Durchsetzungs-Initiative: Die Erweckung der anderen Schweiz

Für die Schweiz ist das Nein zur Durchsetzungsinitiative ein Befreiungsschlag – und eine Feier der direkten Demokratie.

Wenn schwarze Schafe zusammenstehen: Überraschend deutliche Niederlage der SVP auf ihrem wichtigsten Weideland, der Fremdenfeindlichkeit.

(Bild: Nils Fisch)

Für die Schweiz ist das Nein zur Durchsetzungsinitiative ein Befreiungsschlag – und eine Feier der direkten Demokratie.

Das Resultat würde in anderen europäischen Staaten Entsetzen auslösen: 41,8 Prozent der Schweizer sagen Ja zu einer Paralleljustiz und zur Entrechtung der ausländischen Minderheit. Für die Schweiz ist dieses Ergebnis ein Befreiungsschlag.

Das Land ist in den letzten Jahren in einem derartigen Tempo nach rechts gerückt, dass es keinen Halt, keine Grenze mehr zu geben schien. Jetzt ist die Grenze erstmal erreicht. Gezogen haben sie Menschen, die sich aus dem politischen Leben verabschiedet oder gar nie mitgewirkt hatten. Die von der Abstimmungsroutine gelangweilt waren und von den Muskelspielen der SVP befremdet.

Mit ausländerfeindlichen Ressentiments lässt sich nicht jede Abstimmung gewinnen. Das macht ungemein Mut.

Nicht die nach den Wahlen abgewirtschafteten und gegenüber der SVP ohnmächtigen Parteien haben den Abstimmungskampf geführt und gewonnen. Es waren Juristen, Richter, Studenten, Grafiker, Künstler, Musiker, Sportler, Unternehmer – es war das, was man Zivilgesellschaft nennt. Es waren die SMS, Facebookaufrufe, es war die selbst finanzierte Plakatkampagne, es waren die zahllosen Gespräche beim Bier oder in der Raucherpause zwischen Menschen, die Politik im Wesentlichen für eine abgekartete Sache hielten.

Der 28. Februar 2016 hat so auch den Ruf der direkten Demokratie gerettet. Wenn man die richtigen Argumente ausspielt, lässt sich auch mit ausländerfeindlichen Ressentiments nicht jede Abstimmung gewinnen. Und die Mehrheit ist reif genug, für eine Minderheit einzustehen. Das macht ungemein Mut.

Blocher propagierte die Idee des Sonderfalls Schweiz und sog die Massen mit dieser Erzählung auf.

Die Durchsetzungsinitiative kann zum politischen Erweckungserlebnis werden. Wie es für die Anhänger der SVP der erfolgreiche Kampf gegen den EWR war. 1992 strömten 78 Prozent der Schweizer an die Urne, jetzt waren es rund 62 Prozent. Damals beerdigte Christoph Blocher die währschafte Bauernpartei SVP und das bürgerliche Machtkartell zwischen FDP und CVP gleich mit. Er propagierte die Idee des Sonderfalls Schweiz und sog die Massen mit dieser Erzählung auf.

Die Durchsetzungsinitiative hat einen ähnlichen Effekt. Menschen, die jede positive Reflexion über die Schweiz als klebrigen Nationalismus verwarfen, dachten plötzlich über die Schweiz nach und über die Dinge, die sie bewahren wollen. Wer seine Identität nicht am Ort festmachte, an dem er zufälligerweise geboren ist, sondern an seinem Milieu, den Erfahrungen und Werten, kam auf den Gedanken, dass beides möglicherweise zusammengehört.

Der Kampf gegen die Durchsetzungsinitiative hat eine Erzählung, oder den Anfang einer solchen, geschrieben, was die Schweiz sein soll.

Die SVP hofft, dass der ganze Trubel ein einmaliges Happening war.

Für die SVP ist das eine gefährliche Situation. Das sah man den Parteiführern am Fernsehen an, als sie versuchten, ihr Scheitern wegzulachen (Roger Köppel) oder hilflos die unfaire Opposition beklagten (Albert Rösti). Ihre Gegner liessen sich nicht mit den erprobten Kampfbegriffen «Classe politique» und «Elite» angreifen. Sie liessen sich auch mit einer teuren Plakat- und Inseratekampagne in letzter Minute nicht aus dem Weg räumen.

Die Partei wird nun darauf setzen, dass dieses Bündnis bald wieder zerbricht und sich eine derartige Mobilisierung nicht wiederholen lässt. Sie hofft, dass der ganze Trubel ein einmaliges Happening war. Schon im Sommer wird sich zeigen, wie stabil der Widerstand gegen die SVP-Schweiz ist. Dann gelangt das Referendum gegen die Asylgesetzrevision zur Abstimmung. Wieder geht es um eine Verschärfung, die der SVP nicht scharf genug ist.

Die Polarisierung wird bleiben

Sicher ist, dass der 28. Februar 2016 den Graben, der die Schweizer Gesellschaft teilt, vertieft hat. Erste Analysen zeigten, dass Wähler von FDP und CVP sich mehrheitlich von den Rechtspopulisten abgewendet haben. Das war bei der Ausschaffungsinitiative noch anders. Die Schnittstellen werden weniger, die Gemeinschaften kleiner.

Das sollte man jetzt nicht beklagen. Die Polarisierung der Gesellschaft ist Realität, und sie wird es auf unabsehbare Zeit bleiben. Jetzt ist der Zeitpunkt, erleichtert zu sein, dass für einmal die andere Seite des Grabens bröckelt.

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