Seit einiger Zeit kursiert unter Lehrerinnen, Heilpädagogen und Sozialarbeiterinnen ein neues Modewort: Inklusion. Manche verwenden es als Synonym zu Integration, andere sagen, es sei etwas komplett anderes.
Der Berliner Soziologe Martin Kronauer sagt: «Es geht bei Inklusion nicht nur um Randgruppen.» Es gehe auch um Langzeitarbeitslose, Migrantinnen und Migranten oder einfach Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht Fuss fassen können, so der 68-Jährige, der bis vor Kurzem an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin lehrte.
Herr Kronauer, Sie sagen, Inklusion können wir nur verstehen, wenn wir wissen, was Exklusion bedeutet. Was meinen Sie damit konkret?
Inklusion bezieht sich in erster Linie auf Menschen mit Behinderungen. Diese Diskussion wurde von der UN-Behindertenrechtskonvention angestossen. Es geht dabei um Schulen, Arbeitsmärkte und Organisationen, die sich öffnen sollen für Menschen mit Behinderungen. Daneben gibt es die Diskussion um Exklusion, die nicht nur Menschen mit Behinderungen im Blick hat, sondern alle Menschen, die am Arbeitsmarkt, in den Schulen und im Sozialstaat immer wieder ausgeschlossen werden.
Wen meinen Sie genau?
Am Arbeitsmarkt sind das häufig Menschen mit geringer Qualifikation oder im Sozialstaat alleinerziehende Mütter oder Migrantinnen und Migranten. Menschen, die es durch ihre soziale Herkunft oder ihre Lebensumstände schwer haben, Fuss zu fassen. Auch Jugendliche sind häufig davon betroffen. Die Exklusionsdiskussion zeigt, dass es erhebliche Probleme am Arbeitsmarkt, in der Schule und anderen Einrichtungen gibt. Die Inklusionsdebatte über Menschen mit Behinderungen blendet das eigentlich komplett aus. Sie tut so, als ob es genügt, wenn man einfach die Schulen öffnet, den Arbeitsmarkt öffnet – dabei ist der Arbeitsmarkt für einige Menschen bereits sehr verschlossen.
Also sollen wir zuerst den Langzeitarbeitslosen eine Arbeit verschaffen, bevor wir uns um die Menschen mit Behinderungen kümmern können?
Das meine ich überhaupt nicht. Es geht um beide.
Gleichzeitig?
Ja. Es geht darum, dass eine Neuausrichtung des Arbeitsmarkts oder auch ein Umdenken in der Organisation von Schulen beiden zugute kommt. Die Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund oder Kindern aus bildungsfernen Familien sind zum Teil sehr ähnlich den Problemen, die Kinder mit Behinderung erleben, wenn sie in die Schule kommen.
«Man muss zeigen, dass die Durchmischung funktioniert. Dafür gibt es ja genügend Beispiele.»
In Basel-Stadt wurden seit 2010 Kleinklassen Schritt für Schritt abgeschafft. Die Idee ist, dass Kinder mit Behinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten in der Regelschule unterrichtet werden. Eine gute Idee?
Es ist eine sinnvolle und zugleich eine sehr schwer zu verwirklichende Idee. Die Voraussetzungen müssen dafür erst geschaffen werden. Zum Beispiel, eine intensive Betreuung zu ermöglichen.
An diesem Punkt hapert es auch in Basel-Stadt. Viele Lehrpersonen sind überfordert, weil sie nicht mehr nur Lehrer im Sinne der Wissensvermittlung sind, sondern neu auch Heilpädagogen.
Es hat eben auch damit zu tun, dass die Institution Schule darauf nicht ausgerichtet ist.
Braucht es mehr Zeit?
Es braucht mehr Zeit und mehr Personal. Es bedarf aber auch einer Offenheit gegenüber dem Gedanken, dass diese soziale Mischung allen Kindern zugute kommt. Die Angst ist ja oft: Wenn sich die Schule vermehrt um die benachteiligten Kinder kümmert, dann kommen meine Kinder zu kurz! Das sind Ängste, die man offensiv angehen muss. Und man muss zeigen, dass die Durchmischung funktioniert. Dafür gibt es ja genügend Beispiele.
Was ist weiter wichtig, um Inklusion zu ermöglichen?
Schulpolitik und Wohnpolitik müssen Hand in Hand gehen. Denn eines ist klar: Die Qualität der Schulen ist ein grosser Treiber für soziale Segregation. Es gibt das Phänomen, dass der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an manchen Schulen grösser ist, als der Migrationsanteil in diesem Viertel. Das können Sie in Berlin zum Beispiel in Kreuzberg beobachten. Eltern, deren Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, ziehen weg, melden sich in einem anderen Bezirk an oder schicken ihre Kinder in eine Privatschule. So bleiben manche Kinder zum Beispiel aus bildungsfernen Schichten nur untereinander und soziale Potenziale werden massiv verbaut.
«Die Schule muss den Herkunftsunterschieden so gut wie möglich entgegenwirken.»
Wie kann man das ändern?
Indem man die Verdrängung aus bestimmten Bezirken verhindert. Oder indem solche Schulen gezielt gefördert und attraktiver gemacht werden, damit eine Schule nicht als Problemschule wahrgenommen wird.
