«Wir sind alles arme Sünder»

Was haben uns die Geisteswissenschaften heute noch zu sagen? Zu wenig, findet Antonio Loprieno, Rektor der Uni Basel. Ein Gespräch über verpasste Möglichkeiten.

Kündigt seinen Abschied an: Antonio Loprieno, Rektor der Uni Basel. (Bild: Michael Würtenberg)

Was haben uns die Geisteswissenschaften heute noch zu sagen? Zu wenig, findet Antonio Loprieno, Rektor der Uni Basel. Ein Gespräch über verpasste Möglichkeiten.

Was für ein Charmeur, dieser Mann. Noch bevor das Gespräch in seinem Büro hoch über den Dächern der Stadt beginnt, hat Antonio Loprieno, Rektor der Universität Basel, schon derart viele nette Dinge gesagt, dass man gar nicht mehr weiss, wie man ­reagieren soll. Der Ägyptologe hat ­etwas faszinierend Einnehmendes. Selbst wenn er über die verschiedenen Probleme seiner Uni spricht (und von diesen gibt es ein paar), tut er das ­derart eloquent und unaufgeregt, dass es ein Genuss ist, ihm zuzuhören.

Heidi Wunderli-Allenspach, ­Rektorin der ETH Zürich, hat in einem fulminanten Interview mit der «NZZ am Sonntag» den Niedergang der Hochschulen beklagt. Es sei ein Jammer, dass für die Ausbildung und die Grundlagenforschung nicht mehr genügend Geld vorhanden sei. Steht es tatsächlich so schlimm?

Ich teile diesen Pessimismus nicht. Meines Erachtens geht es den Schweizer Universitäten gut, die Balance zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung stimmt. «Sit back and relax» liegt dennoch nicht drin, nur schon wegen der extrem starken Konkurrenz aus Asien und den anderen aufstrebenden Regionen. Auf dieser Ebene wird es für die Schweiz schwierig genug, ihren Stand zu halten. Um unsere Position sogar noch zu verbessern, wie das Frau Wunderli-Allenspach wohl gerne hätte, wären Investitionen in ­einem Umfang nötig, die der Schweizer Tradition kaum mehr entsprächen.

Stattdessen geht der grosse Verteilkampf um die Bundesgelder los. Alle wollen mehr Geld, notfalls auch auf Kosten der anderen.

Das ist eine Folge der typisch schweizerischen Polarität. Auf der einen Seite stehen die grossen Institutionen, die die Kräfte möglichst bündeln wollen, auf der anderen Seite die kleineren, welche die dezentrale Struktur verteidigen. Als Basler halte ich es natürlich eher für positiv, dass es in der Schweiz zwölf Upper-Middle-Class-Universi­täten gibt, die von der Qualität her miteinander vergleichbar sind. Wer mehr will und sich wie die ETH mit den absoluten Spitzen-Unis messen will, hat mit diesem System aber ­natürlich ein Problem, nur schon vom sozialen Mandat her.

Sie erwecken beinahe den Eindruck, als seien Sie zufrieden mit der Höhe der Beiträge.

Ich würde mich eher wie ein mittelalterlicher Märtyrer frittieren lassen, als eine solche Ausssage zu machen! (lacht laut) Natürlich hätten auch wir gerne noch sehr viel mehr Geld. An interessanten Plänen fehlt es wahrlich nicht.

Im Ausland sind vor allem die Geisteswissenschaftler unter Druck. In England werden ihnen die Beiträge gestrichen und auch im übrigen Europa wird nach der Nützlichkeit einzelner Studienrichtungen gefragt. Braucht es die Geisteswissenschaften noch?

«Nützlichkeit» ist ein extrem vielfältiger Begriff. Mit Ihrer Frage spielen Sie wahrscheinlich auf den wirtschaft­lichen Nutzen an, daneben gibt es aber auch noch den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Nutzen, der ebenso wichtig ist. Umso bedauerlicher ist es, dass es den Geisteswissenschaftlern in der Schweiz heute kaum noch gelingt, sich in die öffentlichen Debatten einzuschalten, sie zu prägen.

Warum?

Ein Grund ist das Problem, das die Geisteswissenschaftler schon seit jeher mit der Selbstdarstellung haben. Zu ihrem Wesenszug gehört es, kritisch zu sein, gerade auch sich selber gegenüber, sich und die eigene Tätigkeit ­laufend infrage zu stellen.

Kann man sich das in der heutigen Zeit noch leisten, in der Marketing, Werbung alles ist?

