«Tachles»-Chefredaktor Yves Kugelmann über den Nahostkonflikt als «Krieg im Liveticker», überforderte Journalisten und sein Leben als Jude in der Schweiz.
Yves Kugelmann ist wohl jener Schweizer Chefredaktor, der der härtesten Leserkritik ausgesetzt ist. Der Name seines jüdischen Wochenmagazins ist Programm: «Tachles» bedeutet in der Umgangssprache «Klartext». Strikt nach dieser Maxime führt der 41-jährige Basler auch seine Redaktion. Vielen orthodoxen Juden ist der eloquente Schnelldenker politisch zu links und in gesellschaftspolitischen Fragen zu liberal – etwa wenn er sich für die Gleichberechtigung der Frauen in den jüdischen Gemeinden oder für mehr religiöse Toleranz einsetzt. Auch im neu entflammten Nahostkonflikt nimmt Kugelmann eine unabhängige Position ein. Für einen dauerhaften Frieden brauche es von beiden Seiten Konzessionen – und einen wirtschaftlichen Aufbruch, sagt er.
Wie geht es Ihren Verwandten und Freunden in Israel?
Die meisten haben solche Auseinandersetzungen schon erlebt: in den Golfkriegen, bei den letzten Offensiven in Libanon und Gaza. Im Grossen und Ganzen ging das Leben in den letzten Tagen einfach weiter – wobei noch unklar ist, wie sich der Anschlag vom letzten Mittwoch auf einen Bus in Tel Aviv auswirken wird. Ich hoffe, dass die angekündigte Waffenruhe eine endgültige ist und verhandelt wird.
Sie werden wahrscheinlich häufig auf den Konflikt angesprochen. Ärgert Sie das manchmal?
Überhaupt nicht. «Nahost» ist ein wesentlicher Teil meiner journalistischen Arbeit.
Bekommen Sie auch Vorwürfe zu hören?
Heute wird man tatsächlich kaum mehr mit Fragen konfrontiert, sondern fast nur noch mit Verlautbarungen und Behauptungen. Das betrifft uns Journalisten ganz speziell: Wir sind zum Mistkübel all dieser oft unreflektierten Meinungen geworden.
Haben Sie auch selbst eine Meinung, wer im Nahen Osten die Schuld trägt?
Es gibt viele Schuldige und es gibt sie auf allen Seiten – auch dort, wo man sie gar nicht vermuten würde. Für mich ist aber ohnehin nicht das die entscheidende Frage. Die ganze Konstellation im Nahen Osten ist derart verzwickt, in historischer, religiöser, kultureller, ethnischer und machtpolitischer Hinsicht, dass man sie gar nicht mehr aufdröseln kann. Man kann zwar sehr lange über alles diskutieren, über die Intifada von 1967, über 1948 und warum nicht auch noch über 1917 und die britische Deklaration – aber das bringt nichts. Deshalb fand ich den Ansatz des Oslo-Friedensprozesses sehr gut: Damals wurde unter die Vergangenheit ein Strich gemacht und nach einer politischen Lösung gesucht.
Der jetzige Konflikt eskalierte nach der Tötung des Hamas-Führers Ahmed al-Jabari durch die Israeli. Rund um diesen Tod gab es viele Gerüchte: Ein israelischer Unterhändler behauptet, er sei in den Verhandlungen mit al-Jabari kurz vor einer Einigung gestanden. Was halten Sie von dieser Aussage?
Im Hintergrund gibt es immer Kontakte zwischen Israeli und Palästinensern. Darüber gibt es dann auch immer sehr viele Gerüchte. Die kann man zur Kenntnis nehmen, ihren Wahrheitsgehalt aber nicht wirklich beurteilen. Noch interessanter scheint mir aber sowieso die Frage, wie die Entscheidungsträger auf beiden Seiten denken, welcher Logik sie folgen. Das wird bei uns oft missverstanden.
Welches Verständnis wäre denn das richtige?
