Seit dem 9. Dezember wird die Waffenruhe in der Ostukraine weitgehend eingehalten. Die Lage der Bervölkerung sei aber noch immer prekär, sagt die Baslerin Heidi Tagliavini, die als OSZE-Sondergesandte die Verhandlungen zwischen der Ukraine, den Separatisten und Russland leitet.
Ein Streit um die Westorientierung des Landes hält die Ukraine in Bann. Anfang Jahr wurde Präsident Viktor Janukowitsch gestürzt. Im Mai, als Petro Poroschenko zum Nachfolger gewählt wurde, entzündete sich im Osten des Landes ein bewaffneter Konflikt zwischen der Zentralmacht und den Separatisten, die von Russland unterstützt werden.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entsandte die Schweizer Topdiplomatin Heidi Tagliavini (64) als Vermittlerin. Die gebürtige Baslerin ist seit über 30 Jahren im diplomatischen Dienst der Schweiz.
Frau Tagliavini, Sie waren schon für die Weihnachtsferien in der Schweiz, nun mussten Sie kurzfristig wieder zurück nach Kiew. Weshalb? Gibt es eine neue Dynamik in den Verhandlungen?
Die Verhandlungen für eine friedliche Lösung des Konflikts sind keine Routineangelegenheit. Im September hatten wir in Minsk zwar eine Vereinbarung für einen Waffenstillstand abgeschlossen, dieser wurde aber mannigfach gebrochen. Dabei kamen zahlreiche Menschen um, allein schon bis zum Abschluss des Waffenstillstands waren es über 3000 Personen. Nun gab es ein Vorbereitungstreffen in der trilateralen Kontaktgruppe (dazu gehören die Ukraine, Russland und die OSZE) für ein Gespräch mit den Rebellen. Es ging darum, diesen Waffenstillstand zu sichern, aber auch um die Freilassung aller Gefangenen sowie darum, dass die humanitäre Hilfe ungehindert in die Ostukraine gelangen soll.
«Wir sind noch weit entfernt von einer friedlichen Lösung.»
Hat das Abkommen von Minsk, in dem der Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien vereinbart wurde, trotzdem etwas gebracht?
Ja, weil wir damit eine wichtige Grundlage geschaffen haben. Ein Waffenstillstand ist ein Einstieg in eine mögliche friedliche Phase. Darauf können wir aufbauen. Zudem wird der neue Waffenstillstand, der am 9. Dezember vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko verkündet wurde, weitgehend eingehalten. Seither hat sich die Lage wirklich beruhigt, und es gibt weit weniger Zwischenfälle als vorher. Dies haben übrigens auch die Rebellenvertreter von Donezk und Luhansk bestätigt.
Sie haben sich entschieden, die Verhandlungen auch in den nächsten Monaten unter serbischem OSZE-Vorsitz weiterzuführen. Weshalb?
Weil wir noch weit entfernt sind von einer friedlichen Lösung. Die internationale Gemeinschaft hat sich sehr interessiert gezeigt, über die OSZE weiter an einer solchen Lösung zu arbeiten. Zudem ist es sicher sinnvoll, dass es in den Verhandlungen eine Kontinuität gibt und sich nicht eine neue Person als OSZE-Sondergesandte erst einarbeiten muss. Ein Friedensprozess ist eine fragile Sache, man muss immer dran bleiben und darf den richtigen Augenblick für jeden Schritt nicht verpassen. Als Verhandlungsführerin musste ich ja zuerst eine Vertrauensbasis schaffen. Es ist in solchen Prozessen unabdingbar zu verstehen, worum es geht und was die Ziele der involvierten Seiten sind.
Macht Ihnen der Job auch Spass?
Ich würde nicht von einem Job sprechen, sondern von einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe, bei der man täglich vor wichtige, oft auch heikle Entscheidungen gestellt wird. Und auch von Spass kann man nicht reden. Ich möchte einfach mit meinen Menschen- und Fachkenntnissen, die ich bei meiner langjährigen Tätigkeit erworben habe, zu einer fairen Lösung dieses Konflikts beitragen.
Die Lage für die Zivilbevölkerung ist prekär.
Erhöht die Rubelkrise in Russland die Chance auf ein baldiges Ende des Konflikts?
Darüber möchte ich nicht spekulieren.
Wie geht es der Zivilbevölkerung in den umkämpften Gebieten der Ostukraine?
Der Krieg seit mehr als einem halben Jahr hat Spuren hinterlassen. Zahlreiche Menschen sind geflohen. An vielen Orten sind die Energie- und die Wasserversorgung zusammengebrochen. Die Lage für die Zivilbevölkerung ist prekär. Deshalb ist es wichtig, dass humanitäre Hilfe unbehindert in die Region gelangen kann. Darüber haben wir wie erwähnt kürzlich in der Kontaktgruppe gesprochen.
Und jetzt kommt noch der Winter.
Es lag schon mal Schnee, in diesem Augenblick geht aber gerade ein stürmischer «April-Regen» über Kiew nieder. Der Winter liegt noch vor uns, und das Klima in der Ostukraine ist von Januar bis März in der Regel ausgesprochen kalt. Daher ist es notwendig, die konkreten Fragen der Versorgung mit Lebensmitteln und Energie mit den Rebellen zu besprechen und sehr rasch lösen zu können.