Das muss man sich leisten, gerade heute, in diesem postmodernen Zeit­alter des Glaubens- und Vertrauens­verlustes und der individuell zusammengebastelten Wahrheiten. Da hat die Gesellschaft Denker dringend ­nötig, die sich mit solchen Phäno­menen auseinandersetzen.

Müsste man die Geisteswissenschaften eher ausbauen?

Lieber als von einem Ausbau würde ich von einer Stärkung sprechen und von einer Weiterentwicklung, im Sinne des gesellschaftlichen Nutzens.

Eine Möglichkeit dazu wäre die Konzentration der Geisteswissenschaften an einzelnen Universi­täten in der Schweiz.

Die Einsparungen wären gering und der Nutzen wäre es ebenso. Eine ­Universität muss ein möglichst breites ­Angebot haben; auch ein angehender Mathematiker sollte etwas von Shakespeare mitbekommen. Hinzu kommt, dass grosse geisteswissenschaftliche Zentren auch gar nicht der Tradition der Schweiz entsprechen. Anders als in unseren Nachbarländern gilt die Uni bei uns weniger als Ort der geistigen Entfaltung als der Vorbereitung auf einen Beruf. Der Inbegriff dieser Vorstellung ist die ETH.

Keine schlechte Haltung. Schliesslich gibt es in der Schweiz noch immer zu wenige Naturwissenschaftler und allzu viele Geisteswissenschaftler, die nach dem Uni-Abschluss keinen Job finden.

Solche Sachen schreiben die Sonntagszeitungen, die auf Zuspitzung aus sind. Sie sollten das in Ihrer Freitagszeitung nicht schreiben, weil es auch nicht stimmt. Der beste Beweis für meine Theorie ist unsere tiefe Arbeitslosenquote. Ägyptologie, Soziologie, ­Medienwissenschaften hin oder her: Die Integration in den Arbeitsmarkt funktioniert sehr gut. Trotzdem fehlt es an Mathematikern und Informa­tikern – aber nicht, weil es zu viele Geisteswissenschaftler gibt, sondern weil unser universitäres und wirtschaftliches System zu hochtourig läuft für unsere demografischen Verhältnisse. Um weiter so funktionieren zu können, sind wir auf Spezialisten aus dem Ausland angewiesen – nicht aus einer besonders weltoffenen Haltung heraus, sondern einfach, um ­unseren Stand zu halten.

Ganz grundsätzlich: Was machen die Geisteswissenschaftler falsch?

Sie sind meines Erachtens noch immer viel zu wenig selbstkritisch. Mit mehr Reflexion würden sie nämlich merken, dass sie viel zu stark in der Defensive sind. Ihnen geht es immer nur um den Erhalt des Status quo, um die Aufrechterhaltung der Professuren. (erhebt die Stimme) Lasst uns doch in Ruhe! Wir wollen einfach so weiter­arbeiten, wie alle unsere Vorgänger das bereits gemacht haben! So denken wir Geisteswissenschaftler oft. Aber das ist der falsche Ansatz.

Bleibt den Geisteswissenschaftlern etwas anderes übrig, als zu verteidigen, was zu verteidigen ist, solange Sparmassnahmen in diesem Bereich weltweit der Trend sind?

Aber natürlich. Sie müssten einfach wieder anfangen, Vertrauen zu haben. Vertrauen zum Beispiel in Empfehlungen der Rektorate, vor allem, wenn diese wie in Basel mit Geisteswissenschaftlern bestückt sind, dies nur als Klammerbemerkung. Mit dem neuen Vertrauen wäre es endlich möglich, strategisch zu denken und nicht immer nur taktisch. Die Frage muss lauten: Wie entwickle ich meine Wissenschaft weiter – und nicht: Wie rette ich diese Professur?

Gut, nehmen wir ein Beispiel: Im Fach Philosophie gibt es drei Lehrstühle, zwei werden vakant. Was raten Sie den Philosophen?

Als Rektor kann ich dazu nichts sagen, aber als Denker, im Sinne eines Gedankenspiels. Man könnte zum Beispiel sagen: Wir verzichten auf das Fach, weil die kritische Masse fehlt, um leistungsfähig zu sein und das Angebot auch dem Zeitgeist nicht mehr wirklich entspricht. Oder man könnte sagen: Jetzt bauen wir aus, holen drei, vier oder noch mehr neue Professoren und schaffen mit ihnen ein Zentrum der Weltphilosophie! Fast alles ist möglich, nur etwas geht nicht: das gleiche zu machen wie die Vorgänger. Sonst geht man unter.

Wer steht beim Fach Philosophie denn nun in der Pflicht?

