Die Sozialdemokraten haben ein neues Papier zur Wirtschaftspolitik verfasst und ihren Parteitag abgehalten. So weit, so normal. Tief blicken lässt hingegen die Berichterstattung der meisten Schweizer Medien.
Die Wortkombination «Levrat» und «Klassenkampf» kommt in Schweizer Medien 119 Mal vor. Nicht in den letzten fünf Jahren – seit dem 12. November 2016 *. Ausgelöst hat die Artikel-Lawine die «Sonntagszeitung» mit einem Bericht über das SP-Positionspapier «Wirtschaftsdemokratie».
Der Artikel – kein Kommentar – tat das Papier als altbacken ab. «Vorwärts mit Plänen von früher», so der Titel. Der Vorwurf: Alles von gestern, «alte sozialistische Rezepte», ein «Forderungskatalog der 70er- und 80er-Jahre». Und mit so einem Papier wolle die Partei nun etwas erreichen – «gegen den Aufstieg rechtsbürgerlicher Parteien wie der SVP oder rechtspopulistischer Bewegungen in Europa oder zuletzt mit der US-Wahl Donald Trumps».
Und trotzdem: Die Zeitung warnt. Schon der erste Satz sagt dem Leser, was er vom Papier zu halten hat: «Der Titel tönt harmlos», so die «Sonntagszeitung», «der Inhalt ist es nicht.»
Was die Medien-Meute rapportierte
An der Story mit Levrat und dem Klassenkampf, 119-fach durch die Schweizer Medienlandschaft gewirbelt, änderte sich nach diesem Auftakt nicht mehr viel. Es kauen alle auf demselben Knochen herum – nach Gusto garniert mit Aussagen einiger prominenter Kritiker des Papiers aus dem bürgerlichen SP-Flügel. Die Story geht, salopp zusammengefasst, so: Die SP präsentiert ein paar Ideen, doch die sind alt und untauglich bis gefährlich.
Dazu erklärte man der Schweizer Öffentlichkeit mit einem Sperrfeuer von Leitartikeln und Kommentaren, wie die Welt in Wahrheit sei. Jedenfalls sicher nicht so, wie sie die SP sieht. «Der Marsch nach links ist die falsche Antwort» – «Wie die Linke die Arbeiter vergessen hat» – «Die Ideologie steht im Weg» – «Aufstand gegen die Klassenkämpfer» – «Die SP hat grosses Potenzial, aber die falschen Rezepte», so der Tenor.
Der Thuner Parteitag selbst wird dann von den meisten Medien per Agentur abgehandelt. Die SP ihrerseits stellt sich klar hinter das Papier, lehnt den Rückweisungsantrag mit 375 zu 59 Stimmen ab. Via Newsexpress verbreitet Tamedia diese Nachricht unter dem Titel «SP-Delegierte erteilen rechtem Flügel eine Abfuhr» auf «20 Minuten», «Tages-Anzeiger», «Berner Zeitung», «Basler Zeitung» und «Der Bund». Der «Tages-Anzeiger» berichtete ausführlich vor Ort – und wohlinformiert. Es folgt ein Interview mit Cédric Wermuth (Newsnet/«Berner Zeitung», «Bieler Tagblatt», «Landbote», «Freiburger Nachrichten», «Zürcher Oberländer», «Zürichsee-Zeitung», «Zürcher Unterländer»).
Was die Meute verschweigt
Das war am 5. Dezember. Am gleichen Tag kommentierte auch die NZZ den Parteitag, offenbar von grosser Sorge vor einem kommunistischen Umsturz getrieben: Unter dem Titel «Auf zum Mars» warnte sie vor dem bedrohlichen roten Planeten. Das Papier zeige eine «Radikalisierung» der SP, die Partei sei «ideologisiert» und betreibe nichts als «Propaganda», wenn sie «vom entfesselten ‹neoliberalen Kapitalismus›» spreche.
