«Unser Feind heisst Ignoranz»

Heinz Buschkowsky, Bürgermeister des Berliner Problembezirks Neukölln und Mitglied der SPD, ist bekannt als scharfzüngiger Kritiker der bisherigen Einwanderungspolitik. In seinem Buch «Neukölln ist überall» beschreibt er die Folgen und fordert ein Umdenken.

Heinz Buschkowsky, scharfzüngig, schlagfertig - und auch nach 12 Jahren im Amt immer noch kampflustig. (Bild: Michael Würtenberg)

Heinz Buschkowsky, Bürgermeister des Berliner Problembezirks Neukölln und Mitglied der SPD, ist bekannt als scharfzüngiger Kritiker der bisherigen Einwanderungspolitik. In seinem Buch «Neukölln ist überall» beschreibt er die Folgen und fordert ein Umdenken.

Herr Buschkowsky, in Talk­shows und Interviews weisen Sie unablässig darauf hin, dass die Zuwanderung ausser Kontrolle geraten sei und sich Parallel­gesellschaften eingerichtet ­hätten. Haben Sie das Gefühl, Ihre Botschaft sei noch immer nicht angekommen, dass Sie nun auch noch ein Buch darüber ­geschrieben haben?

Genau so ist es. Nennen Sie mir Beispiele, mit denen unsere Gesellschaft zu einer entschlossenen, handfesten und praktischen Integrationspolitik im Land gefunden hat. Wir haben keinen Erkenntnismangel, sondern ein Handlungsdefizit. Das Thema Bildungsferne, Integration und ­Gefährdung unserer Gesellschaft im Zusammenhang mit dem demografischen Faktor ist noch nicht im Mainstream der ersten Liga der Politik ­angekommen. Verbal schon. Die Kanzlerin sagt, die Integration ist eine existenzielle Frage für die ­Zukunft unserer Gesellschaft. Gut gebrüllt Löwe – am Sonntag. Mir wäre es montags bis freitags lieber. Deshalb muss man eben immer ­wieder für Gesprächsstoff sorgen, um das Thema am Kochen zu halten. Daneben müssen die Basis und das Wissen verbreitert werden.

Wie?

Das bedeutet, die Materie so aufzubereiten, dass jeder sie versteht. Auch diejenigen, die sich sonst nicht für Politik interessieren. Es gibt zu Erfolgen und Misserfolgen der Inte-gration und der Bildungspolitik Hunderte, wenn nicht Tausende ­Bücher, die besser sind als meins. Die ganz normalen Menschen von nebenan lesen sie jedoch nicht, weil sie sie nicht verstehen. Oder weil sie zu anstrengend sind. Deswegen ­verwende ich Sprache so, dass jeder versteht, was ich meine.

Nennen wir ihn Otto Müller – der schimpft doch am Stammtisch schon lange über die faulen Ausländer, die nur Sozialleistungen beziehen.

Also der Otto Müller, der sich am Stammtisch so erregt, für den ist es ganz besonders wichtig, dass er mein Buch liest. Er wird dann hinterher anders argumentieren. Denn ich beschreibe gerade für ihn die Hintergründe und die Perspektiven unserer Gesellschaft, für die er just seine Patentrezepte verkündet. «Hey du, Otto, der du sofort alle ‹Kanaken› rausschmeissen willst, hast du schon einmal darüber nachgedacht, wer morgen deine Rente finanziert? Weil es in Deutschland ein Leben in Wohlstand in der Zukunft nur mit der Integration der Einwanderer­kinder geben kann.» Das steht in meinem Buch. Und es wird erläutert, warum das so ist. Integration ist ­keine Bewerbung um den Mutter-­Teresa-Preis und auch kein karitativer Akt. Das hat etwas damit zu tun, dass wir Bio-Deutschen selbst nicht mehr ausreichend Nachwuchs hinkriegen, weil Kinder in unserer Lifestyle-Gesellschaft als Lebensziel häufig nicht mehr vorkommen.

