Shantel: «Mein Rock’n’Roll ist, in Grenzwarteräumen Visumanträge auszufüllen»

Bekannt wurde Shantel mit seinem Bucovina Club als Neuinterpret alter osteuropäischer Lieder. Mittlerweile ist er an der Grenze Europas angekommen. Am 30. April tritt er mit seinem Soundtrack für ein kosmopolitisches Europa in der Kaserne Basel auf. Wir haben uns mit ihm unterhalten.

DJ Shantel: «Das wiedervereinigte Europa braucht einen eigenen Sound.»

Bekannt wurde Shantel mit seinem Bucovina Club als Neuinterpret alter osteuropäischer Lieder. Mittlerweile ist er an der Grenze Europas angekommen. Am 30. April tritt er mit seinem Soundtrack für ein kosmopolitisches Europa in der Kaserne Basel auf. Wir haben uns mit ihm unterhalten.

Man begegnet ihm immer wieder, kein Wunder bei über 200 Konzerten pro Jahr. Vor 13 Jahren veröffentlichte Stefan Hantel (48) einen Sampler mit Liedern aus dem alten, untergegangenen Osten seiner Grosseltern. Traurige Lieder, versoffene Tanzstücke, in denen das Akkordeon den Blues hat und am Ende der Wodka strömt. «Bucovina Club» wurde ein Erfolg, nicht nur in Westeuropa, wo das Zerrbild eines dem feierwütigen Surrealismus verfallenen Ostens sofort und bis heute in unzähligen Balkan-Partyreihen rezykliert wurde, sondern genauso an der Peripherie der grossen Popmärkte.

Während der Balkan-Pop als Label erstarrte, ging Shantel musikalisch immer weiter.

Stefan Hantel sammelte, kuratierte und konservierte die alten Lieder nicht nur, er verkürzte seinen Namen zu Shantel und ging mit seiner Bucovina-Band auf Tournee, wo er das alte Erbe mit jungen Eigenkompositionen mischte. Und, während der Balkan-Pop als Label erstarrte, musikalisch immer weiterging.

Zuletzt lebte der Frankfurter für sein aktuelles Album «Viva Diaspora» zwei Jahre regelmässig in Griechenland, um die Musik aus der sogenannten Smyrna-Schule für sich zu entdecken, soeben kommt er von einem Videodreh aus Istanbul zurück, im Mai wird er zusammen mit den Wiener Philharmonikern arabische Stücke einstudieren – und zuvor, am Samstag, in der Kaserne Basel auftreten.

Shantel, vor 20 Jahren waren Sie DJ in der Frankfurter Techno-Szene, heute als Musiker in der kulturellen Vielfalt zuhause. Was ist passiert?

Das hat mit einem einjährigen Aufenthalt 1997 in Tel Aviv zu tun. Die Zeit dort hat mich beflügelt, etwas über meine jüdische Familiengeschichte herauszufinden. Elektronische Musik erschien mir danach zu sehr als eine Form von Sounddesign, der es an Identität mangelte. Nach Tel Aviv bin ich zum ersten Mal nach Czernowitz gefahren, der Geburtsstadt meiner Grosseltern. Darauf war ich unglaublich neugierig. Ich dachte, in Südosteuropa schlummert ein musikalischer Hybrid, und diesen Schatz wollte ich heben und auf meine Art formen.

Auf was sind Sie gestossen?

Ich kannte die Bukowina und Czernowitz nur aus Erzählungen der Grosseltern. Das war für mich immer ein mystischer Platz, ein Sehnsuchtsort. Als ich aber als Erwachsener zum ersten Mal da hingefahren bin, stellte ich fest, dass diese pluralistische, sich gegenseitig bereichernde Kultur gar nicht mehr existierte. Das war für mich eine Bauchlandung. 

«Das wiedervereinigte Europa braucht einen eigenen Sound.»

Daraus erneuerten Sie diesen mythischen Platz mit der Musik. Was ist der Bucovina Club?

