Charlie Hebdo, Bataclan – und nun Nizza. Frankreich ist im Griff des Terrors. Dessen Saat geht verhängnisvollerweise auf: Vernünftige Antworten auf den Horror scheint niemand auf Lager zu haben.
Die Schau des Schreckens will nicht aufhören. Dieses Mal ist das Datum der 14. Juli, der französische Nationalfeiertag: Feuerwerk, französische Siege, Militärparaden, Millionen feiernder Menschen auf den Strassen. Der Tatort ist Nizza, die Tatwaffe ist ein Lastwagen, der Massenmörder ein junger Franzose mit tunesischen Wurzeln.
Die Terroristen arbeiten mit Kalkül. Es war kein Zufall, dass die Aufführung am 13. November 2015 in einem ausverkauften Pariser Fussballstadion vor Live-Publikum geplant war. Auch nicht, dass sie gleichzeitig vor der Bühne im legendären Pariser Theater Bataclan, seit seiner Eröffnung vor 150 Jahren ein Tempel der Populärkultur, stattgefunden hat. Denn die Täter wissen, dass sich alle Akteure ans Drehbuch halten werden.
Egal ob Paris oder Nizza: Lange bevor die Polizei dem Massaker ein Ende setzen kann, gehen Bilder und Beschreibungen des Sterbens um den Globus, dringt das Ungeheuerliche in jeden Winkel vor, millionenfach multipliziert, mischen erste Politiker und ihre Troll-Armeen das frische Blut in ihre Lieblingsrezepte.
Die Schuldigen, die angeblichen Ursachen und die Rezepte gegen den Terror werden mittlerweile beschlossen, bevor die Untersuchung eines Anschlags abgeschlossen ist. François Hollande hat die Tat als terroristischen Akt bezeichnet, noch bevor die Identität des Täters bestätigt war. Noch immer fehlt ein Bekennerschreiben. Macht nichts: Nur wenige Stunden nach dem Attentat trat Hollande vor die Kameras und verkündete, man werde den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern und die Aktionen in Syrien und Irak noch intensivieren – «um die, die uns auf unserem Boden angreifen, in ihren Höhlen zu schlagen.» Der Sozialist klingt und reagiert damit ungefähr so bedacht wie damals George W. Bush.
Die Killer schreiben das Drehbuch
Die Show, die machen die Mörder. Wir sind Zuschauer und Mitspieler zugleich, die meisten unfreiwillig, manche mit Absicht. Und das, wo sich die Anschläge der Terroristen auf das World Trade Center in New York bald zum 15. Mal jähren. Wohl nicht einmal die Regisseure des Undenkbaren hatten sich damals in ihren kühnsten Träumen ausgemalt, wie perfekt ihre Saat des Terrors aufgehen würde.
Die grösste Macht der Welt inszenierte in Panik einen Gegenschlag, erfand einen imaginären globalen Kriegsschauplatz, militarisierte den Alltag gegen Innen und Aussen. Sie zog, zusammen mit europäischen Verbündeten, in einen echten Krieg, legitimiert mit imaginären Massenvernichtungswaffen. Der Krieg sollte Hunderttausende das Leben kosten, eine Region vollends destabilisieren, Freiheiten, Staats- und Völkerrecht in Papiertiger verwandeln. Der wahre Schuldige würde erst Jahre später unter einem anderen Präsidenten sein Ende finden.
Eine gelungene Darbietung – aus Sicht der Terroristen. Sie bereitete die Bühne erst für das, was sie ursprünglich selbst als Erfindung enthalten hatte: Die erste wirklich globale Terrorbewegung, Isis, Isil, IS, Daesh, oder wie man die Fanatiker mit Fans und Mitstreitern aus aller Welt sonst nennen soll. Die Bande ist im Töten genauso unheimlich effizient wie in Public Relations.
Keine Organisation, keine Regierung der Welt weiss ihre eigenen Strategien und Aktionen wirkungsvoller zu inszenieren als die PR-Profis der Todes-Sekte.
Vom «Erfolg» von 9/11 beschwingt wurden die islamistischen Terroristen zu Meisterdirigenten des globalen Orchesters von sozialen Netzwerken, traditionellen Medien und Politikern: Keine Horror-Inszenierung zu grausam, um nicht ungefiltert in alle Stuben, in alle Hände übertragen zu werden.
Das Blut der Opfer klebt nicht nur auf der Promenade des Anglais in Nizza. Es gerinnt in jedem Facebook-Feed, jeder Zeitung, jedem Chat, jeder Rede. So wird auch die jüngste grauenhafte Vorstellung in Europa zum Erfolg, indem sie ihren Zweck erfüllt: Sie verbreitet Angst, arbeitet an der Zerstörung der offenen Gesellschaft, ihrer Spaltung, und sie provoziert Gegengewalt im Kleinen wie im Grossen, lokal und international.
