Viele Bürger haben es schon begriffen: Die Menschen, die heute zu uns fliehen und unsere Hilfe brauchen, helfen morgen, unsere Gesellschaft voranzubringen. Wann sagt das endlich auch die «offizielle» Schweiz?
Abel, Aynur, Bajram, Elango, Hinok, Kiflemariam, Nasuf, Nazim, Nazmi, Osman, Sheqir, Soledad, Songül: Sie stammen aus so unterschiedlichen Ländern wie Äthiopien, Chile, Honduras, Kuba, aus dem Kosovo und aus der Türkei. Sie – oder ihre Eltern – wurden aus ihrem Heimatland vertrieben. Von Kriegen, Terror und Militärdiktaturen. Sie haben als Flüchtlinge Aufnahme in der Schweiz gefunden. Und heute sind sie meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen. Als Unia-Mitarbeitende kämpfen sie für die Interessen aller Arbeitnehmenden in unserem Land.
Vergessen wir nie: Es geht nicht um anonyme «Ströme» und «Wellen», wenn von «Flüchtlingskatastrophen» die Rede ist. Der traurige «Body-Count» am Mittelmeer, die Fotos von überfüllten Flüchtlingsbooten, von Polizeieinsätzen gegen Menschenmassen am Stacheldraht – sie schaffen ein falsches Bild.
Unmenschlich und dumm
Es geht um Menschen. Die Flüchtlinge von heute sind unsere Kollegen und Kolleginnen von morgen. Diejenigen, die bleiben, werden ihren Teil dazu beitragen, unsere Gesellschaft voranzubringen. Wer sich abschottet und Millionen für Grenzzäune und Abschreckung vergeudet, statt sie für die Integration der Neuankömmlinge einzusetzen, handelt darum nicht nur unmenschlich, sondern auch dumm.
Menschen sterben in den Fluchtländern oder auf dem Weg nach Europa. Hier, in den Aufnahmeländern, gibt es vielleicht logistische Probleme, die sich aber mit ein bisschen politischem guten Willen lösen lassen. Politikerinnen und Politiker, Staatsangestellte und Medienschaffende: Hört endlich auf, so zu tun, als wäre es für Europa ein Problem, ein paar Hunderttausend – oder auch ein paar Millionen – Flüchtlinge aufzunehmen!
Ich bin froh, dass das auch in der Schweiz viele Menschen so sehen. Die Tausende, die sich in den letzten Wochen und Monaten spontan bereit erklärt haben, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, erfüllen mich mit Stolz auf unser Land. Umgekehrt schäme ich mich dafür, dass die «offizielle» Schweiz angesichts der menschlichen Not keine klarere Haltung einnimmt und manchmal selbst Ängste und Vorurteile schürt.
Fremdenfeindlichkeit wird man nie ganz ausrotten können. Aber dass sich dieses Krebsgeschwür in unseren Behörden ausbreitet, das dürfen wir nie zulassen.
Die Tochter einer Unia-Kollegin hat mir kürzlich folgende erschreckende Geschichte erzählt: Anfang September meldete sie sich bei der Asylbehörde ihrer Wohngemeinde in einem Zentralschweizer Kanton. Sie wollte wissen, wie sie sich in der Flüchtlingshilfe engagieren könne. Der Sozialamtsvorsteher und die Leiterin des Asylwesens wiesen sie ab. Es handle sich bloss um muslimische Wirtschaftsflüchtlinge, die seien alle mit mehreren Koffern und Handy angekommen. Übrigens sei auch schon vorgekommen, dass Flüchtlingshelfer die Telefon- und Autonummer hätten wechseln müssen. Sie solle doch gescheiter Schweizern helfen, zum Beispiel Familien mit behinderten Kindern.
Selbstverständlich helfen
Es ist sonst nicht meine Art, Angela Merkel zu zitieren – aber wenn das die Schweiz ist, in der wir leben sollen, dann ist das nicht mehr mein Land.
Frau Sommaruga: Sorgen Sie dafür, dass die Behörden auf allen Ebenen ihre asylpolitischen Aufgaben wahrnehmen, statt hilfsbereiten Bürgerinnen und Bürgern Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sagen Sie endlich klipp und klar, dass unser Land viel mehr Flüchtlinge aufnehmen kann, ohne dass irgendjemandem daraus ein Nachteil entsteht! Sagen Sie, dass die Schweiz selbstverständlich hilft, wenn Menschen in Not sind. Hören Sie sofort mit den Schengen-Rückführungen auf. Führen Sie das Botschaftsasyl wieder ein, damit verfolgte und vertriebene Menschen auf sicheren Wegen in die Schweiz gelangen können.
Fremdenfeindlichkeit wird man nie ganz ausrotten können. Aber dass sich dieses Krebsgeschwür in unseren Behörden ausbreitet, das dürfen wir nie zulassen.