Die Idee von kontinentaleuropäischer Musik, von der Kontextualisierung eines Klangs.

Das klingt akademisch. Eine konservatorische Idee?

Nicht unbedingt, es ging mir nicht darum, der Region ihren Sound zurückzugeben. Eher eine Vision: Das wiedervereinigte Europa hat keinen eigenen Sound, der diesem Pluralismus gerecht wird, deshalb braucht es die Besinnung auf die kulturellen Schnittstellen wie Czernowitz oder Smyrna oder Saloniki, die in den Weltkriegen und später im Stalinismus kulturell ausradiert wurden.

«Diese ganze Balkan-Partyszene, die in jeder Grossstadt im Westen auftauchte, war sehr klischeehaft und konservativ.»

Wobei der Sound des Balkan heute in Westeuropa ähnlich dem Klezmer oft stereotyp, wenn nicht als Karikatur rüberkommt.  

Ja, das ist ein sehr komplexer Punkt. Seit der Osten offen und befriedet war, hatte man eine sehr stereotype Vorstellung davon, geprägt von den Kusturica-Filmen: eine surreale, lustige Gegend. Entsprechend war auch der Soundtrack dazu ziemlich prägend, aber eben auch ein kompletter Etikettenschwindel. 

Inwiefern? 

Weil dieser Klang, der da kreiert wurde, nur begrenzt mit der Realität zu tun hatte. Bands wie das Boban Markovic Orkestar oder die rumänischen Taraf de Haïdouks, die im Westen als Vertreter des Ostfolk geliebt wurden, waren damals ein No-Go in ihren Ländern. Dort orientierten sich die Menschen komplett nach Westen und wollten alles, was Europa so schmackhaft erscheinen liess, konsumieren. Das ist das Dilemma, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Am Anfang, wenn alles frisch und neu ist, entsteht mit der Popularität immer eine eigene Dynamik. Doch diese ganze Balkan-Partyszene, die danach in jeder Grossstadt im Westen auftauchte, war sehr klischeehaft und konservativ. Es wurde Sliwowitz ausgeschenkt, Wodka floss in Strömen. Ein Partykonzept. Deshalb habe ich mich auch verabschiedet und mit «Disko Partizani» weitergemacht.

Doch dem Boom hat Bucovina Club einiges zu verdanken. Oder?

Schauen Sie, mit 250 Liveshows pro Jahr bin ich einer der wenigen, wenn nicht der einzige, der international in dem Genre so viel unterwegs ist. Ich hab Platinauszeichnungen und mit «Disko Partizani» eine Nummer Eins in der Türkei gehabt. Wenn mir nun jemand die Balkan-Anfänge vorhält…

Kein Vorhalt, nur eine Frage.

Ich versuche, die Musik so ehrlich wie möglich zu machen. Sie soll mein kosmopolitisches Lebensgefühl spiegeln. Es geht mir nicht um Authentizität sondern um Anschlüsse, Ähnlichkeiten, Verbindungen. Sonst entsteht kein Mix. Man muss diese Quellen übersetzen, internationalisieren, anstatt in ihnen zu verharren, deshalb begann ich bald, mit englischen Texten zu arbeiten und Tourneen ausserhalb Westeuropas zu spielen, um mich vom Korsett zu befreien. Aber nicht falsch verstehen: Ich finde es legitim, wenn Kids in Europa ihre Balkanpartys veranstalten und so Freude an dieser Region gewinnen, was immer sie sich darunter auch vorstellen. Das gab es vor 15 Jahren nicht.

«Für mich ist der orientalische Klangkosmos ein absolutes, unerschöpfliches Paradies.»

Ihr aktuelles Album «Viva Diaspora» spielt in Griechenland. Ist das Ihre geografische Richtung, immer weiter nach Südosten? Folgt bald ein Album mit arabischer Musik?  

