Er bezeichnet sich als Anti-Hipster, Stubenhocker, Comicfan und Egozentriker. Der Brasilianer Ed Motta ist aber noch mehr: ein grossartiger Musiker und erfrischender Gesprächspartner. «Ich liebe es out zu sein», sagt er im Interview.
Lange hat es gebraucht, bis Europa ihn entdeckt hat. Dabei ist er für den brasilianischen Anspruchs-Pop, für raffinierten Funk und Soul made in Rio seit fast 30 Jahren das, was Tom Jobim für die Bossa Nova war. Ed Motta krempelte schon Ende der 1980er mit seinem Funkhit «Manuel» Brasiliens Szene um, experimentierte dann mit Disco wie mit komplexen Jazzharmonien, schrieb ein Musical, zeigte sich von Steely Dan genauso beeinflusst wie von Alexander Skrjabin. Zuletzt schwenkte er auf einen entspannten Westcoast-Sound ein, und sein aktuelles Album «Perpetual Gateways» hat er in Kalifornien mit US-Soul- und Fusiongrössen eingespielt.
Zudem ist Ed Motta Weinkenner mit eigenem Sommelier-Blog, Käse-Geniesser, Fan deutscher Elektronikpioniere, Sammler von Sci-Fi-Serien und Comic-Connaisseur. Um Ed Mottas Eigenschaften getreu abzubilden, liessen sich Seiten füllen. Und auch der Interviewtermin mit dem in jeder Hinsicht kolossalen Sänger, Keyboarder, Komponist und Arrangeur ufert mehrstündig aus. Die Essenz:
Ed Motta, weil Sie die europäische Kultur so lieben, sind Sie im Herbst nach Berlin übergesiedelt. Wie kommen Sie mit den deutschen Temperaturen zurecht?
Kein Problem, denn ich gehe ohnehin kaum vor die Tür. In Rio hatten meine Frau und ich eine so starke Klimaanlage im Appartement, dass sie sich immer beklagt hat. Und jetzt in Berlin sagt sie: «Geh doch mal raus, du liebst doch die Kälte.» Aber ich bin ein Stubenhocker. Meine Musik entsteht nicht aus Erlebnissen auf der Strasse, sondern im Innern meines Hauses. Aus absolut intellektuellen Erfahrungen, aus dem Studium meiner Platten- und Filmsammlung, da geht es nicht um das «wirkliche Leben». Hm, aber irgendwie ist das doch auch das «wirkliche Leben», oder nicht?
«Flaggen sind nicht mein Ding, ich stamme halb von Afrobrasilianern, halb von Italienern ab.»
Die letzten Alben haben Sie im Heimstudio produziert, für das aktuelle Album «Perpetual Gateways» sind Sie aber doch rausgegangen, nach Kalifornien …
Zufall. Mein Manager, die Plattenfirma und ich sassen zum Brainstorming zusammen und beratschlagten meine weiteren Schritte. Da kam die Idee, in L.A. aufzunehmen. Um ehrlich zu sein, es ergibt Sinn, da meine Platten seit dem Debütalbum von 1988 immer beeinflusst waren von der schwarzen Musik Amerikas und dem West-Coast-Sound. Mein aktuelles Programm hat Einflüsse von Steely Dan, Frank Zappa und vom Jazz. Man könnte sagen die Jazz-Seite ist sehr New York-orientiert, mit sarkastischen Zügen in den Texten, und die Popseite von L.A., die ist sonnig.
Auf dem Cover sieht man Sie vor den Watts Towers stehen. Der Stadtteil Watts war 1972 Gastgeber des berühmten Wattstax-Festivals, wichtig für den Soul und die Bürgerrechtsbewegung. Ist das also ein versteckter Hinweis auf den Bezug Ihrer Musik zum damaligen Soul?
Ich hatte gar nicht vor, die Türme fürs Cover zu verwenden. Aber als ich hinkam, war ich begeistert. Die sehen ja aus wie ein dadaistischer, afrozentrischer Gaudí! Der Erbauer hat gebrauchte Flaschen und solche Dinge benutzt. OK, sie sind auch ein Symbol, eine Flagge des Widerstands. Aber Flaggen sind nicht mein Ding, ich stamme halb von Afrobrasilianern, halb von Italienern ab. Meine Verbindung zu Watts ist eher die, dass dieses Album mein erstes ist, das ich mit African Americans aufgenommen habe, das war immer mein Traum.
