Für weniger als den Weltuntergang steht in der Politik niemand mehr auf

Was man in den 1990er-Jahren der SVP vorgeworfen hat, hat längst in der restlichen Politik Einzug gehalten: der gepflegte Alarmismus.

Früher war es eine Spezialität der SVP – heute haben sich auch die restlichen Parteien auf die Angstmacherei spezialisiert. (Bild: Keystone)

Was man in den 1990er-Jahren der SVP vorgeworfen hat, hat längst in der restlichen Politik Einzug gehalten: der gepflegte Alarmismus.

Mehr Repräsentanz geht in der Schweiz kaum: In der Mitte Simonetta Sommaruga, zu ihrer Rechten der adrette Didier Burkhalter, zu ihrer Linken Johann Schneider-Ammann. Flankiert wurde die bundesrätliche Troika gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP vom Waadtländer Staatsrat Pascal Broulis, von Vizekanzler André Simonazzi und zwei hoch aufragenden Schweizer Flaggen. Es war ein Bild von beinahe vollendeter Symmetrie.

Und es war ein Bild, das nach einer Erklärung verlangte. Nachdem sich verschiedene Medien bereits vor dem Auftakt der Abstimmungskampagne gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP über den bundesrätlichen Grossaufmarsch gewundert hatten, war es nun an Justizministerin Sommaruga, sich und ihre Kollegen zu erklären. Der Bundesrat sei nicht nervös, die Erklärung viel simpler, sagte Sommaruga. «Wir haben bisher alle Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit zu dritt eröffnet.»

Fatalismus

Was danach folgte, war der gut einstündige Beweis des Gegenteils. Die Argumentation der drei Bundesräte war derart fatalistisch, es hätte nicht nervöser sein können. Es gehe um nichts anderes als um die künftige Rolle der Schweiz in Europa, sagte Aussenminister Didier Burkhalter. Ein Ja zur Initiative sei ein Nein zur Personenfreizügigkeit, ergänzte Justizministerin Simonetta Sommaruga, und Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann schloss mit dem Lieblingsargument aller Bürgerlichen jenseits der SVP: Ein Ja zur Initiative gegen die Masseneinwanderung gefährde das Erfolgsmodell Schweiz.

Auffällig an der Argumentation des vereinigten Bundesrats ist nur noch, wie normal der gepflegte Alarmismus bereits geworden ist. Während des Aufstiegs der SVP in den 1990er-Jahren zur stärksten Partei der Schweiz war genau jene Art der Argumentation der grösste Kritikpunkt der SVP-Gegner. Angstmacherei, Alarmismus, Politik by Fear – das warf man den Rechtskonservativen vor. Und übernahm gleichzeitig deren Erfolgskonzept.

Im Kleinen und im Grossen

Das funktioniert im Kleinen – wenn etwa Verkehrsministerin Doris Leuthard die Bevölkerung im Falle einer Ablehnung der Vignetten-Vorlage vor einer Erhöhung des Benzinpreises warnt –, aber das funktioniert noch viel besser im Grossen. Das Grosse, das ist das «Erfolgsmodell Schweiz», jenes nicht näher definierte Wunschbild der Politik, der in die Neuzeit transformierte «Sonderfall», der uns Schweizerinnen und Schweizer besser, schlauer und vor allem reicher macht als den Rest der Welt. Und dieses Erfolgsmodell scheint unter Dauerbeschuss:

  • «Die Minder-Initiative setzt das Erfolgsmodell Schweiz aufs Spiel» (Schweizer Arbeitgeberverband vor der Abstimmung über die Abzockerinitiative),
  • «Es wird jetzt Zeit, dass die Eidgenossen aufwachen und sich entscheiden, ob sie am bewährten Erfolgsmodell Schweiz festhalten wollen oder ob sie ein auf Misstrauen aufgebautes Staatssystem wie in unseren Nachbarländern bevorzugen» (SVP-Banker Thomas Matter im «Sonntagsblick» über die Bankgeheimnis-Initiative),
  • «Das ist eine Kampfansage an das Erfolgsmodell Schweiz» (Gewerbedirektor Hans-Ulrich Bigler vor der 1:12-Abstimmung in der NZZ),
  • «Es gibt einige wichtige Rahmenbedingungen, wenn wir das Erfolgsmodell Schweiz weiterziehen wollen. Und gute Infrastrukturen gehören dazu» (CVP-Präsident Christoph Darbellay vor der Abstimmung über die Erhöhung des Vignetten-Preises).

Das System dahinter ist immer das gleiche: Ein Nein zum «Erfolgsmodell» ist ein Ja zum Abstieg der Schweiz in die Barbarei. Dazwischen gibt es nichts.
Vorreiter dieser Argumentation ist eine Gruppierung um die Nationalräte Ruedi Noser (FDP) und Gerhard Pfister (CVP) mit dem sinnigen Namen «succèSuisse». «Das Erfolgsmodell Schweiz mit seiner tiefen Arbeitslosigkeit, seiner hohen Lebensqualität und der sozialen Sicherheit ist in Gefahr», heisst es auf der Website der Gruppe, die sich aufgemacht hat, die Schweiz zu retten.

Aktuell beim Streit um einen Mindestlohn: Bei der epischen Debatte (72 Redner hatten sich in die Liste eingetragen) zur Mindestlohn-Initiative der Gewerkschaften taten sich die verschiedene Mitglieder von «succèSuisse» als besonders begabte Schwarzmaler hervor. Allen voran der Gründer der Gruppe, Ruedi Noser: «Ein staatlicher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze, gefährdet das duale Bildungssystem, fördert die Schwarzarbeit, ist ein massiver Eingriff in den freien Arbeitsmarkt und stellt die Sozialpartnerschaft grundsätzlich infrage. Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz wird damit gefährdet; sie würde nachhaltig geschwächt.»

Da gibt es keinen Raum für Zweifel, für graue Bereiche, für Nachfragen. In den grossen politischen Debatten der Schweiz gibt es nur noch ein Ja oder ein Nein. Das Dazwischen, es ist im Verlauf der vergangenen Jahren leise und unbemerkt aus der Schweizer Politik verschwunden.

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