Ich glaube an die Macht der Debatte. Die Vorschläge müssen bottom up kommen, zuerst von den Studenten und ihren Professoren, dann von der Fakultät. Schliesslich entscheidet die Uni­versität als Ganzes beziehungsweise der Univer­sitätsrat. Die Universität funktioniert wie eine Republik.

Spricht man mit Professoren, ­würden diese einwenden, dass vor lauter Sitzungen und Prüfungen kaum Zeit für die Debatte bleibe.

Auu, da irren Sie sich! Mit uns Professoren ist es so: Es ist durchaus der Fall, dass wir uns über zu viele Sitzungen beschweren. Wenn das Rektorat aber zur Entlastung ein Institut auf­lösen und ein grösseres Ganzes schaffen will, ist das uns auch nicht recht. Der Lehrkörper ist aus guten Gründen daran interessiert, was im eigenen Fach geschieht – und das bedingt halt Sitzungen. Genügend Zeit bleibt uns aber trotzdem.

Sitzungen sind nur das eine. Durch die Verschulung im ­Bologna-System ist auch der­ administrative Aufwand ge­stiegen. Da bleibt kein Raum für grosse Ideen.

Wie funktioniert denn dieses System anderswo? Man kann nicht sagen, dass wegen Bologna nicht mehr wissenschaftlich gearbeitet werden kann. In anderen Ländern, wo dieses System seit Jahrhunderten funktioniert, werden auch dicke Wälzer geschrieben – mehr noch als hier! Sie haben mich gefragt, was die Geisteswissenschaften falsch machen, hier haben wir noch ­einen weiteren Punkt. Die Geisteswissenschaften haben beschlossen, ­päpstlicher als der Papst zu sein. Die Bologna-Reform verlangt eine Überprüfung der Leistung. Leistung überprüfen? (er imitiert eine aufgeregte Stimme) Ja, dann werden auf Teufel komm raus mehrere Prüfungen pro Semester abgehalten! Vom Prüfungsverbot sind die Geisteswissenschaften zum Prüfungsgebot gelangt. Wir sind heute in der merkwürdigen Situation, dass wir vom Rektorat her sagen müssen, bitte, bitte, macht weniger Prüfungen. Dann heisst es: «Nein! Wir wollen das!» Und das sind die gleichen Menschen, die sich über Zeitmangel beklagen! Ich karikiere das jetzt. Aber nicht sehr. In den Geisteswissenschaften haben wir das Problem, dass das neue Studienmodell noch nicht wirklich verinnerlicht wurde.

Eine Art Anti-Haltung.

Genau! Lassen Sie mich eine kleine Anekdote erzählen. Als ich in Los ­Angeles lehrte, hatte ich einen Kollegen, einen Turkologen, der eher spezielle Kurse anbot. Dinge wie Chagataj oder osmanische Kalligraphie. Der hatte pro Semester einen oder zwei Studenten. Als die Dekanin intervenierte und meinte, er müsse etwas ­populärer werden, da beschloss er, ­einen Kurs anzubieten, wo man praktisch schon durch physische Präsenz ein A erhielt. Fortan hatte er 250 Basketball- und Footballspieler in osmanischer Kalligraphie! Das konnte kein Mensch glauben. Er meinte nur: Wenn die Verwaltung von mir verlangt, populärer zu werden, werde ich populärer. Das ist ein bisschen das Problem der Geisteswissenschaften von heute, sie unterliegen einem gewissen Radikalismus. Dieser wäre zu überwinden.

Sind die Geisteswissenschaftler zu sensibel?

Ja, sie sind ein bisschen zu sehr verliebt in das Verfahren. Was sie auch ­etwas besser machen könnten: sich peu à peu auf die empirische Schiene wagen. Wir mögen es akzeptieren oder nicht, aber der Weg der Wissenschaft geht in Richtung Empirie. Damit meine ich nicht, dass sich die Geisteswissenschaften in Details verlieren müssen, sondern vermehrt Verfahren entwickeln sollten, die ihnen bei der Überprüfung von Hypothesen helfen.

Damit bleibt ja noch weniger Zeit für die Debatte.

Das stimmt. Da sitzen wir arme ­Sünder irgendwie in der Mitte. Auf der ­einen Seite sind wir an den grossen Fragen interessiert, auf der anderen Seite können wir uns den grossen ­Fragen nur im Detail nähern.

Sie haben davon gesprochen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Auflösungsprozess befinde. Welche Themen in der Debatte müssten die Geisteswissenschaften nun besetzen?

