Innezuhalten nach dem Terror von Paris, das schien im Sport keine Alternative. Die Furcht vor neuen Anschlägen hat zur Absage des Fussball-Länderspiels in Hannover geführt – während in London ein wuchtiger Chor mit einem blutrünstigen Text ein Zeichen der Solidarität setzte.
Der Gegensatz hätte an diesem Dienstagabend nicht grösser sein können: In London ein wuchtiger Chor von 70’000 Menschen, die die Marseillaise singen und so ihre Solidarität mit Frankreich demonstrieren. In Hannover ein gewaltiges Aufgebot an Sicherheitskräften, das erst ein Stadion und dann eine halbe Stadt nach Bomben oder potenziellen Attentätern durchkämmt.
Nicht nachgeben, sich nicht dem Terrorismus beugen, unsere freiheitlichen Werte verteidigen und leben. Dieses Signal sollte vom Dienstag und vom Sport ausgehen. Dann wurde erst das Länderspiel in Brüssel, wo Belgien gegen Spanien antreten wollte, abgesagt. Schliesslich, nur eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff, die Partie zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover. Wegen der erhöhten Gefährdungslage, die offenbar auf Warnungen ausländischer Nachrichtendienste beruhte.
Somit ist die Symbolik, die von diesem 17. November ausgeht, nur vier Tage nach den grauenhaften Anschlägen in Paris, eine ganz andere, als es sich Politik und Gesellschaft vorgestellt haben. Statt eines Zeichens der Stärke, das von einer Grossveranstaltung ausgehen sollte, an der man unbeirrt festhielt, ist die Verletzlichkeit auf ein Neues deutlich geworden.
Es war zu viel Symbolik, mit der das Fussballspiel überfrachtet wurde.
Ihre wahre Bedeutung bekommt die Absage von Hannover gerade dadurch, dass da ein Fussballspiel mit mächtiger Symbolik überfrachtet worden ist. Mit zu viel Symbolik. Wie zum Beispiel der Ankündigung, dass die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrem halben Kabinett auf der Ehrentribüne der Arena Platz nehmen wolle. Als ob die Politik in diesen Tagen nichts Besseres zu tun hätte.
Welche Weiterungen das für Grossveranstaltungen wie Fussballspiele haben wird, selbst für eine Begegnung in der Schweizer Super League, lässt sich nicht absehen. Der Interimspräsident des Deutschen Fussball-Bundes (DFB), Reinhard Rauball, steht unter dem Eindruck, «dass der Fussball in Deutschland mit dem heutigen Tage in vielen Facetten eine andere Wende bekommen hat».
Innehalten wäre eine Alternative gewesen. Damit wäre auch den Sportlern gedient gewesen.
Es hätte Alternativen gegeben nur vier Tage nach Paris. Innehalten wäre eine Möglichkeit gewesen. Man solle es bleiben lassen, war zunächst die Meinung von Bundestrainer Joachim Löw zum Spiel in Hannover. Doch er liess sich ebenso davon überzeugen, zum Spiel anzutreten, wie die aufgebotenen Nationalspieler, die die Nacht von Freitag auf Samstag in der Umkleidekabine des Stade de France hatten verbringen müssen.
An einem Ort, der allem Anschein nach sehr knapp an einer noch monströseren Katastrophe vorbeigeschrammt ist.
Wie tief dieser Schock bei den deutschen Spielern sitzt, machte Ilkay Gündogan deutlich. Sie hätten sich, «um ehrlich zu sein», so der 25-jährige Profi von Borussia Dortmund, gegen die Austragung des Länderspiels in Hannover ausgesprochen, «weil wir letztendlich keine Maschinen sind, sondern auch Menschen mit Gefühlen».
Die Spieler seien schliesslich «als letzte Instanz damit einverstanden» gewesen, sagt Gündogan in in einem Video, das der DFB vor der Absage veröffentlichte. Einverstanden, «um einfach eine Symbolik reinzubringen und ein Statement abzugeben». Die Botschaft an die Menschen sollte lauten: «Zusammenhalt und Stärke beweisen».
Der Akt, der den Berufsfussballern da aufgetragen wurde, blieb ihnen erspart. Das Spiel fiel aus.
Es bleiben die Bilder und die Geräuschkulisse aus dem Wembleystadion in London. Ein Prinz und zwei Trainer, die Trauerkränze in den Farben der Trikolore am Spielfeldrand niederlegen, gefolgt von einem Premierminister und anderen Würdenträgern. 71’223 Engländer und Franzosen, die gemeinsam die Marseillaise singen, eine Nationalhymne mit kraftvoller Melodie und einem wahrhaft blutrünstigen Text.
Wissen diese Menschen, vereint in Solidarität und Friedenswunsch in einer Sportarena, was sie da gesungen haben? Vier Tage nach den Toten und Verletzten von Paris.
Wie brüchig all diese Symbolik und all dieses Pathos ist, wie fragil die Situation und wie angreifbar letztendlich der Sport ist, darüber kann London nicht hinwegtäuschen.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Für die englischen Besucher im Wembleystadion gab es den Text der Marseillaise zum Ablesen. (Bild: Reuters/Carl Recine)