Das «Theater der Sicherheit»
Die Politik und der dominante mediale Diskurs, das hatte sich schon nach den Anschlägen in Paris gezeigt, sind nicht bereit, vom bekannten Skript abzuweichen. Zwei Begriffe aus der jüngeren kritischen Politikwissenschaft drängen sich auf: «Securitization» und «Security Theatre». Beide beschreiben, vereinfacht gesagt, extreme Massnahmen, die Staaten unternehmen, um angeblich die Sicherheit zu erhöhen, um angebliche existenzielle Bedrohungen zu verhindern.
Im besten Fall verursachen diese Massnahmen nur steigende Kosten, im schlimmsten Fall verstärken sie das Gefühl von Angst, schränken Grundrechte und Freiheiten ein – und verhindern dabei weder Gewalt noch Radikalisierung. Oder bewirken sogar das Gegenteil.
Schon Paris kann als Lehrbuchbeispiel für «Versicherheitlichung» dienen: Die Attentäter, Franzosen, teils vorbestraft, als Extremisten und mögliche Jihad-Reisende polizeilich bekannt, hatten Hotels und Mietautos mit Klarnamen gebucht, ihre Kommunikation lief weitgehend unverschlüsselt. Kurz, die Nicht-Verhinderung des Attentats zeigte ein tragisches, komplettes Versagen vorhandener, traditioneller Polizei- und Geheimdienstarbeit.
Die Reaktionen der französischen Politik und Medien hatten dagegen nichts mit den eigentlich begangenen Fehlern zu tun: Mehr Überwachung – und «Krieg». Grosser Beifall. Frankreich und seine Verbündeten scheint es wenig zu kümmern, dass das Land schon vor den Anschlägen vor dem Stade de France und dem Bataclan damit begonnen hatte, die syrische Stadt Rakka zu bombardieren – mit derselben Begründung (dem Charlie-Hebdo-Attentat). Es berief sich auf das durch die UNO garantierte Recht auf Selbstverteidigung, eine Begründung, die von verschiedenen Experten als haltlos kritisiert wurde. Frankreich war schon damals längst im Krieg, einem nicht erklärten, einem völkerrechtlich umstrittenen.
Gleichzeitig mit Hollandes erster Antwort auf die Tat in Nizza (mehr Krieg) versprach Donald Trump, einziger verbliebener Präsidentschaftskandidat der Republikaner, seinen Anhängern live auf Fox TV, er werde aufgrund der Ereignisse und der Gefahr, die von Migranten ausgehe, offiziell den dritten Weltkrieg ausrufen. Falls er zum Präsidenten gewählt würde.
Das Fehlen echter Lösungsansätze
Es ist selten eine gute Idee, mit Provokateur Jean Baudrillard einig zu gehen, insbesondere nicht, wenn er schreibt, dass es «keine Lösung in dieser extremen Situation» des Terrors gebe. Seine Abwandlung von Clausewitz‘ Diktum als Antwort auf 9/11, Krieg sei lediglich «die Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mit anderen Mitteln», muss aber so lange ihre Gültigkeit behalten, als die Politik weiter nur Scheindebatten führt und Scheinlösungen bietet. Die Absenz des Politischen manifestiert sich hier in der Repetition immer gleicher untauglicher symbolischer und realer Akte. Bekanntlich ein Symptom des Wahnsinns. Und damit ganz nach dem Drehbuch der Terroristen.
Zu viele Politiker und Chefredaktoren helfen tatkräftig mit beim Herbeischreiben der nächsten Bombardements, ergötzen sich am imaginären Ende Europas, manche gar an der Vorstellung des Untergangs des ganzen Abendlandes. Zu viele lassen sich verrückt machen, leichtsinnig oder mutwillig, trotz einer Fülle möglicher Alternativen.
Sie verschweigen, dass Deutschland und viele weitere Länder nicht mitmachten beim Irakkrieg. Sie verschweigen, dass eine absolute Mehrheit der europäischen Bevölkerung gegen diesen Krieg war. Sie blenden historische, politische und soziale Zusammenhänge und Probleme aus.
Der Applaus der bärtigen Männer
Sie verschweigen, dass es Rezepte gegen Radikalisierung und Terrorismus gibt, die einerseits grösstmögliche Sicherheit bieten, Versicherheitlichungsbestrebungen aber ablehnen. Sie reden gerne über Liberté und geben dabei jene der Lächerlichkeit preis, die Égalite und Fraternité nicht vergessen haben. Vernünftige Stimmen mit anderen Vorschlägen (etwa jene, die soziale und religiöse Probleme ansprechen und von allen Seiten Integration fordern), drohen im Kriegsgeheul unterzugehen.
Wer einen apokalyptischen Kult damit zu besiegen hofft, der Gesellschaft vorzubeten, es sei ein Punkt erreicht, an dem «es» aus diesen oder jenen Gründen nicht mehr zu schaffen sei, der hilft aktiv am Niedergang seiner eigenen Gesellschaft mit.
Ein Trauerspiel. Den lautesten Applaus spenden jeweils die bärtigen Männer in der Wüste mit ihren Kalaschnikows und ihre fanatisierten Fans in aller Welt, wenn sie nach dem Morgengebet die Nachrichten lesen.
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