Katja Polzin, Geschäftsführerin beim Schweizer Tierschutz (STS), über Tiere und Menschen, über deren Beziehung und weshalb dem Tierschutz die Arbeit nie ausgeht.
Das Hauptquartier des ältesten und grössten Tierschutzvereins der Schweiz, die Geschäftsstelle des STS, befindet sich in einem ehemaligen Fabrikgebäude in einem Hinterhof im Basler Gundeldingerquartier. Schnell wird klar, dass hier Tiere eine wichtige Rolle spielen: Auf dem Boden, neben den Pulten, sind vier oder fünf Hundekörbe platziert. Alle leer (ferienhalber, wie wir später erfahren) – bis auf einen, und dem entsteigt eine blonde Hundedame mit freundlichem Blick. Sie checkt die Besucher mit einem kurzen Schnuppern, gibt schwanzwedelnd Entwarnung und trottet zu Katja Polzin, Geschäftsführerin beim STS und für die kommende Stunde unsere Interviewpartnerin.
Frau Polzin, in der Schweiz haben 30 Prozent der Haushalte mindestens ein Haustier, die Hitliste führen die Katzen mit rund 1,35 Millionen an, gefolgt von einer halben Million Hunde. Wie siehts bei Ihnen aus?
Ich bin einer von diesen 500 000 Hundebesitzern, ich habe einen Hund. Sie hier, sie heisst Praia. Ich habe sie nun schon 14 Jahre lang, sie ist quasi mit mir im STS gross geworden. Ich habe Praia gefunden, als sie etwa vier Wochen alt war.
Wie gefunden?
Ich war in Portugal in den Ferien und hörte aus einem Gebüsch heraus ein Quietschen und Wimmern. Ich schaute nach, und da lag so ein hellbeiges Knäuelchen, das weder laufen konnte noch sonst irgendwas. Ich bemühte mich dann, die Besitzer des Hündchens zu finden – chancenlos. Irgendjemand hatte das Tier dort ausgesetzt, sich seiner entledigt. Und ich konnte es natürlich nicht einfach dort liegenlassen.
Wenn man in südlichen Ländern in den Ferien ist, sieht man sehr viel Tierleid – streunende, kranke und halbverhungerte Katzen und Hunde. Weshalb ist das so in diesen Ländern?
Ich will nicht pauschalisieren, es gibt auch in den südlichen Ländern Menschen, die gut zu den Tieren schauen. Aber im Grossen und Ganzen kann man sagen: Das Tier ist eine Sache und muss einen Dienst tun, einen Hund hat man beispielsweise statt einer Alarmanlage. Es gibt auch selten Kastrationen. Hunde und Katzen vermehren sich meist unkontrolliert. Und ein Haustier kostet Geld, was vielen Leuten fehlt; sie leben nicht den Standard wie wir ihn haben. Deshalb ist klar, ein Tier, das Geld kostet und keinen Nutzen hat – dessen entledigt man sich.
Bei uns gibt die Bevölkerung jährlich mehrere Millionen für Futter, Tierarzt und Zubehör aus. Manche sagen, das sei angesichts dessen, dass in anderen Teilen der Welt Menschen verhungern, pervers.
Die Heimtierindustrie ist ein riesiges Business und pumpt sehr viel Geld in die Werbung. Daraus ergibt sich dann oft eine Vermenschlichung des Tiers, eine falsch verstandene Tierliebe. Tiere werden zu Partnern oder zum Kinderersatz, tragen Designer-Mäntelchen, gehen zweimal die Woche zum Friseur. Als Tierschützer kann man dafür nur schwer Verständnis aufbringen. Denn eine exzessive Tierliebe ist ebenso wenig tiergerecht wie die ausbeuterische Nutzung des Tiers, die es zur Sache herabsetzt.
Weshalb soll sich ein einsamer Mensch nicht ein Tier halten, wenn es ihm dadurch besser geht?
Wenn das einem Menschen das Dasein verschönert und das Tier gut gehalten wird, ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden. Aber falsch ist, wenn ein Hund kein Hund mehr, eine Katze keine Katze mehr sein kann. Über artgerechte Haltung von Haustieren zu informieren ist deshalb eine der Hauptaufgaben des STS.