Wie viele Kinder haben Sie?

Ich habe keine. Werten Sie das als Selbstanklage. Wir benötigen eine Geburtenrate von etwa 2,0, damit sich unsere Gesellschaft als Organismus erhalten und immer wieder r­evitalisieren kann. Bei der bio-deutschen Frau liegt sie gerade einmal bei 1,0. Dass wir es insgesamt doch noch auf 1,4 schaffen, liegt an der höheren Gebärfreudigkeit der Einwandererfrauen. Und wir Alten werden auch nicht preiswerter. Je näher der Mensch seinem Lebens­ende kommt, desto teurer wird er. Die Medizin wird immer besser, aber auch teurer. Das heisst, allein durch die Zunahme der Älteren steigen die Soziallasten. Mit dem dicken Bleistift gerechnet, kommt im Jahre 2030 etwa auf jeden Erwerbstätigen ein Rentner. 2000 waren es noch vier Erwerbstätige. Ich schreibe in meinem Buch, der Einfachheit halber soll jeder gleich einen mit nach Hause nehmen. Das spart die Kosten der Unterkunft.

Ja, Sie schreiben wirklich sehr süffig.

Ist es denn falsch, so zu formulieren, dass dem Leser ein Seifensieder aufgeht? Dass der junge Einwanderer von nebenan, der es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht hat und von der Gesellschaft gepampert werden will, nicht nur ein Ärgernis ist, sondern dass der viel grössere Schaden dadurch entsteht, dass er übermorgen nichts zum Bruttoinlandprodukt beiträgt. Jetzt kommt wohl die Frage, die 80 Prozent aller Journalisten stellen: «Sind Sie nicht so eine Art Sarrazin light?»

Dann gehöre ich zu den restlichen zwanzig Prozent. Sie distanzieren sich ja im Buch von den Thesen Sarrazins …

Teils, teils. Mit seinen Abstammungs- und Vererbungsthesen habe ich es nicht so. Auch versuche ich, trotz ­klarer Sprache nicht persönlich zu verletzen. In der Sache beschäftigt sich Thilo Sarrazin mit der Frage, ob Einwanderung uns Deutsche abschafft und wer in der norddeutschen Tiefebene im Jahre 2100 wohnt, weil es keine Deutschen mehr gibt. Mein Fokus liegt auf der Frage, wie es uns gelingt, aus der Einwanderung bildungsferner Menschen – wer nie in der Schule war, tut sich schwer mit dem Konstruieren von Brücken und Maschinen – im zweiten Schritt doch noch einen Benefit für die Gesellschaft zu erzielen. Auf Deutsch: Wie wir aus Kindern von Analphabeten Ingenieure machen. Das ist ein völlig anderer Denkansatz.

Ich habe aber gehört, es gebe türkische Gastarbeiter, die seit 30 Jahren hier malochen und sich beleidigt fühlen.

Von wem?

Nicht nur von Ihnen, aber auch. Sie würden verallgemeinern – wie wenn alle Muslime das Rechtssystem nicht beachten und das Sozialsystem ausnutzen würden. Wie wenn bestimmte Nationalitäten mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit schwieriger zu integrieren seien als andere.

Wo steht in meinem Buch, dass alle Muslime das Rechtssystem nicht ­beachten und das Sozialsystem ausnutzen? So einen Quark schreibe ich nicht. Ich beschreibe bestimmte ­Milieus, aber stülpe die dortigen E­rfahrungen nicht über alle. Auch bei der Religion trenne ich schon zwischen Fundamentalismus, Überreligiosität und der heutigen Zeit ­angepasster Glaubensausübung. Bei Überreligiosität und Fundamentalismus macht die Glaubensrichtung kaum noch einen Unterschied. Wessen Denken sich nur noch um die ­religiösen Verhaltensnormen, Gebote und Verbote dreht, der verliert den Blick für die Anforderungen des realen Lebens und die Regeln seines Sozialraums. Da macht es dann wohl auch keinen Unterschied, ob Allah oder die Mutter Maria im Mittelpunkt steht. Ich schreibe in meinem Buch auch nicht, dass der Islam ­aggressiv ist oder aggressiv macht, sondern, dass er im Moment die ­Religion auf der Erde ist mit den ­aggressivsten Anhängern, die sich auf ihn berufen. Die meisten Muslime sterben wohl durch Muslime.

