Das Schlachtenjahr ist noch nicht zu Ende

Im Jubiläumsjahr der grossen Schweizer Schlachten mag die Schweizer Geschichtswissenschaft ihr eigenes Marignano erlebt haben. Entscheidend aber ist, was es daraus zu lernen gibt.

Diese Gebeine befinden sich im Beinhaus Santa Maria della Neve in Mezzano – und damit in der Nähe des historischen Schlachtfelds von Marignano. Obwohl unklar ist, ob es sich bei den Knochen um Überreste gefallener Soldaten oder um solche von Pestopfern handelt, haben Schweizer Investoren das Beinhaus samt Gelände erworben, um es fürs Jubiläumsjahr restaurieren zu lassen.

(Bild: Christian Beutler/Keystone)

Im Jubiläumsjahr der grossen Schweizer Schlachten mag die Schweizer Geschichtswissenschaft ihr eigenes Marignano erlebt haben. Entscheidend aber ist, was es daraus zu lernen gibt.

Andreas Schwald ruft im letzten Editorial der TagesWoche nach mehr Historikern, die sich im diesjährigen Schweizer Multijubiläumsjahr einbringen, um den «ideologischen Zerrspiegel» der konservativen Geschichtsdeutung wegzudrehen. Als Angesprochener ist man versucht einzuwenden, dass sich die kritisierte Konzentration auf einige wenige, sattsam bekannte Intellektuelle auch einer gewissen Logik der medialen Berichterstattung verdankt.

Was aber auch stimmt: Für einen Historiker, der etwas auf sich hält, gibt es in der Abhandlung längst aufgearbeiteter Geschichtsbilder auf den ersten Blick kaum etwas zu gewinnen. Es sei denn, er hat gerade ein Buch zu vermarkten. Für die Schweizer Geschichtswissenschaft als Ganzes jedoch gibt es in dieser «Geschichtsdebatte» – der zuweilen bemühte Begriff «Historikerstreit» ist hier nicht adäquat – einiges zu verlieren.

Zeit, sich für die Zukunft zu wappnen

Auf dem rhetorischen Schlachtfeld der «Geschichtsdebatte» seien viele Leichen liegengeblieben, zog Edgar Schuler im «Tages-Anzeiger» diesen Sommer Zwischenbilanz. «Todesursache: Totalschaden an der Glaubwürdigkeit».

Tatsächlich ist zu befürchten, dass unter anderem die Reputation der modernen Schweizer Geschichtswissenschaft in breiten Bevölkerungskreisen unter den von Politikern und ihnen zugewandten Publizisten gegen sie abgefeuerten Breitseiten beträchtlichen Schaden erleidet. Der Rückblick auf die diesjährige «Geschichtsdebatte» im Sinne einer Manöverkritik fällt für die Schweizer Historiker denn auch wenig schmeichelhaft aus. Ihre zersprengten Haufen fanden kaum ein probates Gegenmittel gegen die im Stile einer Marketingkampagne geführte nationalkonservative Operation.

Als Historiker könnten wir hier nun also das Marignano der Schweizer Geschichtswissenschaft beklagen – der Parallelen gäbe es genug –, uns fortan im neutralen Stillsitzen üben und uns ins Réduit der akademischen Geschichtsschreibung zurückziehen. Oder aber wir betrachten die Debatte als Lehrstück, um uns für kommende Auseinandersetzungen zu wappnen.

Geschichte als Schaukampf

In der Debatte um die Schweizer Geschichte ging (und geht) es nicht in erster Linie um Wahrheitssuche oder um die überzeugendere Darlegung vergangener Ereignisse aufgrund wissenschaftlich ausgewerteter Quellen. Es ging um die Konstruktion historischer Kontinuitäten, die (europa-)politische Entscheidungen in naher Zukunft legitimieren sollen. Vor allem aber ging es um Aufmerksamkeit.

