Laut UNO haben Behinderte ein Recht auf Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Schweiz sollte hier endlich auch vorwärtsmachen.
Der siebenjährige M. hat eine geistige Behinderung. Er besucht die Regelschule in seinem Wohnquartier.
Die 30-jährige gehörlose A. arbeitet in einem Basler Heizungsfachgeschäft als Heizungsmonteurin.
Der 16-jährige Rollstuhlfahrer P. besucht ein Basler Gymnasium. Dieses verfügt über einen stufenlosen Zugang, einen rollstuhlgängigen Lift und ein Rollstuhl-WC.
Die 50-jährige Übersetzerin Y. ist von einer psychischen Erschütterung betroffen. Nach einer Weiterbildung arbeitet sie als psychiatrieerfahrene Fachperson im Gesundheitswesen.
Diese realen – hier aber anonymisierten – Beispiele zeigen anschaulich, was Inklusion bedeutet. Menschen mit Behinderung leben, lernen, arbeiten und wohnen dort, wo alle Menschen es tun, in einem Stadtquartier, in einem Dorf. Von Anfang an und immer. Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Mitte der Gesellschaft. Ein solches Leben entwickelt sich nur im normalen, im öffentlichen Leben. Jede Sonderlösung, jede Sonderinstitution beengt, verkleinert die Lebensräume, den Lebensplan, auch bei hoher Qualität der Dienstleistung.
Institutionen greifen immer in die Privatsphäre des Menschen mit Behinderung ein.
Institutionen greifen immer, quasi per Definition und Auftrag, in die Selbstbestimmung und Privatsphäre des Menschen mit Behinderung ein. Die Hausordnung regelt die Tagesabläufe, die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner, die Bezugspersonen sind nicht frei gewählt, Privates wird öffentlich, Abhängigkeiten verstärken sich. Inklusion bedeutet Nicht-Ausgrenzung. Inklusion verträgt kein «Ja, aber…!» Inklusion ist eine klare, kompromisslose Haltung, die Sonderlösungen ausschliesst.
Das Leben im Quartier lässt Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen, normalen Räumen leben, arbeiten und wohnen. Die Normalität macht neugierig. Man erwirbt Kompetenz im Umgang mit unterschiedlichsten Menschen und Situationen. Durch Übung wird man zu einem selbstbestimmten Erwerbsleben und Wohnen als erwachsener Mensch befähigt. Unmögliches wird möglich. Inklusion ist konkret und geschieht im Alltag des Quartierlebens. Wenn Menschen mit Behinderung immer im Quartier leben, kennt man sie, spricht mit ihnen, schätzt sie, nimmt an ihrem Leben teil, gibt ihnen Chancen. Es entsteht Vertrautheit, es wachsen Beziehungen, die fortan die selbstverständliche Teilnahme am Leben im Quartier befördern. Vielfalt wird selbstverständlich.
Inklusion ist eine Haltung und ein Handwerk. Man muss es lernen, üben, entwickeln. Jede und jeder kann in seinem Leben, seinem Umfeld, in seiner Arbeit sofort und häufig ohne einen Rappen Geld Inklusion ermöglichen. Menschen die Hand geben, im Gegenüber das Gute, die Energie, das Spannende sehen, ihm vertrauen, von ihm lernen.
Die Kantone sind verpflichtet, die ausgrenzenden Strukturen der Behindertenhilfe abzubauen.
Die UNO-Behindertenrechtskonvention, die 2014 von der Schweiz ratifiziert wurde, bezweckt, Menschen mit Behinderung Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Im Zentrum der Konvention steht das Konzept der Inklusion. Bund und Kantone stehen bei der Umsetzung der Konvention ganz am Anfang. In den nächsten Jahren sind die Kantone verpflichtet, die ausgrenzenden Strukturen der Behindertenhilfe abzubauen und Voraussetzungen für die Rückkehr von Menschen mit Behinderung ins öffentliche Leben und ihre Teilnahme in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen, Kultur zu schaffen. Ausserdem muss sichergestellt sein, dass behinderte Menschen im öffentlichen Raum hindernisfrei unterwegs sein können.
In dieser Stadt entstehen Hochhäuser. Man plant eine Bahn unter dem Rhein. Wissenschaft und Forschung befördern bahnbrechende technologische und medizinische Entwicklungen. Der Politik, der Verwaltung, uns allen sollte es doch gelingen, in den Quartieren inklusive Strukturen zu schaffen. Sie ermöglichen es Menschen mit Behinderung, an den Brennpunkten des öffentlichen Lebens ihr Potenzial zu entfalten und ein gleichberechtigtes Leben zu führen.
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Martin Haug ist Leiter der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Basler Präsidialdepartement, die Ende Jahr geschlossen wird.