Fünf Jahre ist der Arabische Frühling her, was ist aus der Revolution geworden? Unsere Korrespondentin sprach mit dem Politologen Jan Völkel von der Universität Kairo.
Herr Völkel, wo steht Ägypten fünf Jahre nach Ausbruch der Revolution?
Ägypten ist mit grossen Hoffnungen gestartet und die meisten haben sich nicht erfüllt. Das gilt insbesondere für die politische aber zu einem guten Teil auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Zum Beispiel zeigen die aktuellen Zahlen des Bertelsmann Transformationsindex, dass Ägypten politisch schlechter dasteht als im Jahr 2010 gegen Ende der Mubarak-Zeit. Die Wirtschaftsentwicklung ist ganz ähnlich. Ein wesentlicher Grund ist das hohe Bevölkerungswachstum, das die Volkswirtschaft nicht ausgleichen kann. Zum zweiten setzt die jetzige Regierung zu sehr auf Grossprojekte, die auch mit grossem medialen Interesse durchgeführt werden wie der Suez-Kanal oder die Planung der neuen Hauptstadt. Aber von diesen Projekten ist wenig Wohlstandsvermehrung für die breite Bevölkerung, vor allem der Unterschichten, zu erwarten.
Was ist von den Forderungen der jungen Aktivisten nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in Erfüllung gegangen?
Sehr wenig insgesamt. Was Brot angeht, das habe ich eben beschrieben, dass die Wirtschaftslage insgesamt schlecht und die Inflation nach wie vor hoch ist. Die Freiheit ist im Moment indiskutabel. Wir haben vermutlich mehr politische Gefangene in den Gefängnissen als zu Zeiten Gamal Abdel Nassers, sodass man von Freiheit nicht sprechen kann. Bei der sozialen Gerechtigkeit muss man etwas differenzieren. Das grosse Bild ist sicher so, dass die herrschenden Oberschichten nach wie vor uneingeschränkt an den Töpfen des Landes sitzen, während die breite Masse strukturell keinen Zugang zu den sozialen Leistungen des Staates hat. Dass sich die Menschen eher bewusst geworden sind, dass sie ein Recht auf eine Mindestsicherung des Lebens haben, bedeutet eine leichte Verbesserung.
Mit den Islamisten bleibt eine bedeutende gesellschaftliche Strömung vom politischen Leben ausgeschlossen, kann das lange gut gehen?
Das ist eine schwierige Frage, weil sie die Zukunft betrifft. Gerade in einem Land wie Ägypten sind Prognosen schwierig. Viele Beobachter haben darauf hingewiesen, dass die Exklusion des politischen Islam, also vor allem der Muslimbrüder, im Prinzip der falsche Weg ist und letztlich dafür sorgt, dass sich Vertreter des politischen Islam noch mehr radikalisieren werden und dass wir auf einem kochenden Suppentopf sitzen, der irgendwann explodieren könnte. Das ist das Schreckensszenario.
Was ist das Argument für das gewalttätige Vorgehen?
Die Unterstützer der jetzigen Regierungsstrategie argumentieren, dass nur mit klarer Gewalt dem politischen Islam begegnet werden kann, weil ansonsten die Muslimbrüder das Land ins Chaos stürzen. Da die Waage zu finden, ist sehr schwierig und auch eine Sache der Wahrnehmung und der grundsätzlichen Einstellung. Der politisch, islamistische Terror ist ein grosses Problem in Ägypten. Die Regierung reagiert mit massiven Militäroperation im Sinai und in der westlichen Wüste. Ich bezweifle sehr, dass das effektiv ist, dass der Terror so eingedämmt werden kann. Zudem ist zu befürchten, dass mit den Militäroperationen auch die Wirtschaftsgrundlage angegriffen wird.
Was sind die grössten Defizite für ein funktionierendes demokratisches System in Ägypten?
Eines der wesentlichen Defizite ist das Fehlen von funktionierenden politischen Institutionen. Es gibt keine schlagkräftigen, gut organisierten Parteien und schon gar keine Parteien mit einer ausreichenden Massenbasis, mit Ausnahme der Muslimbrüder und der früheren Nationaldemokratischen Partei, die beide verboten sind. Deshalb haben wir im neuen Parlament keine Partei, die ausreichend organisatorisches Potenzial besitzt und auch nicht das Wissen und die Erfahrung, wie Politik gemacht wird. Und das führt zum zweiten institutionellen Defizit. Das jetzige Parlament wird in keiner Weise seinen Anforderungen gerecht, weder ist es kritisch gegenüber der Arbeit der Regierung, noch findet es eine institutionell eigenständige Arbeitsweise.
Tunesien erlebt gerade die grössten sozialen Unruhen seit fünf Jahren, dennoch gilt das Land als Musterschüler unter den Ländern des Arabischen Frühlings. Was haben die Tunesier beim politischen Transformationsprozess besser gemacht als die Ägypter?
Die Tunesier haben sich nie auf einen einzelnen Mann verlassen. Die Ägypter haben 2013 nach dem Sturz von Mursi ihr Schicksal und ihr Glück zu sehr in die Hände eines einzelnen gelegt, die Tunesier haben eher an Institutionen geglaubt. Die verfassungsgebende Versammlung 2013/2014 hat eine enorme Arbeit geleistet, als es darum ging, das Land nach den politischen Morden zusammenzuhalten und dass auch keine Überfigur aufgetreten ist. Zudem hat die islamistische Al-Nahda-Partei in Tunesien viel von den Erfahrungen der Muslimbrüder in Ägypten gelernt, nämlich dass es sich nicht lohnt, zu sehr gegen bestehende Machtstrukturen anzukämpfen, sondern dass man sich zu arrangieren hat.
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Den Ikonen des Arabischen Frühlings droht der Knast, wenn sie nicht schon einsitzen