Die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft birgt Gefahren für Kinder und Jugendliche. Doch Gleiches gilt auch für verallgemeinerte Ursache-Wirkungs-Modelle, findet Franziska Schutzbach vom Zentrum Gender Studies der Universität Basel.
In den letzten Jahren ist die Sorge gewachsen, Kinder und Jugendliche würden durch Medien und Werbung sexualisiert. Auch andere Akteure stehen im Verdacht. So wird in der Schweiz die Sexualisierung von Kindern durch Aufklärungsunterricht befürchtet (Stichwort «Sexkoffer»). Und seit Wochen plädiert ein Bündnis aus christlichen Organisationen und rechtskonservativen Parteien dafür, das Wort «Gender» aus dem Lehrplan 21 zu streichen – unter anderem weil die «Genderideologie» Kinder homosexualisieren würde.
Zahlreiche Bücher («Sexuelle Verwahrlosung – Die Wirkung von Pornographie auf Jugendliche», «Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist») warnen davor, dass Jugendliche Verhaltensweisen aus der Pornografie übernehmen. Häufig werden solche Szenarien in Zusammenhang gestellt mit anderen pathologischen Zeitphänomenen wie Essstörung, Komatrinken, Beziehungsunfähigkeit oder Teenagerschwangerschaften.
Kaum belegbare Zusammenhänge
So unterschiedlich die Motivation und Ausgangslage der verschiedenen Diagnosen sind, und so recht sie in einigen Punkten haben, gehen sie doch von Annahmen aus, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht immer haltbar sind. Die Sexualisierungsprognosen stellen Zusammenhänge her, denen die angemessene Komplexität fehlt. So gibt es zum Beispiel wenig Belege dafür, dass sich Jugendliche ganz generell in ihrem Sexleben an Pornos orientieren. Richtig ist wohl eher, dass sie es unter bestimmten Umständen tun, und unter anderen nicht. Auch dass Jugendliche homosexuell würden, weil sie im Aufklärungsunterricht davon gehört haben, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Meist erfahren sie davon nicht erst in der Schule.
Richtig ist, dass Kinder und Jugendliche durch die Online-Verfügbarkeit früher und ungehinderter pornografisches Material konsumieren und dass Medieninhalte generell sexualisierter sind. Wer sich wissenschaftlich mit Jugend und Sexualität beschäftigt, weiss jedoch, dass Jugendliche ein komplexeres, widersprüchlicheres und auch eigensinnigeres Verhältnis zur Sexualität haben, als die genannten Rückschlüsse glauben machen.
Durch Medienkonsum beeinflusst?
Rezeption ist ein komplizierter Vorgang und von multiplen Faktoren wie Geschlecht sowie von sozialen und kulturellen Hintergründen abhängig. Manchen Untersuchungen zufolge unterscheiden Jugendliche klar zwischen Fiktion und Wirklichkeit, also zwischen pornografischen Darstellungen und der eigenen, alltäglichen Sexualität.
Andere Erhebungen wiederum machen deutlich, wie sich Medienkonsum und eigene sexuelle Praxis der Jugendlichen vermischen und sie stark beeinflussen, sie zum Beispiel unter sexuellen Leistungsdruck setzen. Wieder andere Studien legen nahe, dass ein und dieselbe Person beeinflusst und eigensinnig zugleich sein kann: In Interviews hat die Psychologin Dionne Stephens herausgefunden, dass Mädchen genau erkennen, wenn Frauen in Hip-Hop-Videos sexuell herabwürdigend dargestellt werden. Die Videos dienten den Mädchen sogar als Abgrenzungsfolie: So wollen wir uns sicher nicht verhalten oder behandelt werden.
Besonnene Jugend
Aufschlussreich ist auch ein Blick auf die aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation. Diese legen nahe, dass heutige Jugendliche in Sachen Sexualität besonnener sind als die Generationen vor ihnen: Seit 2002 ist eine Entwicklung zu beobachten, wonach Mädchen länger bis zum ersten Geschlechtsverkehr warten. Die Zahl der Teenagerschwangerschaften nimmt nicht zu, sondern bleibt gleich oder geht sogar zurück.
