Therese Frösch warnt vor einer weiteren Aushöhlung des Sozialsystems. Wird das Existenzminimum für Bedürftige gesenkt, wie das bürgerliche Politiker fordern, dann gebe es «mehr Obdachlose, mehr Verwahrloste, mehr Kleinkriminalität», sagt die Co-Präsidentin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe.
In der Schweiz sind die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) für alle Gemeinden verbindlich. Demnach ist der Grundbedarf auf 986 Franken Sozialhilfe pro Person festgelegt.
Das ist für manche bürgerliche Politiker noch immer zu viel. Kürzlich haben die Zürcher SVP, FDP und Grünliberalen zur Attacke auf die Sozialhilfe geblasen. Sie fordern in verschiedenen sozialpolitischen Vorstössen, dass der Kanton Zürich sich nicht mehr an die Skos-Richtlinien halten und die Sozialhilfebeiträge senken solle.
Diesem Ansinnen hat die Zürcher Regierung vergangene Woche eine Abfuhr erteilt. Der Regierungsrat halte an den seit 1997 geltenden Skos-Richtlinien fest, sagte Sicherheitsdirektor Mario Fehr, es seien allerdings gewisse Reformen nötig. So soll etwa in einem ersten Schritt der Einkommensfreibetrag von 600 auf 400 Franken reduziert werden. Dadurch würden negative Schwelleneffekte eingedämmt – etwa, dass gewisse Bezüger finanziell besser gestellt sind, wenn sie Sozialhilfe beziehen, statt einer Lohnarbeit nachzugehen.
Skos-Co-Präsidentin Therese Frösch warnt im Interview vor einer Verschärfung der Sozialhilfe-Richtlinien. Der Grundbedarf sei bereits 2005 einschneidend gesenkt worden, weitere Kürzungen würden spürbare «psychologische und soziale Folgeprobleme» mit sich bringen.
Frau Frösch, nach dem Willen der Zürcher SVP, FDP und der Grünliberalen sollen künftig härtere Regeln für Sozialhilfeabhängige gelten. Was löst dies bei Ihnen aus?
Das macht meinem Skos-Präsidiumskollegen Felix Wolffers und mir grosse Sorgen. Als wir im vergangenen Mai gewählt wurden, waren fünf Gemeinden aus der Skos ausgetreten. Jetzt haben wir es mit einem ungleich schärferen Angriff auf die Sozialhilfe und damit auf die sozialen Fundamente unseres Staats zu tun. Auch wenn die SVP es nicht so formuliert, inszeniert sie nach dem 9. Februar, der gewonnenen Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative, nun eine Jagd auf Arme.
Aus vielen Gemeinden sind derzeit Warnungen zu hören, dass man mit der Finanzierung des Sozialwesens überfordert sei.
Ich habe für kleine Gemeinden ein gewisses Verständnis, die sich rechtlich und finanziell überfordert fühlen, weil sie fast zu hundert Prozent für die Sozialhilfe aufkommen müssen. Mit solchen Gemeinden suchen wir das Gespräch.
Welche Auswirkungen hätte es denn, wenn der Kanton Zürich aus der Skos austreten würde?
Andere Kantone würden folgen, eigene Sozialrichtlinien erlassen und sich gegenseitig unterbieten, um «Sozialtourismus» abzuwehren. Die Strategie der SVP stellt unser Sozialsystem mehr und mehr auf tönerne Füsse.
«Ganz verheerend würde sich eine Senkung der Leistungen auf die Kinder auswirken. Eine ganze Generation würde geopfert.»
Die SVP sagt, 600 Franken Sozialhilfe seien genug. Welche Auswirkungen hätte eine solche Senkung?
Ich bin keine Hellseherin, ich denke aber, dass die psychologischen und sozialen Folgeprobleme grösser würden. Es würde mehr Obdachlose, mehr Verwahrloste, mehr Kleinkriminalität, mehr Gesundheitsprobleme und mehr Armut geben. Ganz verheerend würde sich eine solche Senkung auf die Kinder auswirken. Eine ganze Generation würde geopfert.
Was sind die Kernpunkte der Skos-Richtlinien?
Es gibt in der Schweiz drei Existenzminima. Das soziale Existenzminimum gemäss Skos umfasst die materielle Grundsicherung (Wohnkosten, Krankenkasse), den Grundbedarf für den Lebensunterhalt und situationsbedingte Leistungen. Das alles zusammen dient als Grundlage für die Berechnung des Sozialhilfeanspruchs. Für Ergänzungsleistungs-Beziehende, die mit ihrer AHV- oder IV-Rente die einfachen Lebenskosten nicht bezahlen können und deshalb Ergänzungsleistungen bekommen, beträgt das Existenzminimun 1600 Franken. Das betreibungsrechtliche Existenzminimum garantiert verschuldeten Personen, dass ihr Einkommen bis 1200 Franken unpfändbar ist. Das Skos-Existenzminimum beträgt für eine Person ohne Einkommen 986 Franken, für eine Familie mit einem Kind 2210 Franken. Damit ist der Grundbedarf für ein einfaches Leben, zu dem auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gehört, gesichert. Damit müssen Sozialhilfeempfänger ihre Kosten für Essen, Kleidung, Hygiene, Strom, Telefon, Tabak und Reisen bestreiten. Dieses Geld braucht es in der Schweiz, um nicht zu verarmen.
Wie sieht es denn mit den Anreizsystemen aus, dank derer Sozialhilfeempfänger ihre Bezüge aufstocken können?