Auf der einen Seite haben wir also die übertriebene Tierliebe, auf der anderen einen grossen Fleischkonsum, bei dem es vielen Menschen völlig egal ist, wie das Tier gehalten wurde. Hauptsache, das Fleisch ist billig.
Das ist tatsächlich ein ganz grosser Widerspruch: Streicheln und töten. Dennoch halten viele Menschen diesen Widerspruch aus, weil die Tötung hinter den Kulissen stattfindet. Und die Nutzung der Nutztiere ist delegiert; viele wollen nicht wissen, was da passiert. Das ist das eigentliche Problem. Der STS propagiert denn auch nicht den totalen Fleischverzicht, sondern einen vertretbaren Konsum. Ich selber bin auch keine Vegetarierin, aber ich lebe ganz nach dem Modell: Zurück zum Sonntagsbraten – und dort sollten alle Fleischesser wieder hinkommen.
Was heisst das?
Weniger und besseres Fleisch konsumieren. Wir sollten wissen, woher das Fleisch kommt – von Tieren, die Auslauf hatten und fressen konnten, was ihrer Natur entspricht. Tiere, die nicht gequält und misshandelt wurden und/oder noch tagelang im Transporter durchs Land gekarrt wurden. Diese Alternativen gibts, und die Entscheidung liegt in unserer moralischen Verantwortung. Jeder kann sich diese Alternative aussuchen, man muss es nur wollen.
«Die Bilder über die blutige Pelzgewinnung in China übertreffen die Grausamkeit alles bisher Dagewesenen.»
Der STS macht immer wieder mit Kampagnen auf Missstände in der Tierhaltung aufmerksam. Letztes Jahr zum Pouletfleisch, davor zu den Billigpelzen aus China. Was nützen solche Kampagnen?
Was den Fleischkonsum betrifft, sind wir in der Schweiz nicht so schlechtgestellt. Wir haben eine bedeutende Gegenbewegung, die Bevölkerung hat eine grosse Sensibilität zu diesem Thema entwickelt – dank Tierschutz- und Konsumentenorganisationen.
Worin zeigt sich das?
Zum Beispiel dadurch, dass die Anzahl der überzeugten Vegetarier steigt und der Fleischkonsum seit Ende der 1980er-Jahre um 20 Kilogramm pro Person und Jahr zurückgegangen ist. Das merke ich auch in meinem eigenen Umfeld. Aber auch durch unsere Zusammenarbeit mit verschiedenen Labelorganisationen. Man stellt ein Umdenken fest. Das heisst nicht, dass wir nicht noch viele Baustellen haben, an denen wir arbeiten müssen. Wenn man sich das Pelztragen anschaut – dort liegt meine Toleranzgrenze auch als Modefreak und ehemalige Modefachfrau bei absolut zero! Ich kann wirklich überhaupt nicht verstehen, wie ein einigermassen intelligenter Mensch ein Kleidungsstück mit Pelz tragen kann und sich unwissend über die barbarischen Methoden der Pelzgewinnung gibt.
Das kann auch Ignoranz sein. Es kann ja sein, dass jemand sagt, mir ist schnurzegal, ob dieses Fell an meiner Kapuze einem Hund bei lebendigem Leib abgezogen wurde. Die Jacke gefällt mir, Punkt.
Möglich, aber bei so jemandem ist eh Hopfen und Malz verloren, solche Menschen wird es immer geben. Ich meine jetzt die, die sagen, sie wüssten nicht, was da für eine Tierquälerei an ihrem Kragen ist. Denen kann ich nur empfehlen, auf unsere Homepage zu gehen und sich den Film über die blutige Pelzgewinnung in China anzuschauen. Diese Bilder übertreffen die Grausamkeiten alles bereits dagewesenen Materials. Pelztragen ist einfach eine Gewissensfrage, und wir, der STS, werden weiter mit dem Motto «Lieber nackt als im Pelz» dagegen kämpfen.
