Viele Flüchtlinge haben einen Platz in der Gesellschaft gefunden. Doch noch immer machen wir ihnen das viel zu schwer.
Es herrschen Krieg, Elend und Zerstörung. Die Menschen fliehen. Sie suchen Schutz in Europa. Deutschland, Österreich, Schweden und Schweiz heissen ihre Zufluchtsorte. Die heimische Politik warnt, die Verunsicherung in der Bevölkerung wächst.
November 2015? Nein, das war 1992.
Die Schweiz erlebte bereits vor über 20 Jahren einen ähnlich Anstieg der Asylzahlen. Der Jugoslawienkrieg vertrieb über zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat, und SVP-Bundesrat Adolf Ogi fragte rhetorisch:
«Diese Leute, die sich die Köpfe zerschlagen, das Land kaputt machen, kommen hierher, und wir sollen das nachher finanziell wieder aufbauen?»
Entsprechend war die Stimmung in der Schweiz. Ein Teil der Bevölkerung fürchtete sich vor einer «Überfremdung», ein Teil vor einer «Balkanisierung», ein Teil vor dem Verlust der eigenen Identität – und einem grossen Teil war es aber auch einfach egal.
Heute sind die Jugos ein Teil der Willensnation Schweiz geworden.
Die Stimmung gegenüber den Menschen aus dem Balkan kippte schliesslich. Die Flüchtlinge wie auch die Saisonniers – die auf den Baustellen des Landes als fleissige Arbeiter ohne grosse Ansprüche galten – wurden zu «Jugos». Oder ehrlicher: zu «Drecksjugos». Die Schweiz hatte nach «dem Italiener», «dem Türken» und «dem Tamilen» ein neues Feindbild.
Heute stehen die Jugos hinter den Bankschaltern im Baselbiet, tippen Waren an den Kassen in Genf, reparieren unsere Autos in der Waadt, entwerfen Einfamilienhäuser in Obwalden oder vertreten Angeklagte vor Gericht in St. Gallen. Sie sind ein Teil dieser Willensnation geworden, finanzieren sie mit ihren Steuern, üben ihre Verteidigung in der Armee, schiessen für sie Tore an Weltmeisterschaften.
Viele haben es trotz Vorurteilen, Hürden und traumatischen Erlebnissen eines Krieges geschafft: Sie setzten sich durch dank Fleiss, Mangel an Fachkräften in der Schweiz und manchmal durch Zufall. Ein Teil ist aber gescheitert, er hatte Probleme, machte Probleme und lieferte Schlagzeilen. Nicht weil diese Leute nicht Teil dieser Willensnation werden wollten, sondern weil sie sich trotz ihres Willens nicht hineinkämpfen konnten.
Was hat die Schweiz daraus gelernt?
Sicherlich nicht, dass gerade die Flüchtlingskinder von heute in Zukunft entweder ein Problem sind oder eine Stütze der Gesellschaft. Wir haben die Befürchtungen von damals, die sich nicht bewahrheitet haben, nicht begraben, sondern lassen sie von Parteien und Politikern umformulieren: Von der «Balkanisierung» zur «Islamisierung»; von der «Überfremdung» zu «Parallelgesellschaften». Waren es gestern noch die «Jugos», sind es heute die «Asylanten» im Allgemeinen.
Noch immer kämpft die SVP – selbsterklärt als einzige Partei im Land natürlich! – für «die wahre Identität» der Schweiz. Vergisst dabei aber die Geschichte dieses Landes.
Statt Heime und Unterkünfte zu erneuern, werden 2015 erneut Hürden gezimmert für Menschen, die Schutz suchen in diesem Land.
Die Schweiz als Willensnation. Als Zusammenschluss jener, die damals wie heute als Gemeinschaft ein besseres Leben sehen. Ein Zusammenschluss jener, die vereint ermöglichen wollen, dass der Bergbauer im Wallis genauso wie der Logistiker im Aargau und der Chemiker in Basel-Stadt sein Leben leben kann. Und das eben besser, als es alleine ginge.
Und jene Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die dieses Land einst in Angst und Schrecken versetzten, weil sie Schutz in der Schweiz suchten: Sie sind heute ein vollwertiger Teil dieser Gesellschaft.
Statt Heime und Unterkünfte zu erneuern, werden 2015 erneut Hürden gezimmert für Menschen, die Schutz suchen in diesem Land. Die Behörden müssen sich gegen jenen Teil der Bevölkerung durchsetzen, der keine Heime, keine Liegenschaften – und schon gar nicht beides! – in seiner Nähe will.
Es sind die Menschen, die sich auf Facebook darüber empören, dass Flüchtlingsfamilien ein paar Jetons für die Herbstmesse gesponsert erhalten, während sich die eigene Nachbarin das nicht einmal leisten kann. Missgunst und Empörung liegen der eigenen Seele dabei näher als der Grossmut, dem Nachbarskind selbst einen Messbatzen zuzustecken.
