Wenn auf der Theaterbühne echt gestorben wird

Im Roxy Birsfelden kommt die Sterbehilfe auf die Bühne: Die Company Markus&Markus hat zu dem gesellschaftspolitischen Thema eine Theaterperformance kreiert. Im Interview erklären die Theatermacher, warum sie das Sterben einer alten Frau in Videoprojektionen zeigen.

Der Tod hat viele Gesichter. Und in dieser Szene auch mal keins.

(Bild: ©komun.ch)

Im Roxy Birsfelden kommt die Sterbehilfe auf die Theaterbühne: Die Company Markus&Markus hat dieses gesellschaftspolitische Thema mit Ibsens «Gespenstern» kombiniert. Im Interview sagen die Theatermacher, warum sie das Sterben einer alten Frau in Videoprojektionen zeigen.

In ihrem neuesten Stück geht es – frei nach Henrik Ibsens «Gespenster» – um die Top-Themen auf der Theaterbühne: Tod und Selbstmord. Die Theatercompany Markus&Markus spielt aber nicht alles einfach nach. Nein, sie bindet eine alte Dame – Margot – ins Stück ein. Sie hat sich für den Freitod entschieden und zu Filmaufnahmen eingewilligt, die nun posthum verwendet werden dürfen. Das wirft Fragen auf.

Sie besetzen die Hauptfigur mit einer Person, die wirklich sterben will – und zum Zeitpunkt der Premiere bereits tot ist. Wollen Sie schockieren?

Markus Wenzel: Nein, unsere Stücke kommen zwar mit einem Schockmoment daher, aber nicht weil wir schockieren wollen. Sondern weil die Themen schockieren.

Sie sind fünf junge Leute, stehen mitten im Leben. Weshalb beschäftigen Sie sich mit Sterbehilfe?

Markus Wenzel: Sterben und Tod sind tabuisiert und werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Genau dieses Randgebiet interessiert uns.

Lara Joy Hamann: Bei unserem Stück geht es nicht darum, ob Sterbehilfe gut ist oder schlecht. Wir wollen zeigen, dass der Tod zum Leben gehört. In anderen Kulturen gibt es einen ganz selbstverständlichen Umgang mit dem Freitod.

Zum Beispiel?

Markus Wenzel: Bei den Inuit und bei den amerikanischen Ureinwohnern kommt es vor, dass ein altes Gruppenmitglied sagt: «Ich bin zu schwach, geht ohne mich weiter.» Und das wird akzeptiert.

Lara Joy Hamann: Es gibt aber auch mit den Toten eine ganze Reihe interessanter Rituale. In Mexiko etwa ein jährliches Totenfest, bei dem die Leute auf den Gräbern tanzen! In Madagaskar ist es Brauch, alle drei Jahre die Gräber zu öffnen, hinein zu gehen und den Verwandten zu erzählen, was alles so passiert ist. Und in Indonesien gilt der Mensch erst dann als tot, wenn er komplett verwest ist. Vorher gilt er als krank und die Angehörigen pflegen ihn, bringen ihm Zigaretten, Essen und so weiter.

«Der Freitod ist freiwillig, aber geplant, also sozusagen öffentlich. Man muss es aushalten können, von einer Person zu wissen, dass sie in vier Wochen tot sein wird.»

Was ist so brisant am Thema? Dass es jemanden braucht, der beim Sterben hilft?

Markus Wenzel: Hier in der Schweiz bieten viele Organisationen Sterbehilfe an; sie nennen es aber Freitodbegleitung.

Lara Joy Hamann: Es ist Voraussetzung, dass der Mensch allein sterben kann – man muss den Becher mit dem Gift selbst heben und es selbst schlucken können oder selbst am Rädchen drehen, das die Infusion in den Körper lässt.

Warum wird es so heiss diskutiert?

Lara Joy Hamann: Es ist die Kombination von beidem. Der Freitod ist freiwillig, aber geplant, also sozusagen öffentlich. Man muss es aushalten können, von einer Person zu wissen, dass sie in vier Wochen tot sein wird oder schliesslich zuzusehen, wie sie sich umbringt. So wie wir bei Margot.

Wie kam der Kontakt zu Margot zustande?

Lara Joy Hamann: Zunächst haben wir fast sämtliche Sterbehilfeorganisationen kontaktiert und unser Projekt vorgestellt. Es geht von Henrik Ibsens Drama «Gespenster» aus. Dort bittet Osvald seine Mutter um Sterbehilfe. Ihm droht die gleiche Krankheit, die schon seinen Vater sterben liess – er würde auf das geistige Niveau eines Säuglings zurückfallen. Das will er sich und seinen Mitmenschen ersparen.

Wie haben die Sterbehilfeorganisationen auf Ihre Anfrage reagiert?

Markus Wenzel: Grundsätzlich interessiert. Aber eine konkrete Person vermitteln wollte fast niemand. Eine Organisation sagte: «Ihr greift in Prozesse ein, von denen Ihr nichts versteht!» Andere hatten Sorge, dass der Sterbeprozess dadurch beeinträchtigt wird.

Lara Joy Hamann: Ganz plötzlich haben wir dann über eine Organisation Margot gefunden. Das war ein riesiges Glück. Sie besass noch die Mobilität, uns Dinge zu zeigen, schöne Orte von früher, sie konnte uns noch aus ihrem Leben erzählen. Und wir fragten sie, wie sie sich unser Theaterstück vorstellt, wie es aussehen sollte. Sie hat quasi mitinszeniert!

