Entscheider werden gefeiert, Fristerstrecker geächtet. Dabei würde es unserer Welt viel besser gehen, würden wir gesetzte Fristen häufiger ignorieren.
Ich wünsche mir eine Fristerstreckung. Keine bestimmte, auch keine generelle, aber immer mal wieder eine. Oder vielleicht doch ganz generell? Ein roter Knopf an der Seite, der zuverlässig die Pflicht wegschiebt und den Verpflichter gleich mit.
Das Gefühl, den Henker nochmals nach Hause geschickt zu haben, ist überwältigend. Prickelnder, als einen Auftrag ausgeführt zu haben. Ist der Job erledigt, mag die Erleichterung gross sein, in der Regel sind es aber auch die Zweifel am eigenen Werk.
Jede durchgesetzte Verzögerung sabotiert das System.
Die Abgabefrist der Steuererklärung beispielsweise habe ich erfolgreich ans Ende des Kalenderjahres befördert. Hätte ich das Formular bereits ausgefüllt, würde ich den Tag fürchten, an dem das amtliche Schreiben mit dem eingeforderten Schuldbetrag im Briefkasten liegt. Glauben sie mir das Arbeitszimmer? Übersehen sie den kleinen Job, den ich nebenbei gemacht habe? Kann ich den betreuungsintensiven Hamster als Kleinkind abziehen? Fragen, die einen quälen wie zu kurz geschnittene Fingernägel.
Sicher, die Rechnung wird so oder so kommen – eines aber habe ich mir verschafft, was der Pflichtbewusste nie spüren wird: die Genugtuung, die Diktatur der 30-Tage-Fristen unterminiert zu haben. Jede durchgesetzte Verzögerung sabotiert das System. Sie ist ein kleiner Sieg gegen die Unfreiheit der modernen Arbeitsteilung, wo jeder rotieren muss, damit der Nächste auch rotiert.
Fristerstrecker sind schlecht beleumundet. Sie werden als Schleicher, Zauderer, Asoziale abgetan. Die Sprache ist voller ablehnender Redewendungen: Wer nicht termingerecht erledigt, schiebt die Sache auf die lange Bank. Dabei ist die Ablehnung des Aufschiebers in höchstem Mass ungerecht. Wie viele Kriege wären nicht geführt worden, hätten die Typen mit dem Gewehr gesagt: Ich glaube noch nicht so richtig an das Projekt, ich werde abwarten, wie sich das entwickelt.
Viele Übel in der Weltgeschichte und bedeutsame Niederlagen gehen auf die Kappe von Entscheidern.
Fristerstrecker gehen so gut wie nie in die Geschichte ein. Das Merkelsche «Wir schaffen das» in der Flüchtlingskrise wird als mutige Entscheidung ausgelegt. In Tat und Wahrheit war der Subtext eine Fristerstreckung: «Hört mal, ich brauch noch ein bisschen Zeit, bis ich weiss, wie wir das hinbekommen.»
Eine geradezu exemplarische Fristerstreckung. Man muss inständig hoffen, dass sich die Frist, bis die Entscheider gewinnen, weiter verschiebt und bis zum Schliessbefehl möglichst viele Flüchtlinge in Sicherheit gelangen können.
Viele Übel in der Weltgeschichte und bedeutsame Niederlagen gehen auf die Kappe von Entscheidern. Als der römische Kommandant Fabius Maximus die Karthager stoppen sollte, verschob er die Konfrontation immer wieder, damit sich die Nachschubwege der Karthager dehnten: «Nö, ich mag noch nicht.» Maximus traf die öffentliche Meinung mit voller Wucht, er erhielt den Schimpfnamen Cunctator (Zauderer), wurde abgelöst, die Schlacht bei Cannae unter neuer Führung geschlagen und 16 römische Legionen vernichtet.
Soll ich diesen Text schreiben, obwohl ich nur müde Einfälle habe?
Fristerstreckungen sind in fast allen Lebenslagen angezeigt: Soll ich Bomben über Syrien abwerfen, weil die Leute mich sonst für einen Schwächling halten? Fristerstreckung. Soll ich meine Jeans waschen, sie ist schon ganz klebrig? Fristerstreckung (Jeans sollte man nie waschen). Soll ich diesen Text schreiben, obwohl ich nur müde Einfälle habe?
Fristerstreckung, bis zum Freitag, da war Einsendeschluss; bis Montag, da wurde eine Nachspielzeit bewilligt; bis Dienstag, da wurden die Kollegen nervös; bis Mittwoch, da grüsste man mich nicht mehr. Jetzt ist der Text da. Verzeihen Sie, wenn ich Sie gelangweilt habe: Die Druckerei wollte nicht mit sich reden lassen. Ignorante Entscheider!