Mein Grossvater war Grieche, das Land spielt daher eine Rolle für mich. Und meine Arbeit dreht sich auch immer darum, den östlich-orientalischen Einfluss einem westlichen Hörer nahe zu bringen. Die Türe zum Orient zu öffnen. Das hört nicht beim Balkan auf, sondern schliesst Islam und Judentum mit ein. Ein sehr aktuelles Thema, da wir eine intensive Diskussion über Grenzen in Europa und die Haltung zum Orient haben. Wir sind noch geprägt vom Schisma der west-römischen Spaltung, das den byzantinisch-nahöstlichen Raum kulturell von uns abgespalten hatte. Seither erscheint uns alles aus dem Osten als fremd und exotisch. Gerade in Deutschland gibt es ja eine lange Tradition, vor allem mit den Juden als Leidtragende, das Östlich-Orientalische als Bedrohung zu betrachten.

Da kann die Musik etwas aufbrechen? 

Für mich ist der orientalische Klangkosmos ein absolutes, unerschöpfliches Paradies.

«Viva Diaspora» handelt vom Sound des alten Smyrna, dem heutigen Izmir – wie Czernowitz eine vergangene musikalische Kosmopole, die nationalistischem Furor zum Opfer fiel. Die Ähnlichkeiten sind frappant.

Ja, Smyrna ist ein spannendes Beispiel. Bis 1922 war die Stadt eine griechische Metropole im osmanischen Reich, die durch die geografisch günstige Lage ein Handelsschnittpunkt war und wahnsinnig prosperiert hatte, ähnlich den heutigen europäischen Metropolen: viele verschiedenen Kulturen brachten sich ein. Das Tolle von Smyrna mit Blick auf die Musikgeschichte ist, dass grosse griechische Komponisten wie Dimitri Semsis oder Panagiotis Toundas, die später dann die Mitbegründer der Rembetiko-Musik waren, in Smyrna geschult wurden und kreativ reiften. Die waren einerseits klassisch ausgebildet in byzantinischer Musik, schrieben aber auch unglaublich tolle Popsongs für das frühe 20. Jahrhundert. All die Lieder der Smyrna-Schule waren richtige genre- und kulturübergreifende Kassenschlager, die in lokalen Presswerken auf Schellackplatte gepresst und tausendfach verbreitet wurden. In diesen Liedern hallt die Vielfalt der Stadt wider – man hört Oper, Wiener Walzer, Tango, die sakralen Töne der Ostkirchen. Das ist die Schule von Smyrna, die noch heute ein unglaubliches Gewicht hat. Wenn Sie sich türkische Musik anhören oder eben die  Rembetiko-Szene in Griechenland, werden Sie die ganzen Einflüsse der Smyrna-Schule hören.

Im Vergleich zu Czernowitz ist da gar nichts tot.

Smyrna ist heute die türkische Stadt Izmir, dort finden sie davon nichts mehr. Die Stadt wurde 1922 in Schutt und Asche gelegt, aber die Musik, die bis dann dort komponiert worden war, und die Komponisten, die danach in die Diaspora abwanderten, hielten die Musik bis heute lebendig. Für mich ist das ein wichtiger Bezugspunkt.

«Diaspora ist für mich etwas Positives – ein Plädoyer für die Einwanderergesellschaft schlechthin.» 

Deshalb der Albumtitel? Die Diaspora als Körper der Erinnerung? 

Nicht ganz. Diaspora war in meiner Familie immer ein negativ besetzter Begriff: die Verstreutheit. Ich möchte ihn aber positiv besetzt haben. Diaspora ist für mich ein Plädoyer für die Einwanderergesellschaft schlechthin. Pluralistisch im positiven, sich gegenseitig beflügelnden Sinne, nicht als Nebeneinander. 

Als Gegenbegriff zur Nation? 

Genau. 

Ihre Musik ist unausweichlich politisch, oder?