Steht das System Schule vielleicht auch der Inklusion im Weg?
Schulen produzieren immer Ungleichheiten – das ist so. Am Schluss kommen Schülerinnen und Schüler raus mit ungleichen Zeugnissen, mit unterschiedlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Frage ist, inwiefern die Schule dazu beiträgt, dass dabei soziale oder körperliche Behinderung nicht die entscheidende Rolle spielen. Sie muss also den Herkunftsunterschieden so gut wie möglich entgegenwirken und das als genuine Aufgabe stets im Blick behalten. Wir haben inzwischen eine Situation, in der der Konkurrenzgedanke immer stärker in den Vordergrund rückt.
In der Schule?
In der Gesellschaft überhaupt. Und das wirkt sich natürlich auch auf die Schule aus. Alle Eltern wollen – aus guten Gründen – nur das Beste für ihre Kinder. Das Beste heisst natürlich auch, wettbewerbsfähig zu sein. Diese Idee der Wettbewerbsfähigkeit spielt eine immer grössere Rolle. Das wird gerade in den Schulen verankert. Das Problem ist, dass die Schule eigentlich auch noch andere Aufträge hat: etwa die Persönlichkeitsentwicklung oder die Herstellung der Chancengleichheit unter den Schülerinnen und Schülern.
Warum nimmt das Wettbewerbsdenken zu?
Wettbewerb spielte immer eine Rolle – zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, wo es auch immer um Konkurrenz geht. In den 1980er- und 1990er-Jahren fand aber in vielen Ländern ein Umdenken statt: dass der Sozialstaat nicht mehr für die Lebensqualität aller zuständig ist und sie vor Risiken schützen muss, die sie gar nicht tragen können. Dieser Gedanke ist zurückgetreten hinter den Gedanken, dass sich alle sozialstaatlichen Aktivitäten rechnen müssen. Es gibt dafür den Begriff der Sozialinvestitionen.
Sie meinen, dass ein Arbeitsloser, solange er nicht arbeitet, nur als Last gesehen wird?
Ja. Oder wenn man sich um ihn kümmert, dass er möglichst schnell wieder in die Erwerbsarbeit kommt und man wenig Geld aufwenden muss in der Zeit, in der er arbeitslos ist.
Das macht aus Sicht von staatlichen Einrichtungen auch Sinn.
Nicht unbedingt. Aus der Arbeitsmarktforschung ist bekannt, dass wenn man Menschen zwingt, möglichst rasch wieder ins Erwerbsleben einzutreten, dann geht das häufig nur unter der Voraussetzung, dass Qualifikationen verloren gehen. Menschen, die dann in einer schwächeren Position arbeiten, haben damit auch das höchste Risiko wieder entlassen zu werden.
«Schulen und Arbeitsmärkte müssten sich verändern. Es geht um ein quantitatives und qualitatives Umdenken.»
Kommen wir zurück zur Inklusion: Schaffen wir es überhaupt Arbeitslose, Ausgesteuerte, Menschen mit Behinderungen und so weiter in die Gesellschaft aufzunehmen? Wir müssten den Sozialstaat doch massiv ausbauen, wenn wir Inklusion wirklich ernst nehmen wollen.
Ja, es würde erfordern, dass wir den Sozialstaat nicht nur ausbauen, sondern auch umbauen. Die Schulen und Arbeitsmärkte müssten sich verändern. Es geht um ein quantitatives und qualitatives Umdenken. Die Schweiz ist ein reiches Land, Deutschland auch. Die Einkommensverteilung wird immer ungleicher, auch durch die politischen Entscheide. Die Steuerpolitik in Deutschland führte in den vergangenen 20 Jahren dazu, dass eine relativ kleine Gruppe von Menschen über immer mehr Vermögen verfügt. Es kommt auf den politischen Willen an, ob man da gegensteuert. Die praktischen Beispiele, wie Inklusion an Schulen gehen kann, gibt es ja.
Das kostet dann einfach mehr.
Vielleicht geht es mit einem grösseren Einsatz von finanziellen Mitteln – aber nicht nur das. Bei meinem Vortrag wurde das Beispiel der Schule für offenes Lernen in Liestal erwähnt, wo mit wenig Mitteln ein qualitativ hochstehendes Lernen möglich ist. Es geht vor allem um den Einsatz der Mittel, von gängigen, vorgestanzten Mustern abzuweichen, zu experimentieren. Und immer den Blick zu behalten, worum es geht: die Chancengleichheit zu stärken.
Zur Person:
Martin Kronauer, 68, hat in Heidelberg und Darmstadt Soziologie, Politikwissenschaften und Philosophie studiert. Danach forschte er an einer Hochschule in New York und promovierte an der Freien Universität Berlin zu Stadtentwicklung. In Göttingen kam später eine Habilitation dazu, wonach Kronauer als Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Fachhochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin lehrte. Bis 2016 hatte er dort Lehraufträge inne, nun ist Kronauer emeritiert und lebt in Berlin.
Der Thinktank «Denknetz» lud den emeritierten Professor unlängst für einen Vortrag nach Basel ein. Die TagesWoche traf ihn am Tag darauf in einem Café am Rhein.