Apropos Demokratie: Was wir Schweizer von den Amerikanern lernen können

Sieben von zehn US-Amerikanern kennen auf bundesstaatlicher oder städtischer Ebene direktdemokratische Rechte. Die Schweiz könnte von diesen Erfahrungen lernen.

Voters cast ballots at a polling place on Election Day in San Francisco, California November 4, 2014. Voters in the United States took to the polls on Tuesday, casting ballots in midterm elections. REUTERS/Robert Galbraith (UNITED STATES - Tags: ELECTIONS POLITICS) - RTR4CT24 (Bild: © Robert Galbraith / Reuters)

Sieben von zehn US-Amerikanern leben in einem der 27 Bundesstaaten oder in einer Grossstadt, die direktdemokratische Rechte kennen. Von den Erfahrungen, die sie damit machen, könnten Schweizer lernen, so wie die US-Bürger von der Schweiz lernten, als sie vor 100 Jahren direktdemokratische Instrumente erkämpften.

Der Zürcher Handwerker Rolf Bosshard staunte nicht wenig, als er im Herbst 1893 in Portland ankam, einer Stadt im Staat Oregon in der Nordwest-Ecke der USA. Zuerst war er limmat- und rheinabwärts nach Rotterdam gefahren, dann während dreier Wochen mit dem Dampfschiff über den Atlantik nach New York.

Den anstrengendsten Teil seiner Reise bildeten aber die über 3000 Kilometer mit Dampfeisenbahn und Pferdekutschen über Chicago nach San Francisco und dann durch Nordkalifornien nach Portland, 100 Kilometer von der Küste des Stillen Ozeans entfernt.

Dort angekommen, staunte Bosshard über die politischen Verhältnisse. Sie glichen jenen, die Zürich 25 Jahre zuvor mit einer kleinen demokratischen Revolution überwunden hatte. Was Bosshard vollends aus dem Häuschen brachte: In Oregon kursierte unter Handwerkern und Arbeitern die Broschüre eines New Yorker Journalisten namens John Sullivan, der wenige Jahre zuvor in Zürich gewesen war. Nun empfahl er in seiner Broschüre die Zürcher Errungenschaften – umfassende Volksrechte – den Oregoniern als Medizin gegen die korrupten politischen Eliten.

Die Macht der Eisenbahnbarone

Wie weiland in Zürich Alfred Escher herrschten vor der Jahrhundertwende auch in Oregon die Eisenbahnbarone über die beiden Parlamentskammern. Sie liessen gegen Hunderttausende von Dollars die Gesetze so schreiben und verabschieden, wie es ihren Geschäftsinteressen am besten entsprach. Sodass sie billig Land und Eisenbahnbaukonzessionen kaufen, Arbeiter ungeschützt und unterbezahlt die Eisenbahnlinien bauen lassen und gleichzeitig jeglichen Widerstand gegen die Einfuhr von günstigen Landwirtschaftserzeugnissen gesetzlich unterbinden konnten.

Gegen diese Herrschaft und gegen diese Herrschaften wehrten sich immer mehr Bauern, Handwerker und Arbeiter, deren Sorgen das alte Parlament einfach in den Wind schlug. Es gelang diesem «Populist-Movement» nach mehreren vergeblichen Anläufen 1902, die Verfassung Oregons so zu revidieren, dass nun gegen parlamentarisch verabschiedete Gesetze das Referendum ergriffen und neue Gesetzesrevisionen mittels Volksinitiativen zur Volksabstimmung gebracht werden konnten.

Die Volksrechte führten 1914 in Oregon zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts und zur Abschaffung der Todesstrafe.

Von diesen neuen Volksrechten, bald landesweit als «Oregon System» bekannt, wurde in Oregon sofort rege Gebrauch gemacht. Nicht nur wurde die Herrschaft der Eisenbahnbarone ausgehebelt, sondern es kamen auch ausgesprochen progressive Volksmehrheiten zustande: 1914 wurde in Oregon wie zuvor schon in Colorado mittels der direkten Demokratie das Frauenstimm- und Wahlrecht eingeführt, die Todesstrafe abgeschafft und der Arbeitstag für alle Arbeiterinnen und Arbeiter auf acht Stunden begrenzt.