Das Vorgehen der israelischen Regierung muss man in einem grösseren Kontext sehen: Sie will Israel als Land positionieren, das ebenso entschlossen wie fähig ist, seine Probleme alleine zu lösen, so unübersichtlich die Situation in der ganzen Region auch geworden ist. Die Luftschläge gegen Hamas als Teil des Wahlkampfs zu sehen, halte ich darum auch für absurd. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hätte die Neuwahlen sowieso gewonnen und braucht dafür keinen Krieg. Er kann in einem Krieg höchstens verlieren.
Dann waren die Luftschläge also eine Machtdemonstration?
Nein. Die Situation im Süden Israels erforderte ein Zeichen, denn Israels Bevölkerung möchte keine Regierung, die auf tägliche Raketeneinschläge nicht in irgendeiner Form reagiert. Viele hätten weitere Verhandlungen der Eskalation aber vorgezogen. Denn klar ist, dass die Militäreinsätze höchstens kurzfristig einen positiven Effekt haben – eine kurze Waffenruhe zum Beispiel wie nach dem letzten Gaza-Konflikt 2008/2009. Dann geht das Ganze wieder von vorne los.
Wie gross ist die Gefahr, dass sich der Konflikt ausweitet?
Militärisch betrachtet, ist die Gaza-Front für Israel keine grosse Herausforderung. Da hat der Konflikt an der Nordfront und vor allem mit Iran eine ganz andere Dimension. Darum glaube ich auch nicht, dass sich der Konflikt weiter verschärft. Nur schon wegen der Grossmächte USA, Russland und China, die ihren Einfluss im Hintergrund geltend machen. Hinzu kommt, dass der Nahe Osten nicht so irrational ist, wie man manchmal meint. Die Regierungen dort sind nicht durchgeknallt.
Die aggressive Rhetorik muss man also nicht ganz ernst nehmen?
Oft nicht. Das funktioniert ähnlich wie auf dem Basar. Da wird gefordert, gehandelt und am Schluss ist der Preis 20-mal tiefer als am Anfang. Dieses Prinzip macht die Politik natürlich schwer durchschaubar, auch für mich. Ich finde ja schon die Politik in Europa manchmal recht schwer verständlich.
Halten Sie eine friedliche Lösung unter diesen Umständen überhaupt noch für möglich?
Ja. Weil beide Seiten eigentlich das gleiche Ziel haben: Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt. Weder die Israeli noch die Araber sehen sich in der Mehrheit als Vollstrecker ideologischer Konzepte. Wenn die Menschen über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten und merken, dass ihnen diese Zusammenarbeit etwas bringt, dann ist eine Lösung möglich. Leider sind auf diesem Weg sehr viele Jahre verloren gegangen. Die Bevölkerungen haben sich in dieser Zeit stark verändert, radikalisiert. Nach Israel kamen 1,5 Millionen Einwanderer aus Russland, eine Million aus den arabischen Ländern. Das von vielen herbeigewünschte europäische Israel gibt es nicht mehr. Darum haben jetzt auch Politiker das Sagen, die eher etwas hemdsärmlig politisieren und nicht so schöngeistig-europäisch, wie das vielen lieb wäre. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch auf der anderen Seite.
Sehen Sie auch positive Ansätze?
In Ramallah zum Beispiel. Das ist eine sehr moderne Stadt, gut entwickelt, ähnlich wie Tel Aviv. Dort gibt es viele Investoren, die apolitisch sind. Allerdings bleibt auch dort nicht mehr viel Zeit für einen nachhaltigen Wandel. Ramallah war säkular und wird jetzt immer stärker religiös aufgeladen.
Setzen sich in der Politik aber nicht meistens jene Kräfte durch, die aufs Militär setzen und nicht auf Zusammenarbeit?
Die Falken setzen sich zwar oft durch, sie bringen ihr Land aber nie wirklich weiter. Meines Wissens gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg keinen einzigen Konflikt, der mit kriegerischen Mitteln und langfristigem Erfolg gelöst wurde. Und auch damals waren der Marshallplan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und die europäische Integration mitentscheidend. Vereinfacht betrachtet, läuft die moderne Geschichte immer gleich ab: Da gibt es die Falken, die ihr Land an die Wand fahren, dann kommen wieder die konstruktiven Kräfte, die eine friedliche Lösung suchen.