Ich habe Ihnen gesagt, dass ich auf meiner Spurensuche auch ein paar Fragen bezüglich meiner eigenen Identität beantworten wollte. Heute kann ich mich ganz entspannt als Europäer bezeichnen, aber in einer Vielschichtigkeit, die für mich die einzige Form ist, in der dieser Kontinent eine Zukunft hat. Doch die ist heute bedroht durch die Rückbesinnung auf nationale Werte und Tendenzen zur Abschottung. Ich versuche, genau das Gegenteil zu zeigen – dass diese Rückbesinnung rückschrittlich und negativ ist. Weil kulturelle Schnittstellen in höchstem Mass nachhaltig produktiv sind und immer waren. In der Kunst, aber auch in der Wirtschaft. Wenn ich an meinen Konzerten sehe, dass da Immigranten oder Menschen mit Wurzeln in Griechenland, der Türkei oder im ehemaligen Jugoslawien vor mir stehen, ist das ein klares Statement. 

Einer Minderheit?

Ja, vielleicht. Aber ich glaube auch und stelle fest, dass im Umkreis meiner Arbeit die Konzerte immer besser besucht werden, Platten sich besser verkaufen. Also findet auch das statt. Alle meine Erfahrungen entsprechen dem Gegenteil. Es gibt eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung in den klassischen Medien, und zwischen dem, was sozusagen viral stattfindet, in den sozialen Netzwerken, in der Globalisierung. Dort ist Pluralismus längst präsent.

«Wir flogen für einen Videodreh in die Türkei und hatten natürlich eine Kamera dabei. Die Zöllner meinten sofort, wir wären Journalisten.»

Globalisierung bedeutet auch: Man reist dank Internet und Billig-Airlines in die Welt, will die Welt aber dennoch nicht zu sich nach Hause kommen lassen. 

Nicht nur. Ich bin noch immer überrascht, wie gross die Bereitschaft zur Hilfe für Flüchtlinge in Deutschland und Österreich ist, auch wenn politische Wahlresultate eine andere Sprache sprechen. Was ich nicht nachvollziehen kann ist, dass sich andere Staaten Europas, vor allem im Osten, weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist für mich der grösste Skandal. Dort finden Veränderungen statt, die ich beängstigend finde. In Ungarn habe ich meine Erfahrungen gesammelt…

Welche Erfahrungen haben Sie in Ungarn gemacht?

Vor zehn Jahren, vor dem Rechtsruck, waren in Ungarn ganz andere Leute in den Medien. Musikbegeisterte, die auch angetan waren von meinem Projekt und sich für das Konzept des Bucovina Club begeistern konnten. Die waren ein paar Jahre später alle nicht mehr in ihrem Job. Alles ausgetauscht und auf Regierungskurs gebürstet. Und momentan erlebt man in Polen dasselbe, merke ich, da klingeln bei mir die Alarmglocken. Das hat nichts mit Europa zu tun.

Sie touren trotzdem oft in Osteuropa. Wie wirken sich die verschärften Grenzen auf den Touralltag aus?

Stark. Aber ich hab so viele absurde Sachen in den letzten 15 Jahren erlebt, wurde in der Türkei schon in Abschiebehaft festgesetzt oder mir wurde die Einreise verweigert, es gibt immer wieder Anekdoten. Aber mein Gott, irgendwie gehört das auch dazu. Früher bezeichnete man das zertrümmern von Hotelzimmern als Rock’n’Roll. Mein Rock’n’Roll ist, in Grenzwarteräumen Visumanträge auszufüllen.

Selbst in der Türkei, wo Sie die Charts gestürmt haben?

Selbst dort habe ich immer wieder mit Unwägbarkeiten zu tun. Ich bin gerade anfangs Woche aus der Türkei zurückgeflogen, von einem Videodreh für meine nächste Single. Wenn Sie da im Moment einreisen, werden Sie komplett auseinandergenommen. Für den Dreh hatten wir ja eine Kamera dabei. Die meinten sofort, wir wären Journalisten.

Deutsche Journalisten sind dort momentan nicht sehr beliebt…

…nein, auf der Abschussliste sind die. Ein Grund mehr, hinzufliegen!

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Live: Kaserne, Basel, Samstag, 30. April, 21 Uhr.

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