch keine hohen Packing-Werte, was die Aussage zulässt, dass er kaum an der Offensive teilnimmt. Und dann gibt es den anderen Innenverteidiger, der reihenweise Gegenspieler überspielt, die Schnittstellen sieht und so mehr Anteil an der Offensive hat. Insofern lassen diese Zahlen Aussagen darüber zu, wie gut ein Spieler in ein gewisses System passt.

Nur weiss man gar nicht, was die taktischen Vorgaben an die Innenverteidiger waren. Kann ja sein, dass einer gar keine langen Bälle spielen darf.

Definitiv. Und es kommen ganz andere Aspekte dazu: Ein Verteidiger muss auch verteidigen. Es kann sein, dass er jeden Zweikampf gewinnt, und über diese Qualität sagen Packing-Werte  gar nichts aus.

«Wir könnten auch mit zwei Zehnern spielen, das ist mit diesem Kader alles möglich.»

Im Kader des FC Basel stehen vier Innenverteidiger. Auf welchen Positionen gibt es Handlungsbedarf? Man hört beispielsweise, dass man auf der Position des linken Aussenverteidigers auf Raoul Petretta und Blas Riveros setzen will. Da gibt es keinen Platz mehr für Adama Traoré.

Das stimmt. Wir haben Adama kommuniziert, dass wir den Weg mit den Jungen gehen wollen. Aber ansonsten ist klar, dass wir uns in der Offensive umschauen.

Nach einem Stürmer.

Genau. Das ist in Arbeit. Aber ich bin sehr zufrieden mit der Mannschaft, die wir haben. Ich arbeite mit denen, die hier sind. Es ist eine Chance für die Jungen, für Pululu, Kutesa oder Neftali Manzambi, die alle da vorne spielen können.

Mohamed Elyounoussi hat eben bis 2021 verlängert. Er könnte auch ganz vorne spielen. 

Könnte er. Aber er ist kein gelernter Stürmer.

Hat denn einer im Kader das Potenzial, von Ihnen zum Stürmer umfunktioniert zu werden?

Wir haben in der Offensive sehr flexible Spieler, die können eigentlich in jeder Grundordnung die zweite Spitze spielen. Wir könnten aber auch mit zwei Zehnern spielen, das ist mit diesem Kader alles möglich. Ich glaube allerdings nicht, dass einer von ihnen das absolute Potenzial zur eigentlichen Sturmspitze hat. Ricky van Wolfswinkel ist ein gelernter Stürmer, Seydou Doumbia und Marc Janko sind gelernte Stürmer. Wir haben jetzt mit den Jungen eher flexible Stürmer, die alle Offensivpositionen spielen können.

Wollen Sie vom FCB ein Spiel sehen, in dem die Positionen auch während der Partie fleissig rotiert werden?

Der rechte Flügel muss nicht plötzlich als linker Aussenverteidiger spielen, das wäre zu viel Rotation. Aber wir wünschen uns sehr viel Bewegungen.

 «Wir werden nicht 90 Minuten Pressing spielen!»

Marco Streller hat uns von der Idee erzählt, Matias Delgado ein klein wenig neu auszurichten in seiner Spielweise. Beispielsweise beim Pressing.

Pressing ist ein defensiver taktischer Aspekt. Die Idee, Mati ab und an mal tiefer im Spiel zu haben, ist aber keine defensive Idee, sondern vielmehr eine offensive: Mati braucht Bälle, er hat die Fähigkeit, den genialen Pass zu spielen. Dafür kann man ihn auch ein bisschen zurückziehen. Wir wollen Mati aber nicht statisch vor der Abwehr haben, es geht uns eher um das Generieren von Bewegung. Sowieso muss ich in Sachen Pressing jetzt mal etwas klarstellen.

Bitte.

Wir werden nicht von nun an 90 Minuten Pressing spielen. Auch wenn das im Moment überall geschrieben und gesagt wird. Pressing ist ein Mittel, den Gegner auch mal höher anzugreifen. Wenn wir glauben, gegen ein bestimmtes Team könnte das die Lösung sein, dann machen wir das. Aber es wird auch die Spiele geben, in denen wir tiefer stehen werden – und mit Matias Delgado hat das alles eigentlich gar nichts zu tun.

Kann man überhaupt 90 Minuten Pressing spielen?

Es ist extrem anstrengend. Und wenn nicht alle mitmachen, dann ist ein hohes Pressing sehr riskant.

Ist ein Pressing denn so gut wie der schlechteste Pressingspieler?

Nehmen wir das Beispiel Leipzig: Wenn einer oder zwei nicht mitmachen, dann bist du hinten relativ offen. Deswegen muss das Pressing einstudiert sein, klar sein. Das machst du einfach nicht 90 Minuten. Wichtig ist einfach, dass wir flexibel sind und dieses taktische Mittel zur Verfügung haben.

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