Ihre Stimme wird immer wieder mit der des 1979 verstorbenen Soulsängers Donny Hathaway verglichen. Würden Sie dem zustimmen?
Ich bin ein grosser Hathaway-Fan. Für mich hatte er die beste Stimme, die es je gab, in jedem Stil, er konnte alles machen. Bei ihm lernte ich, wie man beim Singen mit der Luft umgeht, phrasiert. Stevie Wonder tut das auch, aber Donny Hathaway hat die Grand-Cru-Qualität dabei. Dass ich jetzt noch mehr nach ihm klinge, hat vielleicht damit zu tun, dass ich mich entschieden habe, höhere Noten zu singen.
In Ihrem aussergewöhnlichen Scatgesang haben Sie bisher eher die Tiefen kultiviert …
Das fing in der Schule an, in einer ganz naiven Art und Weise. Ich versuchte, die Stimme von E.T. zu imitieren. Und dann kam 1982 dieser Song von Earth, Wind & Fire raus, «Let’s Groove», mit diesem markanten Intro mit der Roboterstimme. Ich wurde verrückt danach, mein eigenes Organ so einzusetzen, und zu der Zeit habe ich in einer Hardrockband Black-Sabbath-Covers gesungen. Heute mache ich diesen Scat nur noch live, denn ich bekam Mitte der 1990er ein Problem mit meiner Stimme. Es ist nicht gesund, wenn man 50 Tage am Stück auf Tour seine Stimmbänder so malträtiert! Ich habe schon zwei Operationen hinter mir. Aber es macht mir immer noch Spass, denn es ist eine Möglichkeit, meine frühen Hardrockeinflüsse, meine Roots bei Led Zeppelin und Thin Lizzy zu zeigen.
Wenn Sie so international aufgestellt sind, welche Bedeutung hat dann die brasilianische Musik für Sie überhaupt noch?
Ich bin in einem Haus von Bossa-Nova-Fanatikern gross geworden. Durch die Harmonien der Bossa Nova kam ich zum Jazz. In der Bossa, die ohne Zweifel die wichtigste Musik unseres Landes ist, findet man Jazzakkorde, Melancholie und die Komplexität der frühen Sambas. Bei Samba denken die Leute fatalerweise immer nur an Karneval, dabei ist er sehr sophisticated, musikalisch gesehen. Wie dort die verminderten Akkorde gebraucht werden zum Beispiel, wie bei Cole Porter. Darüber hinaus gibt es in der Bossa starke impressionistische Einflüsse von Debussy, Ravel und Fauré. Der Rhythmus ist das Unwichtigste in der brasilianischen Musik! Aber dieser Stereotyp vom Rhythmus, ein Vogel auf deiner Schulter, ein weisser Anzug und ein Erfrischungsgetränk mit Limone in der Hand: Der lässt sich nicht besiegen. Das macht mich krank!
Sie sind auch bekannt für Ihre Vorliebe für deutsche Jazz- und Fusion-Musiker, nicht gerade gewöhnlich für einen Brasilianer. Sie schwärmen gerne von Can und Kraan …
Ja, und ich ziehe Kraan Can vor. Das Lustige ist, dass viele von den deutschen Rockern in Brasilien tatsächlich ziemlich gross sind, obwohl sie nie dort gespielt haben. Birth Control, Atlantis, Inga Rumpf, Guru Guru. Ich habe eine Platte von Birth Control, wo sie auf diesem Panzer stehen, auch Volker Kriegel und Wolfgang Dauner mag ich. Sie können sich nicht vorstellen, dass man all diese Dinge in Brasilien findet. Ich habe drei Platten von Manfred Krug, ein wunderbarer Mann! Die berühmte grüne Live-Platte, die habe ich aus der deutschen Botschaft in Brasilia. Als sie eines Tages auf CD umgestellt haben, rief mich ein Freund an, ich bin von Rio rübergeflogen und habe für drei Euro das Stück jede Menge Platten gekauft.
Kaufen Sie für gewöhnlich Ihre Platten vor Ort in Läden während Sie reisen, oder eher übers Internet?
Nein, immer im Laden. Falls ich mich in Berlin endgültig niederlasse, werde ich einen Container brauchen, um alles rüberzubringen, denn ich habe über 30’000 Platten. Ich kaufe Jazz, Soul, Reggae, Klassik, Soundtracks, fast alles bis 1982, das ist meine Trennlinie. Die Musik, die danach kommt, ist nicht meine Tasse Tee. Ich liebe Komposition, und ich höre heute leider keine guten Kompositionen mehr. Gute Stimmen und gute Musiker schon, aber keine Kompositionen mehr während der letzten 30 Jahre. Nur wenn die alten Typen wie Burt Bacharach oder Donald Fagen ein neues Album raushauen, dann höre ich noch das, was man als «Komposition» bezeichnen kann.