Von ihr profitierte vor allem jene «Streit»-Partei, die angesichts ihrer eher schwachbrüstigen Argumente den Kampf eigentlich sang- und klanglos hätte verlieren müssen. Für sie ist die Debatte eine Möglichkeit, ihrer Klientel ein Identifikationsangebot zu machen und zu «signalisieren, dass sie noch immer konservativ ist», wie es Polit-Werber Hermann Strittmatter im Interview mit der «NZZ am Sonntag» formuliert. 

Die Schweizer Geschichtsdebatte war kein sportliches Kräftemessen wie in einem Boxring oder an einem Schwingfest. Es war ein Schaukampf in der Wrestling-Arena.

Wir erlebten also eine Imagekampagne, die sich aus ebenso überholten wie für die Hauptzielgruppe positiv besetzten Geschichtsbildern speiste. Die Schweizer Geschichtsdebatte war denn auch kein sportliches Kräftemessen wie in einem Boxring oder an einem Schwingfest. Es war ein Schaukampf in der Wrestling-Arena – wenn auch zuweilen ein eher zweitklassiger. Trotz kenntnisreichem und wohlargumentiertem Einspruch aus der Historikerzunft dominierte das gut eingespielte publizistisch-politische Tag-Team der nationalen Rechten den geschichtspolitischen Ring.

Während ein Gutteil des politischen Spektrums links der SVP die Konfrontation ganz vermied, versuchten andere, die Diskussion auf alternative Anlässe umzulenken – ohne nennenswerten Erfolg. Denn im Schaukampf zählt vor allem auch die dem Publikum angebotene Identifikationsmöglichkeit. Um im Bild zu bleiben: Ein erfolgreicher Wrestler braucht nicht nur Muskelpakete, Showtalent und athletisches Geschick. Er verkörpert immer auch eine gute Geschichte.

Im Hintergrund der Schaukampf-Events spinnen Drehbuchschreiber, sogenannte Bookers, aufwendige Storys um die Kämpfer und Teams. Der WWE United States Champion Antonio Cesaro wird etwa als ebenso muskelbepackter wie kultivierter Europäer stilisiert, der seine Gegner fliessend in fünf Sprachen – inklusive Schweizerdeutsch – beschimpfen kann. Die Special Moves dieses kosmopoliten Schweizers nennen sich sinnigerweise «Neutralizer» – aber auch «Very European Uppercut». 

Eine wirksame Besetzung der rechten Erinnerungsdaten, wie sie Thomas Maissen verschiedentlich forderte, ruft nach mehr Glamour, Dreck, Hollywood.

«Wenn es darum geht, beispielsweise die Gründung des Bundesstaats gegen die Schlacht von Marignano antreten zu lassen, dann gewinnen wir: Wir haben einfach die saftigeren Geschichten», sagte ein siegesgewisser Peter Keller im Vorfeld der Debatte gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Hand aufs Herz: Markus Somms von den «verrückten, brutalen Schotten» aus dem Kino-Blockbuster «Braveheart» inspirierte Story über «anarchische und mühsame» alte Eidgenossen versprüht einfach mehr rauen Charme als Thomas Maissens akkurates Bild von zerstrittenen Citoyens der Helvetik, die Napoleons guter Dienste als Mediator bedurften, um wieder Ordnung in ihre durcheinandergeratene Staatlichkeit zu bringen (beides nachzulesen in der ersten Ausgabe von «NZZ Geschichte»).

Auch wenn – oder gerade weil sie nach Scripted Reality riecht: Die gut getimte SRF-Einstein-Geschichte eines begeisterten Selfmademan, der nur mit dem Metalldetektor bewaffnet durch die Wälder zieht, macht einfach mehr Eindruck als jene des nüchternen Mediävisten, der in akribischer Quellenarbeit feststellt, dass kaum gesicherte Fakten über den Hergang der Schlacht vorliegen.

«Gute Geschichten verfügen über die Kraft, ohne ein Ja oder Nein weit wahrhaftiger zu antworten.» So legitimierte Andreas Spillmann im Feuilleton der NZZ, warum das Nationalmuseum darauf verzichtet habe, deutlich zur Frage Stellung zu nehmen, wie sich Marignano zur Schweizer Neutralität verhalte. Die Kraft «guter Geschichten» und die Wichtigkeit überzeugender «alternativer Narrative» wurde denn auch verschiedentlich in Diskussionen aus gewisser Distanz vom Schlachtennebel als mögliche Wunderwaffe beschworen.