Die Geisteswissenschaften sind dafür prädestiniert, ein Thema wieder zu ­besetzen, das sie in der Vergangenheit vernachlässigt haben: Was für eine Uni brauchen wir? Wie soll sie aussehen? Diese Frage wird heute anderen Stakeholders der Gesellschaft überlassen: der Wirtschaft, der Politik, der Presse, der Kultur.

Wir dachten eher an Themen im ausseruniversitären Bereich.

Da haben wir es mit einer typisch schweizerischen Situation zu tun. Wenn Sie die «Zeit» oder «Le monde littéraire» aufschlagen, sehen Sie, dass in diesen Ländern der soziale Diskurs dem entspricht, was Sie sagen: Die Geisteswissenschaften geben den Ton vor. Bei uns ist das nicht so.

Warum?

Bei uns ist der intellektuelle Diskurs nicht von den Geisteswissenschaften gestiftet. In der Schweiz stehen sozialwissenschaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Fragen im Vordergrund – man spricht an, was das Publikum rezipiert. Und rezipieren kann: Denn das ist eine Fähigkeit, die wir Geisteswissenschaftler verloren haben; die Fähigkeit, die eigene Ent­deckung in einer verständlichen Sprache wiederzugeben. Heute kann jeder Quantenphysiker in einem Interview viel komplexere Realitäten als in den Geisteswissenschaften auf den Punkt bringen. Und wir, als Träger jener Form von Wissen, das dem Menschen am nächsten ist, verbarrikadieren uns oft hinter einer verschraubten Sprache. Ich wünschte mir eine Rückkehr zur verständlichen Sprache.

Wenn es tatsächlich einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung gibt, bräuchte es neue Werte. Können die Geisteswissenschaftler, diese ewigen Zweifler und Nörgler, diese neuen Werte schaffen?

Da muss ich sie enttäuschen. Ich denke nicht, dass die Geisteswissenschaften das können, und ich denke nicht, dass sie das sollten. Die Geisteswissenschaften haben keinen normativen Charakter. Sie sind vielmehr dazu da, die Realität zu beschreiben, so wie sie war oder ist.

Wer soll dann diese normative Rolle übernehmen?

Das können wir nicht einfach so entscheiden. Diese Dinge betreffen die globale Kultur eines Zeitalters. In der protestantischen Welt übernahm die Theologie lange Jahre diese Rolle, sie hat über Jahrhunderte hinweg gesagt, wo es langgeht, hat Orientierungswissen geliefert. Mit der Aufklärung hat die Theologie ihre hegemonische Rolle verloren. Seither haben wir nur noch Fragen. Und nur episodische Antworten darauf. Von den Geisteswissenschaften nun diese normative Leistung zu verlangen, wäre zu viel verlangt. Das gäbe uns religiösen Charakter – und den wollen wir nicht.

Dann müssen wir ohne Vertrauen leben?

Ganz genau. Die Geisteswissenschaften tragen grundsätzlich zur Verun­sicherung bei. Das Problem heute ist die generelle Verunsicherung der ­Gesellschaft – gemeinsam mit den Geisteswissenschaften ergibt das ­Verunsicherung im Quadrat. Als die Werte, wie Sie sie nennen, früher in der Gesellschaft fest verankert waren, konnten die Geisteswissenschaften ­ihren Zweifel gut einpflanzen. Heute ist das schwieriger.

Nicht alle Gesellschaften sind gleich aufgeklärt.

Ja, und das traurige daran ist, dass die glücklichsten Menschen auf Erden nicht unbedingt die aufgeklärtesten sind. Das ist auch eine Realität, mit der die Geisteswissenschaften leben müssen.

 

Vielbeschäftigt

Uni-Rektor Antonio Loprieno hat eine anstrengende Woche hinter sich: Er traf die letzten Vorbereitungen für den höchsten Feiertag seiner Hochschule: für den Dies Academicus vom Freitag, 25. November. Auch danach hat er mit seiner Uni Grosses vor. Unter anderem plant er mehrere neue Schwerpunkte wie «European and International Studies» als Ergänzung zu den Schwerpunkten «Life Sciences» und «Kultur», wie der «Sonntag» berichtete.
Antonio Loprieno wurde 1955 in Italien geboren. Er studierte Ägyptologie, Sprachwissenschaft und Semitistik an der Universität von Turin, danach lehrte er in Italien, Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Israel. Seit 2000 ist Professor Loprieno Ordinarius für Ägyptologie an der Universität Basel. Derzeit ist er auch Präsident der Schweizerischen Rektorenkonferenz.

Quellen

Biographie von Antonio Loprieno auf der Website der Uni

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25/11/11

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