Macht Economiesuisse aus einer Mücke einen Elefanten? Nein, es ist noch schlimmer: Die Mücke gibt es gar nicht. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse teilte vergangene Woche der Welt Folgendes mit: «Eine Kombination der geplanten Abgabe von 1140 Franken pro Tonne CO2 und dem Ersatz der wegfallenden Kernkraftkapazitäten durch Gaskraftwerke und erneuerbare Energien» führe zu einem «Rückgang des realen Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukts von über zwanzig Prozent».
Zwanzig Prozent Wohlstandseinbruch, diese Prognose ist ein Schocker. Sie unterscheidet sich um Meilen von allem, was wir schon über die Energiestrategie 2050 des Bundesrats gehört haben. Und dazu haben wir, weiss Gott, schon viel vernommen. «Grund für die markanten Abweichungen (…) ist die Verwendung von anderen Annahmen», heisst es weiter in der Medienmitteilung von Economiesuisse.
Schauen wir diese Annahmen doch mal an. Sie finden sich auf Seite 10 der Studie und lauten: «The reference year of all the data is 2000.» Das heisst also, alle verwendeten Daten sind 13 Jahre alt. Ja, das waren noch Zeiten! Im Jahr 2000 war der Erdölpreis fünf Mal tiefer als heute. Die Kosten von Solarstrom waren sechs Mal höher. Atomstrom galt damals noch als billig. Heute ist er bereits teurer als Solarstrom. Aktuell verlangen die AKW-Investoren in England eine staatlich garantierte Vergütung für ihren Strom, die doppelt so hoch ist wie Deutschlands Solarförderung.
So also funktioniert Economiesuisse, der Verband der Wirtschaftseliten diese Landes. Sein Vorstand ist das Who is who der Verwaltungsräte und Industriekapitäne. Daniel Vasella, Kurt Rohrbach, Rolf Hartl, Urs Rohner – über 60 Wirtschaftsführer (und zwei Frauen) organisieren dort die Zukunft unserer Wirtschaft.
Wir normale Bürger erstarren vor so viel Macht, Kompetenz und Lohn auf einem Haufen. Nun endlich erfahren wir, wie Männer, die grosse Investitionen verantworten, rechnen und entscheiden.
Die neuste Studie bietet ein Rezept an, das einfacher ist als erwartet: Es heisst Rückblick und Stillstand. Plane heute, 2013, auf den Grundlagen von 2000. Fülle 13 Jahre alte Zahlen in ein statisches Modell und erkläre damit die Welt in 40 Jahren.
Man male sich aus, was wäre, wenn die Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik schon immer so vorgegangen wären. Eines steht fest: Die Schweiz wäre eine andere. Wir hätten zum Beispiel keine Autobahn. Denn die wurde im Jahr 1960 beschlossen, weil 1,1 Millionen Fahrzeuge die Schweizer Überlandstrassen belasteten. 13 Jahre vorher waren es nur gerade 80 000. Für so wenig Auslastung baut kein vernünftiger Investor eine zig Milliarden schwere Infrastruktur.
Auch die umstrittenen Mobilfunkantennen hätten wir nicht. Schliesslich war 13 Jahre vor deren Baubeschluss weder das Internet noch ein vernünftiges Handy erfunden. Die Immobilienfirmen, die Bauwirtschaft und schliesslich die Banken hätten letztes Jahr Konkurs angemeldet. Denn vor 13 Jahren war der Hypothekarzins dreimal so hoch wie heute. Und auf die Spitalplanung könnten wir künftig gänzlich verzichten, denn so wenig Kranke wie vor 13 Jahren brauchen keine neuen Betten.
Die Economiesuisse-Studie wurde zur Schande des Verfassers von der ETH erstellt. Sie nennt sich «Workingpaper». Wohl deshalb, weil sie einem normalen Verstand sehr viel Verdauungsarbeit abverlangt. Wie soll eigentlich das Referenzszenario funktionieren? Das fragt man sich und sucht vergeblich nach einer Antwort. Offenbar sind die Atomkraftwerke eigentliche Jungbrunnen. Sie müssen nie ersetzt werden.
Die Energiestrategie 2050 ist kein Hexenwerk, auch kein Hirngespinst. Sondern dringende Voraussetzung, damit die alternde Energieinfrastruktur der Schweiz erneuert werden kann. Diese muss uns in die Zukunft führen. Sie muss versorgungssicher, möglichst günstig, CO2-sparsam und umweltschonend sein. Dazu läuft in der Schweiz ein Ideenwettbewerb.
Der Bundesrat, aber auch viele Parteien und Verbände haben ihre Vorschläge präsentiert. Die potenten Wirtschaftsverbände Swissmem, Sciencesindustries und Economiesuisse hingegen haben sich an diesem Wettbewerb bisher nicht beteiligt. Sie begnügen sich damit, den Bundesrat zu kritisieren.
Seit Fukushima sind schon bald zwei Jahre vergangen. Was würden wohl die Aktionäre von Vasella, Rohrbach und Co. sagen, wenn sie von ihren Kapitänen statt Investitionsvorschläge zwei Jahre lang nichts als Gejammer hören würden?
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.02.13