Nach dem obligaten Nachtreten der SVP in der «Weltwoche» (Christoph Mörgeli lavierte am 8. Dezember über «gefährliche Geisterfahrer» an der SP-Spitze und über «kleine Stalins, Castros und Lulas» an der Basis) kehrte dann Ruhe ein im Blätterwald zum Thema «Wirtschaftsdemokratie».
Was in den meisten Berichten weitgehend fehlte – mit Ausnahme der Erwähnung einzelner, provokativ formulierter und auch intern umstrittener Punkte (auch nach dem SP-Parteitag bleiben 32 Stellen zu überarbeiten bis zur endgültigen Fassung) –, war eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Worum geht es eigentlich? Was ist die Wirtschaftsdemokratie, laut SP, und: Wie sieht das Positionspapier (PDF) überhaupt aus, über das da am Parteitag debattiert wurde?
Was im Papier steht
«Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich seit Jahren. Auch in der Schweiz. Die Reichen werden reicher – vor allem durch den Bezug leistungsloser Einkommen wie Erbschaften, steuerfreien Kapitalgewinnen oder überrissener Boni. Demgegenüber gerät der Mittelstand zunehmend unter Druck und die Lage der Armen wird immer prekärer. Mittlerweile reichen gewisse Arbeitseinkommen nicht einmal mehr, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wenn es einen Klassenkampf gibt, dann wird der von oben geführt», heisst es im Vorwort.
Das ist die einzige Erwähnung des Wortes «Klassenkampf» im SP-Papier. Die «Sonntagszeitung» schrieb: «Entsprechend der Forderungen ist auch die Rhetorik im Papier: Begriffe wie ‹Klassenkampf› und ‹Überwindung des Kapitalismus›, die in den letzten Jahren nur noch selten benutzt wurden, werden nun als Kampfparolen mehr als nur rehabilitiert.»
Die Formulierung «Überwindung des Kapitalismus» kommt im Papier, entgegen der Behauptung der «Sonntagszeitung», gar nicht vor. Stattdessen hält das Papier fest, die SP sei die «treibende Kraft» bei der «Zähmung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert» gewesen – mit der Schaffung des Sozialstaats, der Schaffung der Rechte der Lohnabhängigen, der Schaffung des Service public und so weiter –, doch seit einiger Zeit sei die «erneute Entfesselung» des Kapitalismus festzustellen. Dem wolle man «entgegenwirken» und die sozialen «Errungenschaften verteidigen».
Es folgen die 25 konkreten «Handlungsfelder und Massnahmen». Sie reichen von der Forderung nach mehr garantierten Mitbestimmungsrechten für Angestellte in Grossbetrieben über eine Stärkung des Service public, mehr Macht für Konsumenten, verantwortungsvollere Pensionskassen und Banken bis zur Forderung nach einem verantwortungsvolleren unternehmerischen Handeln gegenüber Gesellschaft und Umwelt und vielen weiteren mehr.
Warum es im Papier steht
Sicher, das alles entspricht definitiv nicht dem Kurs des rechtsbürgerlich dominierten Schweizer Parlaments.
Aber sind es nicht Themen, die Medien zumindest erwähnen, wenn nicht gar leidenschaftlich debattieren müssten – zumal die Partei ihre Forderungen nicht im luftleeren Raum, sondern in der reichen Schweiz stellt? Hier, wo
- im Jahr 2014 offiziell rund 530’000 Menschen von Einkommensarmut betroffen waren, zudem 1,085 Millionen Menschen als «armutsgefährdet» galten?
- die bisher umfassendste (Meta-)Studie zur Einkommensungleichheit in der Schweiz seit 1990 aus dem Jahr 2015 gezeigt hat, dass die tiefen und mittleren Reallöhne zwischen 1994 und 2012 um 18 Prozent, die der bestverdienenden zehn Prozent aber um 41 Prozent gestiegen sind?