Sonderfall im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation

Selbstkritisch gab etwa Jakob Tanner gegenüber SRF 3 zu Protokoll: Die jüngere Geschichtsschreibung habe sich lange zu wenig um das Problem der Erzählformen gekümmert und dabei das Gefühl für gute Erzählformen verloren. Eine wirksame Besetzung der rechten Erinnerungsdaten, wie sie Maissen verschiedentlich forderte, ruft nach mehr Glamour, Dreck, Hollywood.

Ironischerweise böte gerade die Schlacht von Marignano eine Möglichkeit, dem rechtskonservativen Geschichtsbild eine alternative Storyline entgegenzustellen, die sowohl mit dem Quellenbefund in Einklang steht und zugleich einen gewissen identitätsstiftenden archaischen Appeal versprüht: Dies ist also die Geschichte eines Volks aus «frummen, edlen Puren», das sich als Sonderfall betrachtete – ein Selbstbewusstsein, das durch die Niederlage bei Marignano zutiefst erschüttert wurde.

In den Jahrzehnten um 1500 bildete sich eine frühe Form eines eidgenössischen Gemeinschaftsgefühls aus. Nicht nach dem modernen nationalstaatlichen Muster zwar. Vielmehr koexistierte und konkurrenzierte es mit anderen Loyalitäten: Standeszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu Stadt- oder Landort, Reichszugehörigkeit, später auch zur Konfession. Doch die «Schweizer» stellten in der Aussen- und Selbstwahrnehmung tatsächlich bis zu einem gewissen Grade eine Art von Einheit dar. Mehr noch, sie galten als eine Art Sonderentwicklung innerhalb der Rechtsordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Freie Bauersleute und empörte Adlige 

In den letzten Jahrhunderten hatten die eidgenössischen Städte und Landorte – wie übrigens auch andere Städte und Gebiete im übrigen Europa – nach und nach die «Reichsfreiheit» erworben. Sie verdankten ihre Herrschaftsrechte unmittelbar dem Kaiser, dem sie nun ohne fürstliche Zwischengewalt unterstellt waren.

Adelige Kreise, allen voran die Habsburger, die durch diese Entwicklung ihre Stammlande verloren hatten, kritisierten diesen Status als frevelhafte Umkehr der gottgewollten Ständeordnung. Maximilian I, der damals als Angehöriger des wiedererstarkten Hauses Habsburg als römisch-deutscher König amtete, polterte 1499 im Vorfeld des Schwabenkrieges, dass dem Treiben der bösen, groben und schnöden eidgenössischen Bauersleute Einhalt zu gebieten sei, da es die christlichen Werte des Reiches zerstöre.

Um 1500 war der «frume, edle puur» selbst für den Basler oder Zürcher Stadtbürger eine Identifikationsfigur – oder auch ein willkommenes Propagandabild.

Die propagandistische Figur des «groben und schnöden Bauern» traf die Eidgenossen nicht weiter. So zeigt der inzwischen emeritierte Luzerner Geschichtsprofessor Guy Marchal in seinem Aufsatz «Die Antwort der Bauern» (als PDF), wie sie dieses Zerrbild vielmehr zur Selbststilisierung einsetzten: In der Eidgenossenschaft seien die Bauern an die Stelle des Adels getreten, da dieser seine Pflichten nicht recht erfüllt habe.

«Edellüt sind buren worden unnd die buren edellüt […] Die Schwizer sind die rechten edellüt: ir tugent inen den adel vorussgitt», heisst es im 1514 aufgeführten «Spiel von den alten und jungen Eidgenossen». Der «frume, edle puur» war selbst für den Basler oder Zürcher Stadtbürger eine Identifikationsfigur – oder auch ein willkommenes Propagandabild. Denn natürlich waren in der Eidgenossenschaft keineswegs einfache Bauern an der Macht, sondern eine schmale Schicht städtischer und regionaler Eliten.