Ist es denn falsch, so zu formulieren, dass dem Leser ein Seifensieder aufgeht?

Machen Sie sich keine Sorgen, dass Sie mit Ihren kernigen Aussagen die Rechte bedienen?

Hierzu hat Thilo Sarrazin einen richtigen Satz gesagt: «Wenn die NPD morgen behauptet, die Erde ist rund, dann werde ich nicht sagen, dass sie eine Scheibe ist.» Ich meine damit, dass man sich gegen Beifall von der falschen Seite nicht wehren kann. Wehren tue ich mich allerdings, wenn versucht wird, mich zu instrumentalisieren und zum Werkzeug zu machen.

Nennen Sie mir ein Beispiel?

Kurz nach dem Erscheinen meines Buches startete eine Wochenzeitung der intellektuellen Rechten in Deutschland eine Werbekampagne. Nach dem Motto «Heinz Buschkowsky, der Mann, der Klartext redet und schreibt, was andere verschweigen – lesen Sie bei uns». Wenn man dann das Banner im Internet anklickte, landete man bei einem Bestellformular für ein Abo. Da hatten sie schnell juristischen Ärger an der ­Backe und haben die Kampagne eingestellt. Ein bisschen wehren kann man sich schon.

Aber die Gefahr ist gross …

Ihre Äusserung zu Ende gedacht, ­bedeutet, dass niemand mehr über schwierige gesellschaftliche Prozesse oder Defizite oder Missstände laut denken, reden oder schreiben darf, weil immer die Gefahr besteht, dass die politischen Extreme das für ihre Zwecke ummünzen und ausnutzen. Das ist dann das Ende einer selbstbewussten, gefestigten Demokratie, der Freiheit des Geistes und die Grundlage für einen Maulkorb.

Und darum hauen Sie immer wieder auf die «Schönredner», die «Wegschauer» ein. Ist denn wirklich die schweigende Linke schuld, dass die Rechte so erstarkt ist – weil sie sich das Thema Integration schnappen konnte?

Ich denke, Sie wissen die Antwort, aber Sie können sie gerne auch von mir haben. Die Politik beschäftigt sich ungern mit Themen, an denen man sich die Finger verbrennen kann, die emotionsbeladen sind und die sich mit sozialen Untiefen beschäftigen, Schmuddelthemen, mit denen man keinen Blumentopf gewinnen kann. Man schweigt sie gerne weg. Vordergründiges Argument ist dabei stets: Wir müssen uns auf die positiven Vorbilder konzentrieren und nicht mit Problem­beschreibungen eine schlechte Stimmung verbreiten. Mein Regierender Bürgermeister sagt immer: «Integration ist millionenfach gelungen.» Das bestreitet doch niemand. Das ist nicht mein Thema. Um Einser-Abiturienten, egal ob sie Ahmed oder Klaus heissen, muss ich mir keine Sorgen machen. Die finden ­ihren Weg. Ich muss mich um die kleinen Mäuse kümmern, bei denen schon in der Grundstufe erkennbar ist, dass sie mit solchen Defiziten ihre Schullaufbahn beginnen, dass ein Scheitern sehr wahrscheinlich ist.

Und weshalb ist das so?

Der Grund liegt im Elternhaus. Es gibt viele Eltern, die die grösste ­Gefahr für die Zukunft ihrer Kinder sind. Die sich nicht um sie kümmern, von Erziehung keine Spur, sie nehmen sie nie in den Arm, sie spielen nicht und lesen keine Geschichten vor. Wenn es dann in der Schule nicht klappt, ist die Lehrerin schuld. Ich muss mich um die kümmern, die es bereits mit 14 Jahren auf Straf­taten ohne Ende bringen und die ­bereits als Jugendliche ein sehr ­routiniertes Verhältnis zur Justiz ­haben. Um die, die zu Hause auf dem Bechstein-Flügel proben, kümmert sich der Klavierlehrer.