- die Gesellschaft zunehmend überaltert – und schon heute fünf Prozent der Menschen im Rentenalter nur mit Mühe für die nötigsten Ausgaben aufkommen können und jede zehnte ältere Person nicht in der Lage ist, eine unvorhergesehene Ausgabe von 2000 Franken innert eines Monats zu bewältigen?
- die Gesundheitskosten weiterhin ungebremst steigen?
- die Regierung mehrheitlich mit Sparen und Abbauen beschäftigt ist?
- sich die Sparübungen schon mit der Eintreibung von Steuerausfällen durch Hinterziehung allein von Schweizer Privathaushalten mehr als verhindern liessen? Ausfälle, die – konservativ geschätzt – jährlich 20 Milliarden Franken betragen, während das bürgerlich dominierte Parlament gerade einen möglichen Informationsaustausch im Inland per Verfassung verunmöglichen will?
- die meisten Kantone – mehrheitlich verschuldet und das mehrheitlich zunehmend – kaum wissen dürften, wie sie sich die zusätzlichen Ausfälle durch den Sparkurs aus Bern und die steuerlichen Entlastungen der Firmen nach der USR III leisten sollen?
- der Mietpreisindex seit Jahren steigt und steigt – und der Landesindex der Konsumentenpreise zwischen 1990 und 2015 um ganze 29,7 Prozent zugelegt hat?
- die ÖV-Preise immer nur ganz steil nach oben gehen?
Ja, man würde meinen, all diese Themen, um die es im SP-Papier geht, böten den Schweizer Medien Diskussionsstoff über Jahre hinaus. Doch offenbar ist dem nicht so.
Die Blindheit der Ideologen
Der Vorwurf an die Adresse einer politischen Partei, ihre Vorschläge seien ideologisch, ist ungefähr so intelligent wie die Klage über die Nässe von Wasser: Das liegt in der Natur der Sache. Der NZZ-Kommentar verkündete zudem, die Schweiz sei «kein Land des entfesselten Kapitalismus, sondern letztlich ein sozialdemokratisch organisiertes Gemeinwesen», und nun würde die fehlgeleitete SP-Führung mit ihren Vorschlägen «zum roten Planeten Mars» fliegen.
So kann nur argumentieren, wer seinen eigenen ideologischen Standpunkt verschweigt oder wer schlicht unfähig ist, der eigenen Sichtweise gewahr zu werden, weil sie die dominante ist. Das Argument projiziert den Marx’schen Ideologie-Begriff einseitig auf die Linke zurück – und bestätigt damit unfreiwillig eine Kernaussage der linken Ideologie-Theorie (via Marx-Gramsci-Althusser): Dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft einseitige Bilder und Geschichten von sich – eben Ideologien – hervorbringt, welche die Interessen der Mächtigen zu allgemeinen Interessen und neutralen Tatsachen erklären.
Mehr Theorie braucht es hier nicht, die Faktenlage spricht für sich. Die Schweiz ist mit ihrer rechtskonservativ und rechtsliberal dominierten Legislative und Exekutive ungefähr so weit weg von imaginären roten Planeten wie schon lange nicht mehr in ihrer Geschichte. Die grossen sozialdemokratischen Errungenschaften, die die Schweiz geprägt haben – sei es im Bereich der Sozialversicherungen, des Service public oder der Rechte von Angestellten –, sind seit Jahrzehnten unter Beschuss, seit einigen Jahren verschärft.