Weiter geben gerade einmal 11 Prozent der Jugendlichen an, schon vor dem 15. Lebensjahr Sex gehabt zu haben (1995 waren es 19 Prozent). 72 Prozent der Mädchen machen ihre sexuellen Erfahrungen im Rahmen von festen Beziehungen und fast 80 Prozent der Mädchen verhüten, wie überhaupt die Nutzung von Verhütungsmitteln generell gestiegen ist. Auch diese Zahlen legen nahe, dass der Rückschluss, die Öffentlichkeit sexueller Inhalte führe zur generellen Verwahrlosung, zu kurz greift.
Genauere Analysen erforderlich
Es ist unbestritten, dass Aspekte der zunehmenden Sexualisierung der Gesellschaft Gefahren bergen. Doch müssen diese Gefahren konkretisiert werden. Es braucht genauere Analysen, um zu verstehen, unter welchen Umständen Kinder und Jugendliche Gefahren ausgesetzt sind. Dies heisst auch, verallgemeinerten Ursache-Wirkungs-Modellen kritisch zu begegnen, und zwar aus folgenden Gründen: Durch diese Erklärungsmuster werden zum einen die Jugendlichen selbst skandalisiert. Anstatt auf die durchaus wichtige Medien- oder Gesellschaftskritik richtet sich der Fokus einseitig darauf, die Verhaltensweisen von Jugendlichen zu bewerten.
Zum anderen wird mit einfachen Ursache-Wirkungs-Modellen der Eindruck vermittelt, Sexualisierung sei vor allem eine Bedrohung durch einzelne Faktoren von aussen. Die einseitige Sicht auf eine Gefahr «von aussen» (Internet, Sexkoffer, «Homosexuellen-Lobby») verdeckt, dass sexueller Missbrauch vor allem innerhalb des ganz normalen Lebens – also innerhalb von Familien und Freundeskreisen – und im Alltag stattfindet. Die Betonung einer «äusseren Gefahr» verhindert die dringend notwendige Einsicht, dass Sexualisierung oder sexuelle Gewalt oft mehr mit sozialen Strukturen als mit isolierten Gefahrenherden zu tun haben.
Re-Installation alter Geschlechterrollen
Es ist bestechend einfach, einen isolierten Feind auszumachen. Aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive stellt sich aber auch grundsätzlich die Frage, welche gesellschaftlichen Funktionen die Skandalisierungslogik hatte und hat: Psychologie, Medizin und Pädagogik streiten seit dem 19. Jahrhundert um die Deutungshoheit über die kindliche und jugendliche Sexualität. Mit der bürgerlichen Familie entstanden sowohl die Idee der Sexualität des Kindes als auch die Idee seiner Reinheit und Asexualität.
In den aktuellen Sexualisierungsszenarien werden insbesondere Mädchen oft als naive und passive Figuren imaginiert, auf die sich fremde Inhalte einfach einschreiben. In diesem Bild verbirgt sich aber zugleich die Sorge, dass diese passiven Mädchen zum Sex-Vamp mutieren und – entgegen ihrer gesellschaftlich vorgesehenen Rolle – plötzlich selber aktiv handeln und etwas wollen. In ihrem Buch «Becoming Sexual» kommt die US-Professorin Danielle Egan zum Schluss, dass sich hier eine Abwehr gegen die sexuell aktive, emanzipierte Frau zeigt, die nicht mehr die Rolle der züchtigen Hausfrau, Gattin und Mutter erfüllt. Kurz: In der Warnung vor «hypersexuellen Mädchen» verbirgt sich auch das Anliegen, eine traditionelle Geschlechterordnung zu re-installieren.
In diesem Sinne spiegelt die Skandalisierung des sexuell aktiven Mädchens nicht zuletzt eine grundlegende Skepsis gegenüber einer emanzipatorischen Modernisierung der Gesellschaft. Verhandelt wird, welche Geschlechterrollen akzeptabel sind oder nicht, und welche Sexualität gesellschaftlich gewollt ist.
_
Franziska Schutzbach forscht und lehrt am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bevölkerungs- und Reproduktionspolitiken.