Im Zug der letzten Revision der Skos-Richtlinien von 2005 hiess es auch von bürgerlicher Seite: Arbeit muss sich lohnen. Darum hat man Anreize geschaffen. Der Grundbedarf wurde um sieben Prozent gesenkt, und es wurde eine Palette von Zulagen eingeführt, die je nachdem zwischen 100 und 600 Franken betragen. Dazu gehören Einkommensfreibeträge oder Integrationszulagen, die von den Sozialbehörden individuell festgesetzt werden. Die Erfahrung zeigt, dass diese Integrationszulagen von vielen Gemeinden angewendet, aber nicht ausgeschöpft werden.
Sehen Sie Handlungsbedarf im Blick auf die Höhe der Sozialhilfegelder?
Da wird sich nicht viel ändern. Die «NZZ am Sonntag» berichtete neulich, die Skos plane einen grossen Umbau. Da kann ich nur sagen: Wie sollen wir das ins Werk setzen angesichts der letzten Kürzung des Grundbedarfs um sieben Prozent? Unser Handlungsspielraum ist sehr klein. Die Sozialhilfe wird weiterhin bei rund 1000 Franken liegen. Mehr möchte ich aber nicht verraten. Näheres wird die Skos-Studie zeigen, die wir Anfang Januar veröffentlichen.
«In der Sozialhilfe gelten keine für alle Kantone verbindlichen Standards.»
Im Sozialsystem gibt es laut dem Hilfswerk Caritas erhebliche kantonale Unterschiede. In aller Regel fehlt in den Gemeinden ein Fall-Management für die Sozialhilfebezüger, die häufig von einem Amt zum anderen geschickt werden. Wie wollen Sie dieses Problem angehen?
Die genannten Probleme treten heute vor allem in kleinen Gemeinden auf, in denen es keine professionellen Sozialdienste gibt. In den Städten, wo 28 Prozent aller Sozialhilfebeziehenden leben, gibt es ausgebaute Sozialdienste, so dass die genannten Mängel heute in geringerem Umfang auftreten. Als Mangel – damit kommen wir zur politischen Ebene – sehe ich das Fehlen eines Bundesrahmengesetzes für die Sozialhilfe. In der Sozialhilfe gelten keine für alle Kantone verbindlichen Standards. Zugleich haben es einige Kantone versäumt, für einen solidarischen Finanzausgleich zwischen Kanton und Gemeinden zu sorgen. Dies wiederum leistet der Entsolidarisierung Vorschub und verschärft die soziale Kälte in der Schweiz. Um dem gegenzusteuern, fordert die Skos – wie übrigens auch die Caritas – ein Bundesrahmengesetz für die Sozialhilfe.
Was soll ein solches Gesetz konkret bringen?
Unsere Verfassung sichert allen ein einfaches Leben sowie die Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben. Ein Bundesrahmengesetz würde Standards setzen, an die sich alle Kantone halten müssten.
Wird also mit der immer lauter werdenden Forderung nach einer Kürzung des Grundbedarfs das Recht auf Existenzsicherung angetastet?
Absolut. Im Sanktionsbereich kann zudem gemäss den Skos-Richtlinien schon heute der Grundbedarf für ein Jahr um 15 Prozent gekürzt werden, wenn jemand nicht kooperiert. Einige Kantone gehen da aber bereits weiter.
«Arbeit ist das Schlüsselwort. Es braucht existenzsichernde Löhne.»
Wird sich die Skos-Studie zu den Schwelleneffekten äussern, also zum Problem, dass ein armutsbetroffener Haushalt sein Einkommen erhöhen konnte, dann aber zusätzliche Ausgaben anfallen wie etwa steigende Steuern?
Die Gemeinden kritisieren, dass Armutsbetroffene, die Steuern zahlen, teilweise schlechter gestellt sind als eine Familie mit drei Kindern, die Sozialhilfe bezieht und keine Steuern zahlen muss. Den Vorschlag, die Sozialhilfe ebenfalls zu besteuern, lehnt die Skos ab. Wir favorisieren eine Steuerbefreiung für alle, deren Einkommen eine existenzsichernde Höhe nicht überschreitet. Das minimiert zudem den bürokratischen Aufwand.
Was fordert die Skos, damit Sozialhilfebezüger aus der Sozialhilfe rauskommen?
Ein wichtiges sozialpolitisches Ziel ist, das weniger Menschen in die Sozialhilfe gelangen und mehr wieder rauskommen. Arbeit ist das Schlüsselwort. Es braucht existenzsichernde Löhne. Und Unternehmen und Dienstleister müssen bereit sein, vermehrt auch Leute anzustellen, die nicht top sind. Ein Stichwort in dem Zusammenhang sind Teillohnprojekte, wo der Träger zum Beispiel 60 Prozent des Lohnes zahlt und die Sozialhilfe den Rest. Investitionen in Weiterbildungen sind ein weiteres Stichwort angesichts der rund 70 Prozent Sozialhilfebezüger, die keinen Berufsabschluss haben. Wenn die Skos-Richtlinien als allgemein anerkanntes sozialpolitisches Instrument mehr und mehr ins Rutschen kommen, muss der politische Dialog zwischen der Sozialdirektorenkonferenz, Bund, Kantonen und Gemeinden dringend gesucht werden. Die Skos hat keine Macht. Sie erarbeitet lediglich die Instrumente zuhanden der Kantone und Gemeinden.