Umstritten ist auch die Berichterstattung – auch hier in der Schweiz. Jüdische Kreise werfen den Medien häufig vor, sie würden einseitig berichten.
Einzelne Juden bezeichnen die Medien als antiisraelisch, einzelne Palästinenser als antipalästinensisch. Ich würde sagen: Die Berichterstattung ist wegen der Zensur in den Kriegsgebieten und den vielen Gerüchten vor allem schwierig. Teilweise ist sie auch fehlerhaft, weil es immer weniger Fachjournalisten und Korrespondenten gibt und der reflektionslose Realtime-Journalismus immer wichtiger wird.
Immer wichtiger werden auch soziale Medien – für die Kriegsparteien und die Bevölkerung. Was halten Sie davon?
Das ist eine sehr, sehr gefährliche Entwicklung.
Aber im «arabischen Frühling» hatte Twitter zum Beispiel noch einen sehr guten Ruf.
Logisch. Damals dienten solche Kanäle ja auch vor allem der Mobilisierung der Bevölkerung, der Organisation der Demonstrationen. Im jetzigen Konflikt werden diese Plattformen aber stark benutzt, um Propaganda zu betreiben. Dabei verbreiten sich auch Falschinformationen und Hetztiraden grossflächig und schnell. Leider passt sich die Berichterstattung diesem Tempo selbst in seriösen Medien an. Auf ihren Internetseiten verkünden sie, dass um 15.24 Uhr das und das passiert sei, um 15.43 Uhr jenes … Krieg im Liveticker, als spektakulärer Schlagabtausch, fast wie ein Fussballspiel. Das Ganze erhält eine bisher unbekannte Dynamik, die weit über das Marktschreierische hinausgeht, über das wir vorhin gesprochen haben. Eine Dynamik, die vielleicht bald niemand mehr stoppen kann.
Gerne kritisiert wird auch Ihre Zeitung. Konservative Juden bezeichnen «Tachles» als zu links.
Nun ja, da unterscheiden sich Juden nicht gross von Nichtjuden. Die konservativ denkenden unter ihnen haben Mühe mit offenen, liberalen Plattformen und mit journalistischen sowieso. Sie möchten ihre Parolen in der Zeitung ungefiltert wiedergeben und lesen können. Darum macht ja jetzt auch die SVP ihre eigene Zeitung.
Wie stark israelkritisch ist denn «Tachles»?
Wir sind nicht israelkritisch, sondern regierungskritisch. Egal, ob linke oder rechte Regierungen an der Macht sind. Das gilt für Israel genauso wie für die Schweiz. Kritik ist Kern des Journalismus, sie orientiert sich nicht an der offiziellen politischen Agenda, sondern an universellen Rechten.
Wie ist denn Ihr persönliches Verhältnis zu Israel?
Es ist im Guten wie im Schlechten eng, verbindlich, unauflösbar.
Und wie schätzen Sie das Verhältnis der Schweizer Bevölkerung zu Israel ein?
Das hat sich markant verändert seit den 1960er-Jahren. Damals gab es eine historisch bedingte Israel-Euphorie und eine Art Kleinstaaten-Solidarität. Spätestens seit dem Libanonkrieg von 1982 ist das anders geworden. Seither wird Israel von vielen als Aggressor identifiziert. Die Wahrnehmung hat sich um 180 Grad gedreht: So unkritisch man gegenüber Israel in den 1960er-Jahren war, so überkritisch ist man heute.
Wie würden Sie die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz beurteilen: als eher konservativ oder als säkular-offen?
Ich glaube, sie ist sehr heterogen – sowohl in Bezug auf die Demografie wie auch in religiöser und politischer Hinsicht. Deshalb führen wir von «Tachles» wahrscheinlich auch sehr mehr emotional aufgeladene Debatten mit unserer Leserschaft als andere Schweizer Zeitungen. Dazu kommt noch die Identitätsfrage, die alle Juden beschäftigt: Wer bin ich? Was ist für mich jüdisch? In welcher Form will ich jüdisch leben? Diese Fragen bergen viel Diskussionspotenzial.