Warum zählt im Land der Banken niemand das Geld? Jeder Franken, den man heute für Flüchtlingskinder ausgibt, könnte sich morgen doppelt auszahlen.
Es ist das grosse Problem auf kleiner Ebene. Die Kantone wissen seit Monaten, dass die Zahl der Asylsuchenden steigen wird. Dank fixem Verteilschlüssel hätten sie auch antizipieren können, wie gross der Bedarf wird. Reagiert haben sie auf zwei Arten: Die einen Kantone bereiteten sich darauf vor, die anderen hofften, dass die Flüchtlinge an der Schweiz vorbeiziehen.
Oder sie haben sich auf den Standpunkt gestellt, dass halt keine Lösung möglich sei. Gründe sind schnell zur Hand: «Die Bevölkerung wehrt sich», «wir haben keine geeigneten Liegenschaften.» Doch die Menschen suchen Schutz, sie lassen sich dabei nicht von Zäunen, widrigen Umständen oder mangelnder Vorbereitung der Zielländer abhalten.
Menschen auf der Flucht interessiert nicht, ob sich jemand ihre traumatischen Erlebnisse anhören wird und ihre psychischen Beschwerden lindert. Es kümmert sie nicht, ob ihnen jemand die Sprache des Ziellandes beibringt oder sie auf einen Hügel in ein altes Hotel abschiebt.
Unverständlich bleibt allerdings, warum im Land der Banken niemand das Geld zählt. Jeder Franken, den man heute für Flüchtlingskinder und -familien ausgibt, könnte sich morgen doppelt auszahlen. Mütter mit ihren Kleinkindern, Siebenjährige und Teenager sind nicht gekommen, weil sie der Schweiz etwas wegnehmen wollen, sondern weil sie etwas suchen: Heute Sicherheit und morgen eine Perspektive. Die Schweiz kann beides bieten.
Es darf nicht sein, dass Unterkünfte für minderjährige Asylsuchende erst entstehen, wenn die Realität einem Kanton keine andere Möglichkeit lässt.
8500 Lehrstellen blieben 2015 in der Schweiz unbesetzt, in vielen Branchen fehlen Arbeitskräfte. Eine Lösung wäre, das Potenzial der Menschen zu nutzen, die hierher kommen und Schutz suchen. Dass es durchaus Möglichkeiten gibt, zeigen Firmen wie Ikea oder auch Planzer, die Praktikumsplätze anbieten wollen. Selbst wenn das mehr dem Image geschuldet sein sollte, als einem ernst gemeinten Bedürfnis zu helfen – die Idee ist gut und pragmatisch.
Was die Schweiz benötigt, ist eine proaktive Haltung und gute Vorbereitung. Es darf nicht sein, dass Unterkünfte für unbegleitete minderjährige Asylsuchende erst entstehen, wenn die Realität einem Kanton keine andere Möglichkeit mehr lässt. Es darf nicht sein, dass Unterkünfte für Flüchtlinge zu einem Geschäft werden und erst möglich sind, wenn sich Kantone dem Druck des Bundes beugen müssen und sie sich für die Gemeinden lohnen.
Wer wirklich rechnen will, der sollte zurückblicken auf 1992.
Wir können es den Flüchtlingen wie damals schwer machen: Viele werden trotzdem einen Platz in der Gesellschaft finden, andere werden ihr Potenzial nicht ausschöpfen und einige werden auf der Strecke bleiben. Die einen leisten ihren Beitrag in der Schweiz (viele auch – dank ihrer Ausbildung hier – in ihrer Heimat als wertvolle Rückkehrer), die anderen «stören», «kosten» und dienen als Abziehbild für rassistische Ressentiments.
Jene Flüchtlinge, die in der Schweiz bleiben werden, können dieses Land vorwärtsbringen. Jene, die heimkehren, sind befähigt ihre Herkunftsländer aufzubauen.
Welche will die Schweiz auf der Plus-Seite sehen?
Geben wir den Flüchtlingen die Gelegenheit, ein Teil dieser Gesellschaft zu werden. Lassen wir ihnen Fürsorge, Geborgenheit und Bildung zugutekommen. Überlassen wir es nicht dem Zufall, ob diese Menschen eine Perspektive erhalten oder nicht.
Unter dem Strich dürfte sich das für die Schweiz lohnen. Jene Flüchtlinge, die in der Schweiz bleiben werden, können dieses Land vorwärtsbringen. Jene, für die es kein Schutzbedürfnis mehr gibt und eine Rückkehr möglich ist, sind befähigt ihre Herkunftsländer aufzubauen und weiterzuentwickeln.
Sie werden möglicherweise nur einen Arbeitsplatz schaffen, aber er wird jemandem vor Ort eine Perspektive bieten. Sie werden möglicherweise nicht eine politische Revolution auslösen, aber für Stabilität sorgen. Sie werden möglicherweise nicht mehr in die Schweiz kommen, aber sie werden vielleicht daheim im bosnischen Cazin ihr Café «Swiss» nennen.
Der Kuchen dort schmeckt ausgezeichnet.