Weshalb engagieren Sie sich so für den Tierschutz?
Ich war etwa 30, als ich nach mehreren erfolgreichen Jahren in der Privatwirtschaft den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung verspürte. Ich wollte etwas tun, wo mein starker Sinn nach Gerechtigkeit zum Zuge kommen konnte. So führte mich mein Weg zum STS. Tiere und der Tierschutz waren ein Thema, das mich von klein an beschäftigte. Zum Leidwesen meiner Eltern schleppte ich als Kind alles nach Hause, was meiner Meinung nach gerettet werden musste. Und nun bin ich unglaublich glücklich und dankbar, dass ich seit bald 14 Jahren einen Traumjob ausüben darf.
Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, die Frauen sind ohnehin mehr für tierschützerische Anliegen zu haben als Männer. Stimmt dieser Eindruck?
Dass Frauen die besseren Tierschützer sind, kann ich so nicht bejahen. Aber aus meiner Erfahrung, wenn ich die Anrufe, die E-Mails, Korrespondenz anschaue, wer sich für Freiwilligeneinsätze meldet, dann machen Frauen ganz klar das Rennen.
Haben Sie eine Erkärung dafür?
Es hat wohl damit zu tun, dass Frauen eher Gefühle zeigen und auch zu diesen stehen dürfen. Männer, die sich im Tierschutz engagieren, werden vielleicht belächelt. Es braucht Stärke, sich als Mann für den Tierschutz zu outen und sich zu engagieren. Ich kenne zum Glück ein paar von diesen starken Typen. Aber auch im Tierschutz ist es so, dass die Männer an den Spitzen anzutreffen sind und die Frauen eher die Knochenarbeit an der Basis machen.
Wie ist es beim STS?
Bei unseren Sektionen ist der Anteil der Frauen in Führungspositionen erfreulicherweise sehr hoch: 33 Präsidentinnen zu 36 Präsidenten.
Sie haben vorhin Telefon und Mails angesprochen. Wie viele Anrufe wegen Verdacht auf Tierquälerei bekommt ihr beim STS?
Wie viele Telefone allein wegen Tierquälerei bei uns eingehen, kann ich jetzt nicht sagen, aber allein wir hier auf der Geschäftsstelle haben im Jahr weit über 10 000 Anrufe, das betrifft aber alles. Es kann sein, dass Frau XY das Meersäuli gestorben ist und sie braucht ein Ohr, um sich den Kummer von der Seele zu reden. Es können Sachfragen zur Pferdehaltung sein oder Fragen nach einem unserer Projekte oder eben auch Meldungen von Tierquälerei.
Und was tun Sie, wenn jemand eine Tierquälerei meldet, rufen Sie die Polizei?
Grundsätzlich müssen Tierquälereien schriftlich bei uns eingereicht werden. Dann wird gecheckt, worum es geht und wie dringend ein Eingreifen ist. Oft geht es jedoch gar nicht um ein Tier, sondern um nachbarschaftliche Streitigkeiten. Deshalb wird eine Meldung jeweils von unserem Rechtsdienst überprüft. Wenn es so ist wie zum Beispiel in einem Fall, wo ein Hund den ganzen Tag an einer Heizung angebunden war, dann pressiert es. Dann muss das Tier so schnell wie möglich mithilfe der Behörden aus der tierquälerischen Situation befreit werden.
Haben solche Fälle zu- oder abgenommen?
Tierquälereien haben eher zugenommen.
Warum denn, die Aufklärung ist doch besser geworden?
Ich vermute, dass das insgesamt mit der Zunahme einer gewissen gesellschaftlichen Frustration zu tun hat, mit einer gesunkenen Hemmschwelle gegenüber Gewalt auch. Die ist ja überall feststellbar. Auf der anderen Seite finden heute glücklicherweise viele Menschen, dass Tierquälerei keine Bagatelle ist und melden dann solche Fälle vermehrt.
Und der Umstand, dass Tiere ein Konsumartikel geworden sind?