Wie auch die Beschneidungsdebatte vor ein paar Monaten: War das Sommertheater, oder tat sich hier ein ernstzunehmender Graben zwischen der europäischen und jüdischen Kultur auf?
Für mich spiegelt sich in dieser Debatte eine gewisse Form der Überforderung im Umgang mit fremden Lebensformen. Man präsentiert sich hierzulande ja gerne als multikulturell und beschönigt gleichzeitig die Folgen der Multikulturalisierung. Geht es dann plötzlich um ein konkretes Problem, verzichten die meisten darauf, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Und warum ist das so?
In den vergangenen 20 Jahren hat man dem Umgang mit dem Fremden und dem vermeintlich Fremden zu wenig Beachtung geschenkt. Umgekehrt interagieren praktizierende Juden und Muslime auch zu wenig mit der Mehrheitsgesellschaft: Statt sich den Problemen zu stellen, führen sie einfach die Religionsfreiheit ins Feld.
Es gibt weitere delikate Themen, etwa die Vorbehalte vieler Juden gegenüber gemischten Ehen. Ist diese Haltung noch zeitgemäss?
Sie ist so wenig zeitgemäss wie die Diskussion über protestantisch-katholische Ehen in den 1960er-Jahren. Man muss diese Haltung aber auch vor dem Hintergrund der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sehen, als die jüdische Gemeinschaft gewalttätig dezimiert wurde. In den nachfolgenden Jahrzehnten ging es darum, die demografische Lücke des Holocausts zu schliessen. Wichtig scheint mir, dass die jüdische Gemeinschaft dieses Problem heute offen diskutiert, auch wenn das mitunter zu wenig geschieht.
Ein anderes heikles Thema ist die Rolle der Frau.
Ursprünglich war das Judentum sehr matriarchalisch geprägt. Das Patriarchalische wird vor allem von der orthodoxen Seite stark kultiviert. Das ist aber ein Phänomen, das sich in fast allen konservativ-orthodoxen Gemeinschaften offenbart – egal, ob es sich um religiöse oder kulturelle Gemeinschaften handelt. Ich glaube, für die jüdischen Frauen hat sich vieles zum Besseren gekehrt, auch wenn sie in manchen orthodoxen Gemeinden der Schweiz noch immer kein Stimm- und Mitgliedschaftsrecht haben. Das kritisiert auch «Tachles», was uns immer wieder Ärger einbringt.
Wie wichtig sind die jüdischen Riten für Sie persönlich? Gehen Sie regelmässig in die Synagoge?
Immer wieder. Für mich ist die Syn-agoge ein Begegnungsort – das ist sie übrigens auch von der Bestimmung her: ein «Lernhaus». Ich praktiziere das Judentum auf einer inhaltlichen, kulturellen, rituellen, aber nicht spirituellen Ebene.
Das heisst also, dass Sie zum Beispiel am Samstag nicht arbeiten?
Ja, aber so bin ich aufgewachsen. Ich tue das nicht, weil ich Angst hätte, der Himmel würde mir auf den Kopf fallen, wenn ich arbeiten würde. Es ist für mich einfach eine Tradition, die einen Sinn hat: die Pause zum fixen Prinzip zu machen.
Wie der Sonntag bei den Christen.
Genau. Das ist das Schöne daran, wenn man in der Schweiz lebt und jüdisch ist: Man hat zwei ganz besondere Tage pro Woche. Das ist doch grossartig!
Yves Kugelmann wurde 1971 in Basel geboren. Seit 2001 ist er Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «Tachles» und der «revue juive». Zuvor war er Chefredaktor der «Jüdischen Rundschau». Seit 2004 leitet Kugelmann die Redaktion des internationalen Monatsmagazins «Aufbau» des Serenade Verlags, der 1934 von deutschsprachigen Emigranten in New York gegründet wurde. 2008 übernahm er die JM Jüdische Medien AG, Herausgeberin von «Tachles» und «revue juive». Ausserdem ist Kugelmann Mitglied im Stiftungsrat des Anne Frank Fonds (Basel) sowie der Stiftung Forschung für Öffentlichkeit und Gesellschaft, die das Jahrbuch zur «Qualität der Medien in der Schweiz» herausgibt.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12