Der Friedensnobelpreis der EU versinkt im Meer der Schande

Die EU könnte die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer beenden. Doch die Furcht vor dem Kampf gegen die Schlepper ist grösser als die Scham über Tote im Mittelmeer.

ATTENTION EDITORS - VISUAL COVERAGE OF SCENES OF INJURY OR DEATH A man carries the recovered body of a dead migrant child at the coast of the southeastern island of Rhodes April 20, 2015. A wooden sailboat carrying dozens of immigrants ran aground on Monday off the coast of the Greek island of Rhodes and at least three people have drowned, the Greek coast guard said. REUTERS/Argiris Mantikos/Eurokinissi TPX IMAGES OF THE DAY GREECE OUT. NO COMMERCIAL OR EDITORIAL SALES IN GREECE NO SALES NO ARCHIVES TEMPLATE OUT (Bild: EUROKINISSI)

Die EU könnte die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer beenden. Doch die Furcht vor dem Kampf gegen die Schlepper ist grösser als die Scham über Tote im Mittelmeer.

Die Europäische Union ist Trägerin des Friedensnobelpreises. Verdient hat sich die Gemeinschaft diese Auszeichnung dadurch, dass auf weiten Teilen des Kontinents seit 60 Jahren Frieden herrscht. Lenkt man den Blick Richtung Süden, wirkt der Preis für die EU wie Hohn. 1600 Menschen sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR seit Anfang des Jahres gestorben, alleine 900 sollen es beim jüngsten Bootsunglück am Wochenende gewesen sein. Die EU ist für die ertrunkenen Flüchtlinge mitverantwortlich. Das nasse Massengrab ist ihr Meer der Schande.

Was kann, was muss Europa tun?

Die 28 Mitgliedsstaaten müssen sich endlich einig werden, wie dem Exodus über das Mittelmeer beizukommen ist und wie das Massensterben, das dem eines regelrechten Krieges längst gleicht, beendet werden kann. Bislang fehlt hierzu noch der politische Wille, trotz unzähliger Katastrophen in den vergangenen Jahren. Doch je mehr Tote es gibt, man muss das so kühl feststellen, desto grösser wird der Druck zum Handeln.

Im Wesentlichen hat Europa drei Optionen, wenn es dem Sterben nicht weiter tatenlos zusehen will:

1. Rettung statt Grenzschutz

Die Grenzschutz-Operation Triton wird zu einer Rettungsoperation umgemodelt, wie sie mit Mare Nostrum schon bis Herbst 2014 Bestand hatte. Alle EU-Staaten müssen kurzfristig mehr Geld und mehr Schiffe bereitstellen, um die Flüchtlinge rechtzeitig von den überfüllten Kuttern aufzunehmen. Doch dadurch können Unglücke wie das vom Wochenende vermutlich nicht verhindert werden. Das vollbesetzte Schiff kenterte offenbar in dem Moment, als sich die Menschen einem zur Rettung herbei geeilten Frachtschiff zuwandten. Das Sterben könnte durch eine echte Rettungsoperation wohl verringert, nicht aber verhindert werden.

Der Vorwurf, echte Rettungsoperationen wie Mare Nostrum würden die Schlepper erst recht zu ihren Taten animieren, trifft nur bedingt zu. Denn nach dem Ende dieser Rettungsoperation unter italienischer Flagge hat der Zustrom nicht etwa nachgelassen, sondern noch zugenommen. 23’500 Flüchtlinge sind seit Beginn des Jahres über das Mittelmeer gekommen, im selben Zeitraum 2014 waren es 20’800. Die Schlepper nützen die allgemeine Pflicht zur Seenotrettung aus und setzen Notrufe auf hoher See ab. Sollen elementare Rechte nicht ausser Kraft gesetzt werden, muss die italienische Küstenwache reagieren.

2. Seeblockade

Zwei weitere Strategien sind denkbar, aber hoch riskant und aus humanitären Gründen äusserst fragwürdig: Eine Seeblockade, wie sie etwa Italien und Albanien 1997 verabredeten, mit der Rückführung der Flüchtlingskutter in die libyschen Häfen. Was geschieht dann mit den Menschen, die schon jetzt erheblicher Gewalt ausgesetzt sind? Oder die Bemühung, das Übel an seinen Wurzeln zu erkennen und zu packen. Dazu gehören Entwicklungshilfe und die Förderung stabiler Transit-Länder wie etwa Tunesien. Ergänzend wäre die Schlepper-Kriminalität zu bekämpfen, langfristig, und auch vor Ort in Herkunfts- und Transitländern.

3. Polizeiaktion in Libyen gegen die Schlepper

Doch der Kampf gegen Schlepper beginnt mit einem Problem. Über 90 Prozent aller Bootsflüchtlinge lassen sich in Libyen für viel Geld auf die Boote pferchen. In Libyen rivalisieren zwei Regierungen und Dutzende Milizen um die Kontrolle. Eine staatliche Ordnung ist nicht mehr existent, es fehlt dem Westen also an zuverlässigen Ansprechpartnern vor Ort, die Abkommen verabreden und durchsetzen könnten.

Wer die Qualen einer Wüstendurchquerung hinter sich gebracht hat, den wird auch eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer nicht abschrecken.

Das Gedankenspiel der italienischen Regierung, eine rein europäische Polizeiaktion mit UN-Mandat an den Häfen und Stränden Libyens gegen die Schlepper zu starten, hat unter den gegenwärtigen Umständen keine Chance auf politischen Konsens. Die Furcht vor dem Terror der Milizen und den in Libyen operierenden Zellen des Islamischen Staates ist noch grösser als die Scham über die Toten im Mittelmeer.

Was also bleibt, sind organisierte Rettung auf See sowie die mühsamen Schritte humanitärer Bemühungen vor Ort. Die EU-Staaten sollten zudem die Möglichkeiten für legale Einreise erhöhen, wie es bereits mit den organisierten Transfers von Flüchtlingen aus Syrien passiert. Mittelfristig müssen ausserdem Wege gefunden werden, wie Flüchtlinge unter akzeptablen humanitären Umständen eine Anerkennung als Asylsuchende noch vor der lebensgefährlichen Überfahrt nach Italien prüfen lassen können. Allerdings dürfte allen Beteiligten klar sein: Wer Tausende von Dollar investiert und unmenschliche Qualen bei der Durchquerung der Wüste hinter sich gebracht hat, den wird auch eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer nicht abschrecken.

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«The Migrants Files»: Datenjournalistische Recherche zum Thema. Die Karte zeigt alle in der Datenbank erfassten Todesfälle. Je grösser ein roter Kreis, desto höher die Opferzahl.

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