Ja, ein Tier ist sehr schnell gekauft, die STS-Sektionen nehmen jährlich ungefähr 25 000 Tiere auf, die wieder platziert werden müssen. Eins der grossen Probleme, mit dem wir früher nicht konfrontiert waren, ist das ganze Internetangebot. Du kannst per Mausklick ein Tier bestellen. Das hat zu einem dramatischen Anstieg der Verkaufszahlen geführt – Hunde, Katzen, Reptilien – alles ist käuflich. Auch dort ist der STS sehr aktiv, wir haben mit sämtlichen Internetplattform-Anbietern Kontakt aufgenommen, und einige sind bereit, Inserate kritisch zu behandeln und vor der Aufschaltung auf deren Seriosität zu überprüfen.
Die STS-Sektionen nehmen jährlich ungefähr 25 000 Tiere auf, die wieder platziert werden müssen
Wo sieht der STS den grössten Handlungsbedarf?
Sicher beim Fleischkonsum, wo wir uns mit dem Projekt «Essen mit Herz» engagieren. Dauerthemen liegen auch im Heimtierbereich. Momentan boomen die Reptilien geradezu unheimlich. Immer wieder Thema ist die Katzenkastration. Dazu haben wir aktuell eine Umfrage bei den Tierärzten, Veterinärämtern, Gemeinden und Landwirtschaftsämtern laufen. Wir müssen unbedingt analysieren, weshalb wir die Population von Bauernhofkatzen und verwilderten Katzen nicht reduzieren konnten – obwohl wir nun seit über 17 Jahren Kastrationsaktionen durchführen und schon Millionen Franken da hineingesteckt haben.
Und wann gibt es Resultate?
Wir erwarten sie im Laufe von 2014. Von der Analyse erhoffen wir uns Aufschluss über das weitere Vorgehen. Wen wir ins Boot holen müssen, und wie wir die Gemeinden zum Mitmachen auffordern können. Es bleibt ja immer alles am Tierschutz hängen.
Warum eigentlich? Obwohl der Tierschutz gesetzlich verankert ist, wird er mehrheitlich von Vereinen übernommen, die keinerlei staatliche Subventionen erhalten.
Es gibt Kantone, mit denen es gewisse Agreements gibt, wenn beschlagnahmte Tiere untergebracht werden müssen. Aber mehrheitlich ist es tatsächlich so, dass die Kosten bei den Tierschutzvereinen bleiben. Aber beim Staat Geld beantragen? Nein, dort können wir nicht landen. Es heisst dann: Ihr macht doch freiwillige Arbeit und lebt von Spenden.
Haben die Spenden zu- oder abgenommen?
Die Spenden sind trotz der wirtschaftlich angespannteren Situation erstaunlicherweise gleichbleibend. Das zeugt sicher von unserem Leistungsausweis. Wir haben sehr treue Spender, Gönner und Gönnerinnen, die unsere Tierschutzarbeit schätzen und deshalb gerne honorieren.
Das bringt mich zu der letzten Frage: Halten Sie Menschen, die Tiere nicht mögen, für schlechte Menschen?
Ich halte sie nicht für schlechte Menschen, nein. Aber ich habe vielleicht kein Verständnis dafür. Tiere, Blumen, Bäume – das alles ist doch existenziell für unser Dasein. Menschen, die Tiere nicht mögen, verpassen unglaublich viel vom Leben.
Von der Modefrau zur Tierschützerin Die 48-jährige Katja Polzin arbeitete mehrere Jahre in der Modebranche, bevor sie vor 14 Jahren beim Schweizer Tierschutz (STS) einstieg. Und es dauerte nicht lange, bis Polzin, die ein Studium für Marketing und Management abgeschlossen hat, beim STS die Karriereleiter hochkletterte. Ein Jahr nach ihrer Festanstellung wurde sie zur Leiterin der Geschäftsstelle ernannt und nochmals ein Jahr später zur Geschäftsführerin Administration. Sie teilt sich die Spitzenposition beim STS mit dem Nutztierspezialisten Hans-Ulrich Huber, der für die Geschäftsführung Fachbereich zuständig ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.04.13