Was ist für Sie die ideale Situation bei einem Konzert?
Wenn’s bestuhlt ist, fühle ich mich millionenfach besser auf der Bühne. Mich selbst müsste man bezahlen, damit ich in ein Stehkonzert gehe. Mein erstes Album war sehr funkig, und damals spielte ich vor Stehpublikum, die Leute erwarteten, dass sie bei meiner Musik tanzen könnten, bis sie tot umfallen. Ich hoffe inständig, dass ich aus der Nummer rauskomme, jetzt, wo ich älter werde. Ich will nicht mehr die ganze Zeit auf der Bühne denken: Bringt sie das Stück jetzt zum Tanzen? Wie glücklich sind die klassischen Musiker, die das nicht nötig haben. Wenn ich selbst Soul- oder Funkalben höre, wackle ich höchstens ein bisschen mit dem Kopf. Denn wenn du tanzt, dann verlierst du 95 Prozent deiner Aufmerksamkeit. Es geht dann nur noch ums Entertainment, um die Fast Food-Seite von alldem.
«Nur Leute, die nichts zu sagen haben, hassen Interviews.»
Sie schreiben jetzt auch selbst englische Texte zu Ihren Songs. Die sind manchmal richtig sarkastisch.
Ja, es gibt keine Hoffnung in diesen Songs, genau wie in den Lyrics von Steely Dans Donald Fagen. Keine Kinder, keine Blumen. Sie haben einen ätzenden Humor. Ich erzähle bitterböse Agentengeschichten. Oder nehme ein Mädchen auf die Schippe, die teuren Wein aus dem Keller ihres Vaters trinkt und jetzt Vinyl sammelt, weil das gerade trendy ist.
Vor zehn Jahren waren wir Jungs im Plattenladen unter uns. Plötzlich sind da auch Frauen …
Das hingegen finde ich toll. Aber die Sache ist die: Mir geht es um die neue Vinylmania. Ich habe nie aufgehört, Vinyl zu kaufen, CDs haben mich nie beeindruckt. Ich bin ein fundamentalistischer «Anti-Hipster»! Die Leute sind so folgsam, rennen jedem doofen Album hinterher, nur weil es «in» ist. Ich liebe es, «out» zu sein, ausserhalb der herrschenden Meinung, des herrschenden Geschmacks zu stehen.
Sind Sie belesen? Woher beziehen Sie die Inspiration fürs Songwriting?
Nein, belesen bin ich nicht. Aber ich sammle Graphic Novels, meine Frau Edna ist eine Comicbuchautorin für Erwachsene. Ich sage Ihnen, diese Geschichten sind genauso tief wie Baudelaire, James Joyce, Henry Miller oder irgendeiner dieser Jungs. Mein Hauptinteresse ist der franko-belgische Strang. Ganz ehrlich: Musik und Filme von heute mag ich meistens nicht, aber Comicbücher haben eine Qualität, da steckt Intelligenz drin, auch heute. Aus Chicago zum Beispiel kommt ein Genie: Chris Ware. Der Jacques Tati unserer Zeit. Ich sehe in keiner Kunstrichtung irgendeinen, der heute an ihn heranreicht. Nur ich natürlich! (lacht)
Das war ein langes Interview. Sind Sie jetzt müde, nach all den Fragen?
Nein! Ich liebe Interviews! Ich bin Löwe und Löwen sind die egozentrischsten Menschen überhaupt. Es gibt für einen Löwen nichts Schöneres, als wenn ihn jemand auffordert, über sich selbst zu sprechen. Nur Leute, die nichts zu sagen haben, hassen Interviews. Gewöhnlich sind das die gleichen Leute, die keine Studios mögen. Ich mag Interviews mehr als Liveshows. Interviews relaxen mich. Das ist wie ein Antidepressivum, wie eine psychologische Sitzung. Du bist der Doktor. Meistens endet es dann damit, dass der Journalist sagt: «Tut mir leid, aber jetzt muss ich wirklich gehen.» (lacht)
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Ed Motta live:
Do, 14. Juli, 20 Uhr: Rosenfelspark, Lörrach («Stimmen»).