Da passt es ins Bild, dass keine Zeitung thematisiert, dass die erwähnten Errungenschaften – wirtschaftsdemokratische Ansätze durch und durch – nicht nur gut funktionieren, sondern die Schweiz auch reibungslos durch die Blütezeit ihrer Volkswirtschaft begleitet haben. Jedenfalls bis zur neoliberalen Wende, in der Schweiz eingeleitet durch die «marktwirtschaftliche Erneuerung» in den 1990er-Jahren. Der ehemalige HSG-Professor Philippe Mastronardi beschreibt in seinen «acht Thesen zur Entwicklung von Demokratie und Kapitalismus in der Schweiz», wie «die Nachkriegskonkordanz zwischen Wirtschaft und Politik erodiert»:
«Unternehmer haben mit ihrem Kapital schon immer Einfluss auf demokratische Entscheide in der Schweiz genommen. Sie haben aber auch Verantwortung für einen allseits tragbaren wirtschaftlichen und politischen Ausgleich getragen. Das nun immer mächtiger werdende Finanzkapital hat jedoch keinerlei Bindungen mehr an die Fragen eines gerechten Zusammenlebens im Land. Ein demokratischer Diskurs mit ihm ist nicht möglich. Seine einzige Form von ‹voice› in der Demokratie ist die Drohung mit ‹exit›. Es kennt nur das Diktat von Gewinn und Verlust am Kapitalmarkt. Sein Index wird vom Indikator zum Diktator des Richtigen – auch für die schweizerische Demokratie.»
Papier ist geduldig
Die Levrat-Klassenkampf-Geschichte ist kein Einzelfall in der heutigen Schweizer Medienlandschaft. Sie steht exemplarisch dafür, wie die grossen Zeitungen der Deutschschweiz mit Themen links der Mitte umgehen.
Das zeigen längst auch die Resultate der «Abstimmungsmonitor»-Berichte des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög). Mit den Monitorings ermittelt das Institut der Uni Zürich jeweils, wie gross die Medienresonanz vor eidgenössischen Abstimmungen war – und vor allem, wie die Tonalität der Beiträge war, sprich, ob eine Vorlage von den Medien eher befürwortet oder ablehnend behandelt wurde.
Um das messbar darzustellen, errechnet das Fög aus allen Artikeln zum Thema einen «Tonalitätsindex», der bis maximal +100 gehen kann (das wäre der Fall, wenn alle Artikel ausschliesslich aus positiven Bemerkungen und Wertungen zu einem Thema bestehen würden) – im umgekehrten Fall bis –100 (ausschliesslich negativ).
Die Analyse der Berichterstattung über vier Vorlagen, über die kürzlich an der Urne abgestimmt wurde – nachzulesen im Detail in den Abstimmungsmonitor-Berichten September und November –, zeigt: Die deutschsprachigen Schweizer Medien unterstützten überwiegend die bürgerlichen Positionen. Das war bei den eidgenössischen Vorlagen zu AHV plus, zur Grünen Wirtschaft, zum Nachrichtendienst und zum Atomausstieg der Fall. Sogar der angeblich linksliberale «Tages-Anzeiger» kommt etwa beim Nachrichtendienst-Gesetz auf positive Werte (er war somit insgesamt für ein Ja), beim Atom-Ausstieg nur auf 0 (insgesamt ausgeglichen).
Anders gesagt: Die gerne erzählte Geschichte vom links-grünen/linksliberalen Schweizer «Medien-Mainstream», zu dem wohl auch dieser Text von einigen gezählt werden wird, ist ein Märchen. Eines, das gerne von Ideologen erzählt wird, wenn sie mit Argumenten konfrontiert sind, die nicht ganz zu ihrer Sicht der Dinge passen.
Medien und Mainstream, das beschäftigt die Medien selbst wie kaum zuvor: Die Wortkombination gab es im laufenden Jahr ** schon 816 Mal zu lesen. Mit den «Mainstream-Medien» haben sich allen voran Leserbrief-Schreiber, die «Basler Zeitung», die «Weltwoche» und die NZZ beschäftigt.
Der Schweizer Medien-Mainstream, wie er von den meisten beschrieben wird, bleibt ein Phantom. Es gibt ihn. Aber er tickt sicher nicht links-grün oder linksliberal.
__
* Quelle: Mediendatenbank SMD, Zeitraum 12.11.2016 bis 13.12.2016, inkl. Mehrfachverwertungen (zurück nach oben)
** Quelle: Mediendatenbank SMD, Zeitraum 1.1.2016 bis 16.12.2016, inkl. Mehrfachnennungen