In den Videoprojektionen in Ihrer Inszenierung sehen wir Margot beim Essen, Margot beim Spaziergang mit dem Rollator, Margot beim Plausch mit Euch jungen Theaterleuten. Immer lachend, immer lebensfroh. Warum wollte Margot sterben?

Markus Wenzel: Ihre Krankheit hatte verschiedene Ausprägungen. Geräusche haben ihr einen unglaublichen Schmerz im Gehör verursacht. Sie konnte kaum an sozialen Anlässen teilnehmen. Sie hatte einen Rollator, fiel hin, hatte seitdem starke Schmerzen in der Schulter. Und sie hatte Angst, noch abhängiger zu werden.

«Unser Projekt gab Margot wohl das Gefühl, dass sie uns ihre Welt hinterlässt – das hat ihr sehr gefallen.»

Warum wandte sie sich an eine Sterbehilfeorganisation?

Markus Wenzel: In Deutschland ist es so, dass man bei Androhung von Selbstmord handeln muss – sonst gilt es als eine Straftat, als unterlassene Hilfeleistung. Wenn sich Margot für den Freitod entschieden hätte, hätte sie sich also gar nicht bei ihren Freunden verabschieden können. Und dann gibt es dieses effektive Medikament – es ist ein Gift – nur in der Schweiz.

Lara Joy Hamann: Margot wünschte sich einen friedlichen Freitod – nicht so brutal, wie sich aus dem Fenster zu stürzen oder sich vor den Zug zu werfen, wo man andere mit reinzieht. Margot wollte auch im Tod keinem zur Last fallen. Sie wollte vorher alles selbst organisieren.

Und weshalb hat sie sich an Ihrem Theaterprojekt beteiligt?

Markus Wenzel: Margot war sehr offen, wir haben über nahezu alles mit ihr sprechen können. Diese Form der Aufarbeitung ihres Lebens kam ihr sehr entgegen. Es war ihr Abschiedsprozess. Da gab es viele Dinge, über die sie wohl 50 Jahre lang nicht nachgedacht hatte.

Lara Joy Hamann: Und sie hat zeitlebens darunter gelitten, dass sie keine eigenen Kinder hatte. Unser Projekt gab ihr wohl das Gefühl, dass sie uns ihre Welt hinterlässt – das hat ihr sehr gefallen.

Was hat Sie besonders überrascht in Ihrer Begegnung mit Margot?

Markus Wenzel: Dass sie ganz alltäglich trotz unseres Besuches weitergelebt hat. Sie hat Buch geführt über ihre Ausgaben, hat jeden Kassenzettel eingeklebt, hat gesagt, «das kann ich von der Steuer absetzen» – obwohl das ja nicht nötig wäre so kurz vor dem Tod…

Lara Joy Hamann: Und dass sie unsere dicke Kamera die meiste Zeit ignoriert hat. Sie hat höchstens Mal die Blumen in die richtige Richtung gedreht.

Hat Margot durch die Begegnung neuen Lebensmut entwickelt?

Markus Wenzel: Nach aussen hin wirkte Margot immer sehr lebensmutig. Aber sie offenbarte uns auch, dass dies eine Fassade ist. An ihrem Entschluss änderte sich nichts.

«Man kann nicht ein Stück machen und es komisch finden, dass der Tod aus der Gesellschaft rausgehalten wird, und dann aber nicht dabei sein wollen.»

War es Margots Wunsch, dass Ihr beim Sterben dabei seid?

Lara Joy Hamann: Wir haben das vorab viel in der Gruppe diskutiert. Sind wir, jeder Einzelne, in der Lage, dabei zu sein, wenn sie stirbt? Man kann nicht ein Stück machen und es komisch finden, dass der Tod aus der Gesellschaft rausgehalten wird, und dann aber nicht dabei sein wollen.

Markus Wenzel: Wir haben Margot dreissig Tage lang begleitet und es entwickelte sich gegenseitig Vertrauen. Am Ende war es fast ihr Befehl, dass wir dabei sind. Vielleicht, weil sich sonst ihre eigene Angst mit jedem Menschen, der sagt, er will nicht dabei sein, gesteigert hätte.

Habt Ihr über den Tod gesprochen?

Markus Wenzel: Auf die Frage, «was kommt danach» antwortete sie mit «Da ist nüscht mehr!» Sie war sehr rational; man konnte mit ihr über diese Frage nicht philosophieren.

Lara Joy Hamann: Aber sie sagte auch einmal: «Ich guck Euch dann vom Himmel aus zu!»

Sie zeigen in Ihrer Inszenierung viele Videos von Margot. Macht Ihr «Reality-Theater», analog zu den Reality-Shows im Fernsehen?

Markus Wenzel: Es ist ja unklar, inwieweit das Fernsehen wirklich «reality» zeigt. Wir machen Theater. Da gibt es die Autonomie des Zuschauers, an dem, was man sieht, zu zweifeln. Das ist das schöne am Medium Theater.

Lara Joy Hamann: Wir gehen in unseren Stücken oft der Frage nach Realität und Fiktion nach – man könnte auch glauben, dass Margot eine Schauspielerin ist.

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Live im Theater Roxy, Birsfelden: 17./18. September, 20 Uhr.

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