Die Kirche ist weder sakramentale Heilsanstalt noch Abbild des himmlischen Jerusalems: Sie ist ein Ort des Gesprächs.
Ich studierte katholische Theologie. Steuern zahle ich in der reformierten Kirche. Ich arbeite weder in der katholischen noch in der reformierten Kirche, sondern schreibe über beide in der Zeitung. Ich bin ein verhinderter Konvertit und ein gläubiger Skeptiker. Gläubig und säkular zugleich.
Die Position zwischen allen Stühlen und Bänken ist durchaus komfortabel. Sie passt zu jenen, die von dogmatischer Ausschliesslichkeit und abschliessenden Antworten eingeengt und immer wieder von den gleichen Fragen umgetrieben werden. Zuallererst von der Gottesfrage, die über Angst oder Vertrauen entscheidet, über Absurdität oder Sinnhaftigkeit des Lebens. Die Dringlichkeit der Gottesfrage, das war mein Paulus-Erlebnis. Wenn sich schon keine Antworten einstellen, die Fragen bleiben.
Darum kann der östliche Weg der Gelassenheit oder gar der Abgeklärtheit nicht mein Ideal sein, davon bin ich weit entfernt. Mich treibt das seit Augustin viel beschworene «unruhige Herz». Wie sollte das Herz nicht unruhig sein, wenn die Endlichkeit alle Versprechen unendlicher Liebe zunichte macht? Wie sollte das Herz ruhig bleiben, wenn es in die Gesichter der auf das Körperliche reduzierten Alten im Pflegeheim schaut? Wenn es im Müllviertel von Kairo von den Menschen im Elend beschämt wird?
Suspekte Berufschristen
Die Kirche wird mir, je älter ich werde und je mehr ich über sie schreibe, immer fremder. Die Kirche als Institution zumindest. Auf die Predigt des Pfarrers kann ich gut verzichten, nicht aber auf das Gespräch mit befreundeten Theologen und spirituell wachen Zeitgenossen. Katechetisch-dogmatische Belehrung reibt mich auf, lyrisch-mystische Lektüre, ob von Johannes vom Kreuz oder von Dorothee Sölle, baut mich auf. Die Andacht einer Konzertmesse inspiriert mich mehr als die Sonntagsliturgie der Gemeinde. Vom Glauben inspirierte Lebensentwürfe, zum Beispiel von Martin Luther, Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer, faszinieren mich. Berufschristen und christliche Beamte in Gestalt von Bischöfen und Prälaten sind mir suspekt.
Überhaupt dieser Machtanspruch der Kirche! Die klerikale Attitüde, der wohlfeile Trost, das aus Worthülsen gezimmerte Sicherheitssystem. Die haarspalterischen Diskussionen um Mädchen als Ministrantinnen, um Hand- oder Mundkommunion. Was hat das alles mit meinem Glauben zu tun? Die geistige Enge staatlich verordneter Religion im Islam, die Denkverbote und moralischen Regelwerke hüben wie drüben: Religion kann so unbarmherzig sein, so entmündigend. Und immer wieder so bieder. Ich frage mich, wie ein Abt zur Lichtfigur werden kann, dessen Buch «Das ganze Jahr Weihnachten» eine heile Welt suggeriert, der aber das von Volker Hesse und Thomas Hürlimann inszenierte «Welttheater» vom Klosterplatz verbannt, weil es zu wenig Positives vermittelt.
Man darf Gott anklagen
Hat das Scheitern und die Abgründigkeit denn keinen Platz in einer Kirche, die sich auf den Gekreuzigten beruft? Dabei singen just die Gutmenschen, die das Abgründige leugnen, sonntags lateinische Psalmen, die Gott die Ungerechtigkeit der Welt vorrechnen. Ich finde, angesichts all der Tode und Abschiede, die einem das Leben beschert, darf man Gott deutsch und deutlich anklagen. Das muss die helle Seite des Lebens nicht verdunkeln, die Momente der Ergriffenheit, die Sinn und Vertrauen in Fülle verheissen.
Aus diesen Erfahrungen speist sich mein Glaube. Darum kann ich der Kirche nicht folgen, die Schrift und Tradition zu den wichtigsten Glaubensquellen erklärt. Ist nicht das eigene religiöse Erleben mindestens so wichtig? Ich bin ein Kind meiner Zeit, ein extremer Individualist. Die Kirche und den heiligen Stand der Kleriker als vermittelnde Instanz brauche ich nicht. Gelobt seien die Reformatoren und ihr «Unmittelbar zu Gott».
Auch das Vorbild, der Wanderprediger Jesus von Nazareth, lebte ganz aus seinem subjektiven Erleben. Und nicht aus dem, was das Dogma aus ihm gemacht hat. Religion und Glaube sind zuallererst menschliche Phänomene. Schon vor 100 Jahren hat der Religionspsychologe William James das innere und subjektive Bedürfnis des Glaubens zu dessen Kern erklärt, losgelöst von allen Dogmen und kirchlichen Institutionen. Damit hat er den religiösen Pragmatismus begründet: Religion fängt beim Menschen an, nicht bei vermeintlich objektiven Offenbarungstatsachen.
Für mich ist die Kirche weder sakramentale Heilsanstalt noch Abbild des himmlischen Jerusalems. Wenn schon geht es in der Kirche um letzte Fragen, nicht um letzte Dinge. Kirche ist ein Ort des Gesprächs. Und ein Schutzraum für sozial und transzendental Bedürftige.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.11.12