Diese Rechnung geht nicht auf

Seit Jahren spart der Bund in der Asylpolitik. Nun steigt die Zahl der Asylsuchenden wegen der Umwälzungen in Nordafrika und prompt gerät das System in die Krise. Ein Kommentar.

Asylbewerber vor dem Basler Ausschaffungsgefängnis Bässlergut. (Bild: Stefan Bohrer)

Seit Jahren spart der Bund in der Asylpolitik. Nun steigt die Zahl der Asylsuchenden wegen der Umwälzungen in Nordafrika und prompt gerät das System in die Krise.

Jahr für Jahr gibt die Schweiz Milliarden für die Armee aus, auch wenn seit Jahrzehnten kein Feind in Sichtweite ist. Gewappnet sein, vorbereitet sein, vorausschauen – so lautet die Devise. Ganz anders verhält sich die Schweiz in der Asylpolitik. Hier wird nicht vorausgeschaut, hier wird hinterhergerannt, und zwar seit Mitte der 1980er-Jahre, seit erstmals ­Asylbewerber aus fernen Ländern – damals waren es Tamilen – in grösserer ­Anzahl in die Schweiz kamen. Die Schweiz war unvorbereitet – sowohl was die gesetzlichen Grundlagen als auch was Unterkünfte und Betreuung betraf.

Bald 30 Jahre später sind wir noch nicht viel weiter, im Gegenteil. Wir ­haben zwar unzählige Asylgesetzverschärfungen und -revisionen hinter uns, es sind auch Empfangszentren gebaut worden. Aber kaum reisen etwas mehr Asylsuchende ein als ein Jahr zuvor, fehlen Plätze für die Flüchtlinge, werden Klagen über renitente ­Ankömmlinge laut, wehren sich Dorfbewohner gegen die Zuteilung von kleineren oder grösseren Gruppen aus Afrika, der Türkei oder dem Balkan.

Markige Worte

Fast scheint es, als ob es gewissen politischen Akteuren recht ist, dass sie von Zeit zu Zeit mit dem Thema Asyl die öffentliche Aufregung bewirtschaften können, um bei ihrer Klientel mit markigen Worten zu punkten. Wir sind wieder an einem solchen Zeitpunkt angelangt. Im vergangenen Jahr sind tatsächlich 45 Prozent mehr Asylgesuche eingereicht worden als 2010, was nach viel tönt. Ist es aber nicht, wenn man die letzten 20 Jahre überblickt.

Im Durchschnitt stellten jedes Jahr etwa 20 000 Asylbewerber ein Gesuch – im vergangenen Jahr waren es gut 10 Prozent mehr. Eigentlich gar nicht so viel angesichts der Umwälzungen in Nordafrika. Trotzdem: Der Anstieg der Gesuche belebt die öffentliche Debatte. Es wird herumgeboten, dass unechte Flüchtlinge unterwegs seien, Wirtschaftsflüchtlinge, Abenteurer und so weiter. Es wird kritisiert, dass ein Asylverfahren fast vier Jahre lang dauere. Dass Zuständigkeiten unklar seien, Unterkünfte fehlen.

Wenn im Flüchtlingswesen nur annähernd so viel in die Voraussicht investiert würde wie bei der militärischen Landesverteidigung, wäre die Schweiz besser gerüstet auf steigende Gesuchszahlen. Tatsache ist, dass in der Regierungszeit von Bundesrat Blocher das Personal und die Kapazitäten im Asylbereich derart drastisch zusammengestrichen wurden, dass sie nur gerade ausreichten, um ein absolutes Schönwetter-Szenario zu bewältigen. Oder anders herum: Blocher wollte die Gesuche auf 10 000 pro Jahr plafonieren und dann den Asylnotstand ausrufen, wenn diese Grenze überschritten würde (was den Einsatz der Armee nach sich zöge). Eine ziemlich irreale Vorstellung, die vor allem dazu führte, dass im Flüchtlingbereich qualitativ und quantitativ Ressourcen abgebaut und Know-how vernichtet wurden.

Das ganze Programm

Das Verheerende an diesem Abbau ist, dass die Schweiz für Asylbewerber an Attraktivität gewinnt. Da der Plafond von 10  000 Gesuchen ohnehin eine Illusion, der Personalbestand im Flüchtlingsbereich aber auf diese Anzahl ausgerichtet ist, können die einzelnen Fälle nicht effizient bearbeitet werden.

Auch wer von den Einreisenden keinen Anspruch auf Asyl hat, kann mangels zeitgerechter Beurteilung des Gesuchs länger bleiben. Irgendwann ist seine Zeit im Empfangszentrum abgelaufen, er wird in einen Kanton, in eine Gemeinde gebracht, was zu komplizierten Schriftwechseln und weiteren Verzögerungen in der Behandlung des Gesuchs führt. Er entfremdet sich von seinem Herkunftsort, gewöhnt sich in der Schweiz ein, taucht auch mal ab – es wird schwieriger, ihn auszuweisen. Er verursacht Kosten. Er berichtet in seine Heimat, dass seine Situation ganz leidlich sei und lockt möglicherweise Nachahmer an.

Nun sind wir – angesichts der 22 551 Gesuche im letzten Jahr – wieder am Punkt angelangt, da die seit bald 30 Jahren immer gleichen Debatten über echte und unechte Asylbewerber erneut anfangen. Diesmal allerdings mit einer neuen Nuance: mit dem Blick nach Holland. Dort, so heisst es, werden Asylgesuche innerhalb von acht Tagen entschieden, und dies weil alle Gesuchsteller an einem Ort durch ­genügend Fachleute und ­Juristen beurteilt und ihre Anträge entschieden werden.

Wie gerecht, wie nachahmenswert dieses System ist, wie gut es übertragbar ist auf die Schweiz mit ihren föderalistischen Strukturen, sei vorerst einmal dahingestellt. Umsetzen lässt es sich jedenfalls ohnehin nicht von heute auf morgen, denn die Fachkräfte in den Befragungszentren und an den Gerichten sind nicht von heute auf morgen zu finden.

Entscheidend wäre, dass in der Asylpolitik endlich diese Voraussicht einkehrte wie bei der Landesverteidigung. Dass auf lange Zeit hinaus eine Behörde aufgebaut wird, die unterschiedlichen Anfragewellen gewachsen ist. Das kostet, gewiss. Aber es kostet ein Mehrfaches, wenn bei einem Anstieg der Gesuche, wie wir ihn jetzt erleben und wie ihn uns die politischen Ereignisse auf dieser Welt immer wieder bescheren werden, überlastete Stellen keine endgültigen Entscheide fällen können und immer mehr Asylsuchende unterstützt und untergebracht werden müssen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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