Um diese Abkehr von der gottgegebenen Ständeordnung derart selbstbewusst vollziehen zu können, bedurfte es in einer vom christlichen Weltbild geprägten Gesellschaft allerdings einer besonderen heilsgeschichtlichen Absicherung. Der eidgenössische Sonderweg wurde dabei kurzum als gottgewollte Entwicklung umgedeutet. In der Tat gibt es, so Marchal, viele Hinweise auf ein eidgenössisches Bewusstsein besonderer Gottauserwähltheit. «Ir sind gefürt als Israel, durchs mer mit kleinem schaden», heisst es etwa in Mathias Zollers Murtenlied.

Die erzählte Vergangenheit allein sagt nichts darüber, wie wir uns in Zukunft zu verhalten haben.

Beachtlich war insbesondere auch die eidgenössische Verehrung von Symbolen der Passion Christi. Dies fand etwa im Kriegsbrauch des «Betens mit zertanen Armen» seinen Ausdruck. Das kollektive Gebet unmittelbar vor der Schlacht, kniend und mit kreuzweise ausgestreckten Armen, liess die Recken der eidgenössischen Schlachthaufen in völligem Gottvertrauen in die Schlacht ziehen. Dieses Ritual hatte eine solche Bedeutung gewonnen, dass «diese verrückten, brutalen» Eidgenossen selbst noch bei der Schlacht von Novara 1513 daran festhielten, obwohl es angesichts der neuen Kriegstechnik mittlerweile zu einer eigentlichen Hochrisiko-Strategie geworden war. Die eidgenössischen Söldner mussten, vom feindlichen Geschützfeuer immer wieder aufs Neue vertrieben, fünfmal ansetzen, bis Vaterunser und Ave-Maria zu Ende gebetet waren.

Gottauserwähltes Volk von frommen, edlen Bauern

Die Vorstellung, ein geradezu von Gott auserwähltes Volk zu sein, war im 15. und frühen 16. Jahrhundert nicht zuletzt durch eine Serie erstaunlicher Schlachterfolge immer wieder aufs Neue bestätigt worden. Umso grösser war der Schock durch Marignano. Zumal die Eidgenossen hier unter der Führung des umtriebigen Sittener Kardinals Matthäus Schiner in dieser Auseinandersetzung gegen die Franzosen sogar unter päpstlichem Legat als «Beschützer der Freiheit der Kirche» zu Felde zogen.

Die Niederlage bei Marignano machte der Vorstellung, ein auserwählter Sonderfall zu sein, definitiv ein Ende. Statt allein auf sich und Gott zu vertrauen, schloss man mit den europäischen Nachbarn Verträge ab.

Diese – zugegebenermassen etwas verkürzte – Geschichte ist mindestens ebenso «wahr» wie ihr nationalkonservatives Pendant. Und sie lässt sich genauso wenig für die Legitimation heutiger Entscheidungen heranziehen. Unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt: Die Moral dieser Geschichte ist, dass uns die erzählte Vergangenheit allein nichts darüber sagt, wie wir uns in Zukunft zu verhalten haben.

Seit David Humes (1711–1776) «Treatise of Human Nature» gilt, dass wir aus einer Menge rein deskriptiver Aussagen nicht ohne Weiteres logisch auf normative Aussagen schliessen können. Wenn nach Humes Gesetz also aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden darf, dann gilt dies erst recht auch für das Gewesene.

Die Übertragung unseres alternativen Narrativs zu Marignano in eine Gebrauchsgeschichte (Marchal) für gegenwärtige oder zukünftige Verhältnisse überlässt der Geschichtswissenschaftler dennoch gerne den Geschichtspolitikern. Das Schlachtenjahr ist noch nicht zu Ende.

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Remo Grolimund arbeitet als Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ETH in einem interdisziplinären Projekt des Schweizerischen Nationalfonds im Bereich der Umwelt- und Wissensgeschichte. Daneben schreibt er als freier Autor für verschiedene Medien, insbesondere zu Themen mit Schwerpunkt Schweizer Geschichte.

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