Viele EU-Bürger haben die Wahl für einen Protest gegen Brüssel genutzt und gaben ihre Stimmen EU-kritischen Parteien. Dies sollten die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, die an der Macht bleiben, ernst nehmen und den enttäuschten Protestwählern das Projekt Europa glaubhaft näherbringen.
Rund 400 Millionen Stimmberechtigte der 28 EU-Länder hatten in den vergangenen Tagen Gelegenheit, mit ihrem Wahlzettel über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments der nächsten fünf Jahre mitzuentscheiden. Über 43 Prozent haben davon Gebrauch gemacht, 0,1 Prozent mehr als das letzte Mal. Dass der Rückgang der Stimmbeteiligung gestoppt und in einen minimalen Anstieg gedreht werden konnte, mag genugtuend sein.
Bei solchen Wahlen sind die inhaltlichen Ergebnisse jedoch wichtiger. Es ging bei dieser Wahl um zwei Dinge: um die Parteirichtung und um die Grundeinstellung zum europäischen Gemeinschaftsprojekt. Beides ist miteinander verhängt. Die beiden pro-europäischen Grossparteien, die konservative Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, haben eine solide Bestätigung eingefahren und werden zusammen mit anderen Kräften mindestens 600 der 750 Sitze belegen. Dies sollte trotz der grossen Aufmerksamkeit, die der Erfolg der europafeindlich eingestellten äusseren Rechten erregt, nicht übersehen werden.
Der Aufstieg der äusseren Rechten muss ernst genommen werden. Er darf aber auch nicht überbewertet werden.
Der Aufstieg der äusseren Rechten muss ernst genommen werden. Er darf aber auch nicht überbewertet werden. Es wird sich auch zeigen, dass die Rechte keineswegs einen einheitlichen Block bildet und wesentliche Binnendifferenzen in sich trägt. So ist es etwa beruhigend zu hören, dass die Alternative für Deutschland (AfD), die 7 Prozent der Stimmen geholt hat, ein Zusammengehen mit der britischen Ukip kategorisch in Abrede gestellt hat.
Mitte sollte nicht weiter nach rechts rutschen
Die Verhältnisse sind nun also so, dass die alten Kräfte «weiterarbeiten» können. Dabei werden sie zwangsläufig auf die Frage eingehen müssen, wie Europa künftig aussehen soll.
Es bleibt die Aufgabe, den Protestwählern die europäische Politik zu erklären und näherzubringen, und es bleibt für die Mitte die Aufgabe, nicht selber stärker nach rechts zu rutschen. Diese Gefahr besteht bei den Konservativen wie bei den Sozialdemokraten. Aus Angst vor Stimmenverlusten hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor dem Wahlgang im Namen der Konservativen noch rasch die fürchterliche Aussage gemacht, dass die EU keine «soziale Union» sei. Natürlich ist sie das, und sie muss das auch sein.
Von den Europawahlen konnte man wissen, dass von ihnen ein schneller und ein langsamer Effekt ausgehen wird. Der schnelle: Aufgrund der Stimmbeteiligung kann man ablesen, wie wichtig «Europa» den Bürgerinnen und Bürgern ist – und aufgrund der Verteilung der Stimmen auf die verschiedenen Kandidaten beziehungsweise Parteien kann man feststellen, wem die Wählergunst gerade hold ist.
Der Effekt, der länger auf sich warten lässt, ist die Schaffung der neuen Kommission, die immerhin so etwas wie eine halbe Europaregierung ist. Und geht man davon aus, dass vom Kommissionspräsidenten besonders viel Einfluss ausgeht, ist es bedeutsam, welcher Fraktion und welcher Person dieses Mandat zufällt. Fraktion können diejenigen Kräfte sein, die mindestens 25 Sitze aus mindestens 7 Ländern um sich scharen können. Die äussere Rechte wird die erforderlichen Sitze sicher zusammenbekommen, wohl kaum aber die Länderbeteiligung.
Sozialdemokraten haben Flagge gezeigt
Kommissionspräsident wird werden, wer über die eigene Fraktion hinaus die breitere Koalition zustandebringt. Die Sozialdemokraten haben einen Einbezug der äusseren Linken abgelehnt. Auf der rechten Seite ist abzuwarten, ob die Volkspartei Stimmen der äusseren Rechten für ihre Mehrheit benötigt.
Über die Besetzung des Kommissionspräsidiums werden die 28 Regierungschefs am Dienstag bei einem Abendessen ein erstes Mal angesichts der dann vorliegenden Zahlen beraten. Dabei werden sie auch die Meinungen des Parlaments genau im Auge behalten müssen, weil die Regierungschefs (der Rat) nur Anträge stellen, aber nicht wählen dürfen, während das Parlament nur wählen darf, wer vorgeschlagen wurde. Das ist eine typische wechselseitige Abhängigkeit, wie sie auch zwischen Rat und Kommission besteht.
Die Debatten rund um die Wahl haben vielen Leuten gezeigt, worum es in Europa geht.
Typisch ist auch, dass man das Resultat dieser Wahlen nicht erläutern kann, ohne die eben abgegebenen Erklärungen vorausgeschickt zu haben. Dies aus zwei Gründen: Erstens ist das System tatsächlich kompliziert, und zweitens sind die Bürger mit ihm (noch) zu wenig vertraut. Diese haben zum Teil ja schon Mühe, ihre nationalen Systeme zu verstehen.
Aber man kann sagen, dass diese Wahlen, die Debatten davor und die Debatten danach, recht viel Aufmerksamkeit erregt und damit auch die Gelegenheit gegeben haben, besser zu verstehen, was in Europa abläuft und worum es geht.