Die Frage war: Ist die Linke schuld, dass die Rechte erstarkt?

Die etablierten Parteien haben ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Ohne sie sind unser demokratisches Gemeinwesen und unser politisches System nicht denkbar. Wenn sie sich aber den unangenehmen Themen verweigern, die den Bürgern unter den Nägeln brennen, weil der Alltag sie damit konfrontiert, also Frauen unflätige Ange­bote für einen Fortpflanzungs­vorgang erhalten, Männer, denen man anbietet, das Problem sofort auf der Strasse zu lösen, dann ­wenden sich die Menschen ab. Sie gehen dann zu denen mit den einfachen Lösungen. Die bieten an, zu­zuhören und sich zu kümmern. Wenn die demokratischen Parteien sich dem realen Leben verweigern, dann profitieren die Extremen. Volks­parteien müssen aufpassen, dass ­ihnen nicht das Volk abhanden kommt. Das ist schon der SED in der DDR passiert. Unser Feind heisst Ignoranz.

Es gibt Eltern, die die grösste Gefahr für die Zukunft ihrer Kinder sind.

Um die Probleme mit der Integration anzugehen, schlagen Sie unter anderem vor, die Kita-Pflicht einführen, also flächendeckende Tagesschulen.

Ich bin gar nicht der Erfinder dieses Programms. Die SPD hat schon 2005 eine flächendeckende obligatorische und kostenfreie Vorschul-erziehung und die Überführung ­unseres Schulsystems in obligatorische Ganztagsschulen in ihrem Programm gehabt. Daran will sie sich heute bloss nicht mehr erinnern. Ich weiss gar nicht, wovor sie Angst hat. Über 80 Prozent der Bevölkerung sind für eine Kindergartenpflicht. Sie wird auch kommen. Wann, weiss ich nicht. Aber der Leidensdruck wird zunehmen.

Mit Ihren Aussagen und Ihrem Buch wird das Image von Neukölln nicht besser. Im Gegenteil, es führt zu einer Stigmatisierung Neuköllns.

Das sehe ich völlig anders. Von ­aussen kennt man nur zwei Bezirke in Berlin. Kreuzberg und Neukölln. Bei jungen Leuten sind wir absolut in. Eine Kreativszene hat sich hier niedergelassen. Eine kleine Neuköllner Bohème. Allein im letzten Jahr haben sich 600 Spanier in der Volkshochschule Neukölln zum Deutschkurs angemeldet. Die Aussagen in meinem Buch habe ich mir ja nicht in schlaflosen Nächten ausgedacht. Ich gebe denen breiten Raum, die sich tagtäglich bei uns ins Geschirr legen. Kindergartenleiterinnen, Schulrektoren, Sozialarbeiter, Jugendrichter, Polizisten oder dem leider verstorbenen Stadtsoziologen Professor Hartmut Häussermann. Die Political ­Correctness in Form der organisierten Empörung hat ein Problem, mit mir oder meinem Buch umzugehen. Inhaltliche Auseinandersetzung: Fehlanzeige. Und wenn man keine Argumente hat, bleibt nur die Moralkeule. Rassist und Spiessbürger. Ein bisschen dünn, finden Sie nicht?

Sind Sie des Kampfes noch nicht müde?

Jeder Mensch ist abends müde, und wenn er morgens aufsteht, dann hat er wieder Kraft und Tatendrang. Da geht es mir nicht anders. Meine Arbeit ist noch nicht getan und gegenwärtig ist die Berliner SPD auf einem guten Weg zu einer wirklichen Integrationspolitik.

Heinz Buschkowsky, «Neukölln ist überall», Ullstein Verlag, 29.90 Franken.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.02.13

Nächster Artikel