Die Idee der Volksrechte zur Demokratisierung der parlamentarischen, aber von den Wirtschaftsbossen gelenkten Demokratie war so überzeugend, dass sie bis zum 1. Weltkrieg nicht nur im Nachbarstaat Kalifornien, sondern in über 15 US-Bundesstaaten durchgesetzt werden konnte. Heute leben 70 Prozent aller US-Bürgerinnen und Bürger in einem der 27 Bundesstaaten mit mehr oder weniger ausgebauter direkter Demokratie.

Beliebt und doch oft kritisiert

Oregon, wo heute fast vier Millionen Menschen leben, und der mit 37 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste US-Bundesstaat Kalifornien gehören zu jenen Bundesstaaten mit der intensivsten direkten Demokratie. So wurde in Kalifornien bis 2010 über 400 Gesetzes- und Verfassungsinitiativen abgestimmt, in Oregon über etwa 350.

Dabei, so meint heute der Enkel von Rolf Bosshard, der sich immer wieder auch über den Umgang mit der direkten Demokratie in der Schweiz informiert und diese mit seinen eigenen Beobachtungen an der US-Westküste vergleicht, sind sowohl die Parallelen wie auch die Unterschiede frappant. Beliebt und intensiv gebraucht werden die Volksrechte hier wie dort und zwar von allen politischen Seiten. Niemand möchte sie missen; alle haben freilich auch Kritik und sparen nicht mit Reformvorschlägen.

Der Enkel Sebastian Bosshard ist erstaunt darüber, wie wenig die Architekten der beiden Systeme an der US-Westküste und in der Schweiz voneinander wissen und nicht merken, dass die Stärken der einen jeweils zu den Schwächen der anderen zählen.

Sponsor am Revers

Beide könnten die Qualität ihrer direkten Demokratie massiv steigern, wenn sie sich mehr austauschen und ihre Stärken jeweils importieren und exportieren würden. So fehlt den Kaliforniern und Oregoniern die Zeit, die in der Schweiz den Unterschriftensammlern, der Verwaltung und den Parlamentariern bei Volksinitiativen gewährt wird. Dadurch kommen kaum Kompromisse und Teilerfolge zustande.

Auf der anderen Seite könnte sich die direkte Demokratie in der Schweiz vom Vorwurf der Kolonialisierung durch das Geld befreien, wenn sie die Transparenzgebote Kaliforniens übernehmen würde. So müssen Unterschriftensammler in Kalifornien auf Ansteckknöpfen deutlich machen, von wem sie bezahlt werden, der Staatssekretär muss auf dem Internet vor Volksabstimmungen die Namen und den Umfang der Beiträge der zehn grössten Sponsoren der Ja- beziehungsweise der Nein-Seite nennen und täglich aufdatieren.

«Nobody is perfect»

Auch das Abstimmungsbüchlein, das in San Francisco dreisprachig erscheint (englisch, spanisch und chinesisch) und oft mehr als 100 Seiten umfasst, nennt bei jeder Vorlage die Namen der wichtigsten befürwortenden und gegnerischen Organisationen.

«Nobody is perfect», sagt Sebastian Bosshard bei seinem Besuch in der Schweiz auf den Spuren seines Grossvaters. Er sagt, die Demokratie sei doch immer unvollendet und ein ewiger Prozess, und fragt, weshalb wir denn immer noch so wenig voneinander wissen und weshalb wir nicht lernen, was wir zum Abbau der eigenen Schwächen von den anderen übernehmen könnten.

Wir einigten uns rasch auf zehn Reformen, die uns in der Schweiz gut tun würden und zehn Verbesserungen der direkten Demokratie Oregons und Kaliforniens, für die sich die Amerikaner von der Schweiz inspirieren lassen könnten.

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