Ueli Maurer wirft seinem Bundespräsident Didier Burkhalter mangelnde Neutralität vor. Tatsächlich geht es dem SVP-Bundesrat nicht um das Wohl der Schweiz, sondern um populistische Parteipolitik.
Bundesrat Ueli Maurer, Delegierter der SVP in der Landesregierung, hat wieder einmal provoziert und prompt die angestrebte Resonanz ausgelöst. Die Schweizerische Volkspartei bildet sich etwas darauf ein, bei der Früherkennung von Problemen Pionierarbeit zu leisten. Tüchtig setzt sie Themen und löst Medienaufmerksamkeit aus – ob materiell begründet oder nicht.
Diesmal gelang es mit Vorwürfen gegen Didier Burkhalter. Dieser hat in seiner Rolle als Bundespräsident derzeit auch für die Schweiz das OSZE-Präsidium inne. Und dabei, so Maurer in der «Weltwoche», verfolge er einen Kurs, der mit der Neutralität der Schweiz nicht vereinbar sei.
Widersprüche? Kein Problem für Populisten
Nicht vereinbar mit der Neutralität? Beschäftigen wir uns also wieder einmal mit dieser Staatsmaxime. Sie ist «ewig» im doppelten Sinne: «unbefristet» in der historischen Begrifflichkeit – und bis zum Überdruss kultiviert im alltagssprachlichen Sinne.
Maurers Angriff auf den Mitbundesrat in der «Weltwoche» darf auch im Zusammenhang damit gesehen werden, dass sich Aussenminister Burkhalter laut Chefredaktor Roger Köppel «seit Jahren» weigere, dem Blatt ein Interview zu geben. Seit Jahren? Didier Burkhalter ist seit dem 1. Februar 2012 Chef des Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten.
Widersprüchlichkeit ist für Populisten kein Problem – darum könnten sie auch die Meinung vertreten, die Schweiz spiele in der Welt eine einzigartige Rolle, weil sie dank ihrer Neutralität bestens zur Vermittlung und Streitschlichtung geeignet sei. Wenn sie, wie jetzt im Fall des Krimkonflikts, diese Vermittlungsaufgabe mit Erfolg wahrnimmt, ist es offenbar auch wieder nicht recht. Bereits zu viel des Engagements? Melden wir uns doch gescheiter ab von der doch so risikoreichen Welt!
Das Dilemma ist real
Die Schweiz kann sich aber nicht von der Welt abmelden. Sie ist zutiefst in sie verstrickt. Und sie ist tatsächlich mit einem Dilemma konfrontiert. Es besteht in der Frage, ob und in welchem Masse unser Land sich an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligen soll. Da können in beiden Richtungen die Erwartungen nicht erfüllt werden: Schliesst sie sich dem Westen an, wird sie von Russland als prowestlich eingestuft – schliesst sie sich nicht dem Westen an, wird das von dieser Seite als prorussisch betrachtet. Am Mittwoch hat der Bundesrat einen Entscheid gefällt, der das Dilemma widerspiegelt: vorläufig kein Mitmachen bei den Sanktionen, aber Vermeiden von Umgehungsgeschäften und (wegen Schengen) Einreisesperren analog zur EU.
In einer solchen Situation könnten Prinzipien helfen, die man unabhängig von der jeweils gerade aktuellen Konstellation hochhält. 1990 wurde die schweizerische Doktrin – zu Recht – so justiert, dass man sich (damals auch ohne UNO-Mitgliedschaft) bereit erklärte, Sanktionen mitzutragen, wenn die ganze Staatenwelt gegen einen Bösewicht (damals Saddam Hussein) antritt.
Wie ist es jetzt? Die führenden Industriestaaten haben wegen «Bösewicht Putin» aus der G-8 temporär eine G-7 gemacht. In der UNO aber, wo es sicher noch Lagerresten aus der Zeit des Kalten Kriegs und entsprechend Klientelstaaten Russlands gibt, bekäme man eine Verurteilung Russlands durch die «ganze Staatenwelt» nicht zustande.
Die Frage der Sanktionen dreht sich nicht um Neutralität, sondern um Einschränkungen der Wirtschaftsbeziehungen.
Möglich ist, dass die schweizerischen Entscheidungsträger gar nicht auf internationale Doktrin, sondern auf die wie immer verstandenen Landesinteressen abstellen, das heisst zum Beispiel auf die russischen Rohstoffhändler in Genf und die russischen Pelzmäntel in St. Moritz.
Zu Beginn der 1990er-Jahre wurde die Schweizer Neutralität auf ihren völkerrechtlichen Kerngehalt zurückgeführt: auf die Unparteilichkeit im Krieg. Alles, was darüber hinaus geht, sind neutralitätspolitische Vorleistungen, welche bloss glaubhaft machen sollen, dass im Ernstfall der Neutralitätskern hart bleibt. Die Frage der Sanktionen dreht sich nicht um Neutralität, sondern um allfällige Einschränkung der Wirtschaftsbeziehungen.
Systematische Spaltbemühungen
Neutralität ist auch ein innenpolitisches Thema. Sie soll Zerrissenheit vermeiden, die entstehen könnte, wenn im Lande Helvetien unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen und Ziele in der Aussenorientierung aufkämen.
Das können wir heutzutage weitgehend vergessen. Wenn Gräben mittlerweile zum Normalzustand gehören, kann man zwei Haltungen einnehmen: die weitere Spaltung hinnehmen, weil es auf eine Differenz mehr oder weniger nicht mehr ankommt – oder die Konsenssuche intensivieren, damit nicht noch mehr hinzukommt. Letzteres mag löblich sein und der freundeidgenössischen Tradition entsprechen, ist aber wenig hilfreich, weil die Spaltung aus parteipolitischem Kalkül – mit Aktionen wie derjenigen Maurers – systematisch betrieben wird.
Die Neutralität ist Maurers «Neger»
Ueli Maurer sitzt unter anderem deshalb im Bundesrat, weil sich die Bürgerlichen davon einen domestizierenden Integrationseffekt versprachen. Nun aber nutzt er diese Plattform immer wieder für parteipolitisch eingefärbte Provokationen, auch im letzten Jahr als Bundespräsident.
Es ist der ehemalige Parteipräsident, der für sich und seine Partei entschieden hat, dass die Kamera auf ihm bleibt, solange er «Neger» sagt. Jetzt ist die Neutralität der «Neger». Scheinheilig erklärte er vor ein paar Tagen, man müsse fast davor warnen, die Neutralität zu betonen, «denn je mehr die Rechtsbürgerlichen etwas einfordern, desto stärker ist der Abwehrreflex auf der anderen politischen Seite».
Maurer warnt «fast» – um es dann nichtsdestrotz und erst noch ungerechtfertigt zu tun. Das ist nichts anderes als eine sehr unneutrale Parteipolitik. Und das zu Lasten der Aussenpolitik, von der es heisst, in diesem Bereich müsse die Nation besonders geeint auftreten.
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Georg Kreis ist emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel. Er war bis Juli 2011 Leiter des Europainstituts Basel und bis Ende 2011 Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.