«Schuld ist das gewalttätige Eingreifen der Polizei»

Der Chefkorrespondent der türkischen Zeitung «Hürriyet» zu der Protestbewegung in der Türkei und weshalb die Situation derart eskaliert ist.

Die Polizei auf Beobachtungsposten am Rande des Gezi-Parks in Istanbul. (Bild: Marko Djurica/Reuters)

Der Chefkorrespondent der türkischen Zeitung «Hürriyet» zu der Protestbewegung in der Türkei und weshalb die Situation derart eskaliert ist.

Der Protest, der vor knapp drei Wochen wegen eines Bauvorhabens im Gezi-Park in Istanbul aufflammte, hat sich zu einem landesweiten, ausser Kontrolle geratenen Flächenbrand entwickelt. Aussenstehende reiben sich die Augen und fragen sich, wie es zu dieser Eskalation kommen konnte, hat man doch in letzter Zeit praktisch nur noch über den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei gelesen. Und dass dieser vor allem dem geschickt agierenden, jetzt aber in den Fokus der Kritik geratenen Ministerpräsidenten, Recep Tayyip Erdogan, zu verdanken sei. Wir haben bei Ahmet Külahci, dem Chefkorrespondenten in Deutschland von «Hürriyet», eine der auflagestärksten türkischen Zeitungen, nachgefragt.

Herr Külahci, in Deutschland leben rund 3 Millionen Türken, wie ist die Stimmung unter ihnen? Eher pro Erdogan oder contra?

Die türkische Wohnbevölkerung in Deutschland ist sehr besorgt, alle wünschen sich, dass sobald wie möglich wieder Frieden einkehrt. Es gibt zwar da und dort auch Proteste gegen Erdogan, in verschiedenen Städten Solidaritätskundgebungen, aber verhältnismässig keine wirklich grossen.

Erdogan hat das Militär entmachtet, hat die Türkei wirtschaftlich vorwärts gebracht. Alles schien bestens zu laufen. Und nun diese gewaltige Protestwelle. Wie kommt das?

Tatsächlich hat wahrscheinlich niemand damit gerechnet. Ich gehe davon aus, dass in erster Linie das gewalttätige Eingreifen der Polizei zu dieser Eskalation geführt hat. Dass sich deshalb die Proteste derart ausgeweitet haben. Wenn Erdogan und seine Regierung in Sachen Gezi-Park geschickter vorgegangen wären und das Vorhaben der Bevölkerung gut erklärt hätten, wäre es möglicherweise nie so weit gekommen.

Bedeutet das, was jetzt passiert, das Ende der Ära Erdogan?

Nein, das glaube ich nicht. Wie Sie wissen, hat die AK Partei-Regierung unter dem jetzigen Staatspräsidenten Abdullah Gül und Revep Tayyip Erdoğan in der Türkei grossartige Reformen durchgeführt. Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich. Auch was zum Beispiel die individuellen Freiheiten und das Folterverbot betreffen. Ebenso die Friedensinitiative mit den Kurden war ein grosser und sehr couragierter Schritt. Trotz der Ereignisse in den letzten drei Wochen steht immer noch die Hälfte der türkischen Bevölkerung hinter ihm. Ausserdem wird er sowieso das Amt des Ministerpräsidenten abgeben. Er soll 2014 Staatspräsident werden und von Abdullah Gül das Amt übernehmen.

Erdogan will die Türkei unbedingt in die EU führen. Könnte und sollte die EU deshalb Druck auf ihn ausüben und ihn zu einem anderen Umgang mit den Demonstrierenden zwingen?

Erstens glaube ich nicht, dass die EU Druck auf Erdogan ausüben kann. Zweitens wäre es ein grosser Fehler – gerade jetzt – die Türen für die Türkei zuzuschlagen. Das wäre ein ganz schlechtes Signal. Die EU sollte unbedingt weiter mit der Türkei über den Beitritt verhandeln, auf diesem Weg kann man viel mehr erreichen.

Bis jetzt scheint die Protestbewegung ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Steht auch eine bestimmte politische Kraft dahinter?

Nein, es ist eher so, dass die – wie wir immer meinten apolitischen – Jugendlichen das Ganze ins Rollen gebracht haben. Offensichtlich sind sie eben doch nicht so apolitisch…

Gibt es auch gefährliche Trittbrettfahrer; Beispiel Ägypten, das jetzt mit den Muslimbrüdern an der Macht quasi vom Regen in die Traufe gekommen ist?

Das ist nicht vorstellbar. Dass unter den Demonstranten Trittbrettfahrer mit bestimmten politischen Absichten sind, ist möglich. Aber was im sogenannten arabischen Frühling passiert ist, kann es in der Türkei nicht geben. Trotz aller Defizite ist die Türkei ein demokratischer Rechtsstaat. Die Türkei hat ihren «Türkischen Frühling» vor circa 90 Jahren erlebt.

Bis jetzt sind noch keine Namen gefallen, die Erdogan beerben könnten. Gibt es Anwärter?

Ich kann mir gut vorstellen, dass Anwärter da sind. Aber zur Zeit zirkulieren keine Namen.

Besteht Grund zu der Hoffnung, dass die Türkei wieder zur Ruhe kommt?

Selbstverständlich hoffe ich das. Nicht nur ich, sondern ebenso die Demonstrierenden wie die Regierungsvertreter. Wir alle hoffen, dass das so schnell wie möglich Geschichte ist. Diese schrecklichen Bilder passen nicht zu unserer Türkei.

Was müsste dafür geschehen?

Es braucht zwei Dinge: Dialogbereitschaft und Toleranz, von beiden Seiten. Nicht nur die Regierungsseite, auch die Demonstrierenden stehen in der Verantwortung. Zu Recht fordern sie das Demonstrationsrecht und freie Meinungsäusserung ein, aber auch diese Seite sollte auf Gewalt verzichten.

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