Föderalismus in Ehren – aber muss wirklich eine Minderheit in den Randregionen des Landes, der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ihren Lebensstil aufzwingen? Nach dem Nein zum Familienartikel darf man das Ständemehr einmal mehr und aus vollem Herzen verwünschen.
Störend an diesem Sonntag ist nicht das Nein zum Familienartikel. Denn dieser Artikel hätte bei einem Ja in der Verfassung leise die «Vereinbarkeit von Beruf und Familie» gefordert, konkrete Auswirkungen hätte er keine gehabt. Denn – und das ist das bestürzende an diesem Sonntag – in der Schweiz im Jahr 2013 tun sich gesellschaftspolitische Abgründe auf, die einen schaudern lassen.
Bei der Ablehnung des Familienartikels ging es nicht um «liberale Grundsätze» wie das Teile des Bürgertums ausserhalb der SVP behaupteten. Nein: Es ging einzig um das richtige Bild einer Familie.
SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler sagte kurz nach der Abstimmung, die Ablehnung des Artikels sei ein klares Votum für die Selbstbetreuung der Kinder durch die Familie. Das, und nur das, ist der springende Punkt. Das ist der Grund, warum die kleinen Kantone in der Innerschweiz und anderen Randgebieten der Schweiz mit ihrem Nein das Ständemehr für den Familienartikel verhinderten: Die konservativen Teile der Schweizer Bevölkerung haben ihr Familienbild seit den 1950er-Jahren nicht mehr angepasst. Der Mann arbeitet. Die Frau kocht und schaut für die Kinder (und stimmt in der Zwischenzeit auch ab. Aber dazu brauchten wir ja auch einige Anläufe).
Der Familienartikel hätte keine «Staatskinder» produziert.
Den Innerschweizerinnen und Innerschweizern sei ihr konservatives Bild der Welt belassen. Jeder soll so leben, wie er es für richtig hält. Aber – und hier ist die Krux – das gilt in beide Richtungen. Der Familienartikel hätte keine «Staatskinder» produziert, hätte den Familien ihre Kinder nicht entrissen. Er hätte nur die Grundlagen geschaffen, um die (aus Sicht der Mehrheit an diesem Sonntag) dringend nötigen Anpassungen an der Schweizer Familienpolitik vorzunehmen. Was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht, ist die Schweiz ein ziemlich dunkler Fleck in Europa.
Und sie wird ein ziemlich dunkler Fleck bleiben. Weil die Angstmacher von der SVP ihre Energie aufs Versenken des Familienartikels verlegt hatten, weil die SVP nicht von ungefähr die stärkste Partei der Schweiz ist und weil sie als solche in gesellschaftspolitischen Abstimmungen über einen Hebel verfügt, der in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung der Partei und ihrer Grösse steht.
Es waren die kleinen konservativen Kantone, die an diesem Sonntag mit dem Ständemehr den Verfassungsartikel scheitern liessen. Hat der Berner Politikberater Mark Balsiger darum recht, wenn er in einem Tweet das Ständemehr mit dem Hinweis infrage stellt, 70 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer lebten in Städten und Agglomerationen?
70 Prozent der Bevölkerung leben in Städten & Agglomerationen. Man sollte wieder mal über das Ständemehr nachdenken. #familienartikel
— Mark Balsiger (@Mark_Balsiger) 3. März 2013
Ja! Schreien wir in einem ersten Moment und verfluchen all die zurückgebliebenen, weltfremdenden Innerschweizer (wie wir es oben in aller Ausführlichkeit getan haben). Und denken dann noch einmal nach und sagen: Nein. Das Ständemehr schützt die Minderheit vor der Mehrheit, schafft den Ausgleich zwischen den Regionen (und den Weltbildern).
Das Ständemehr ist eine der nobelsten Errungenschaften der Eidgenossenschaft. Dass wir in den vergangenen Jahren das Ständemehr immer häufiger verfluchten, hängt mit den veränderten Lebensrealitäten zusammen. Immer mehr Menschen leben in den Städten. Unser Politsystem ist aber auf die ländlichen Kantone ausgerichtet. Darum: Man muss das Ständermehr nicht abschaffen, aber man muss es überdenken (Philippe Wampfler macht dazu in seinem Blog einen interessanten Vorschlag).
Bis dahin (und dahin darf man wahlweise mit «modernes Politsystem» oder «moderne Familienpolitik» übersetzen) ist es noch ein weiter Weg. Es bleibt nichts als die Hoffnung: Konservative Positionen haben die Tendenz, sich sehr ausdauernd zu halten. Sie haben aber auch die Tendenz, sich zu überleben.