Versicherte, die Hilfe von einer Sozialversicherung brauchen, sind doppelt arm dran. Sie erleiden nicht nur einen Schicksalsschlag, ihnen haftet auch ein Stigma an. Denn Politiker und Medien kochen den Missbrauch von Leistungen zu einem der grössten Probleme unserer Zeit hoch. Die Folge: Hilfsbedürftigen wird prinzipiell misstraut. Sie sind womöglich alle Simulanten, Abzocker und Sozialschmarotzer, die man mit allen Mitteln kontrollieren und überwachen muss.
Natürlich soll man gegen Missbrauch der Sozialwerke vorgehen, solche Fälle möglichst verhindern. Und bei begründetem Verdacht via Gericht und Polizei mögliche Betrüger observieren können.
Das wird auch gemacht. Dabei hat sich in den vergangenen zehn Jahren gezeigt, dass die Missbrauchsquote bei der IV deutlich unter einem Prozent liegt. Zwei Drittel der Missbrauchsfälle werden ohne Überwachung aufgedeckt. Ein Drittel der Observationen von IV-Rentnern betrifft Unschuldige.
Nun hat das Parlament auf Druck der Versicherungslobby ein neues Gesetz verabschiedet. Versicherer wie IV, Ausgleichskassen, Suva und Krankenkassen können die Überwachung von Versicherten anordnen und ausführen lassen – ohne richterliche Genehmigung.
Auch Ihre Krankenkasse, liebe Leserin, lieber Leser, kann – ohne Kontrolle der Justiz – einen Detektiv auf Sie ansetzen, der in Ihre Wohnung schauen und Aufnahmen machen darf. Die Polizei braucht bei Verdacht auf terroristische Aktivität eine richterliche Genehmigung.
Der Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung dieses Gesetzes die Kontrolle verloren und in der Verfassung garantierte Grundrechte verworfen. Nicht nur auf Kosten der Schwächsten, sondern auf Kosten der Rechte aller Schweizer Bürgerinnen und Bürger.
Das Thema wirft viele Fragen auf: Was bedeutet eine Überwachung für Betroffene? Wer kontrolliert die Detektive? Warum ist das Gesetz aus rechtlicher Sicht problematisch – und was bedeutet es für die Gesellschaft?
Für die TagesWoche steht fest: Es braucht das Referendum gegen das Gesetz. Das Volk muss die Chance erhalten, den Fehler des Parlaments zu korrigieren.
*Für die Bebilderung der TagesWoche-Artikel-Serie über das Spitzelgesetz und das Referendum dagegen haben wir die Privathäuser der Nationalräte Ruth Humbel (CVP), Lorenz Hess (BDP) und Thomas de Courten (SVP) ausgespäht. Humbel und Hess zählen zu den eifrigsten Fürsprechern der Schnüffelbewilligung, der Baselbieter de Courten präsidiert die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, die das Gesetz vorgespurt hat. Lobbyistin Humbel ist Vizepräsidentin der Kommission.
Wir haben Fenster und Vorgärten fotografiert, haben uns auf die Lauer gelegt. Entstanden ist ein kleiner Nachhilfeunterricht in Empathie: So fühlt sich das an, wenn man unter Generalverdacht steht, einem der letzte Rückzugsort genommen wird und das Misstrauen vor nichts haltmacht.