Vor und hinter dem roten Teppich: Cannes verteidigte in einem glänzenden Jahrgang seinen Rang als wichtigstes Filmkunstfestival.
Stillschweigend ging in Cannes 2013 eine Ära zu Ende. Kein einziger Wettbewerbsbeitrag wurde noch von Zelluloidfilm produziert. Und das, obwohl mit Steven Spielberg einer der letzten Verfechter der immanenten Schönheit dieses Materials in der Jury sass: «Ich liebe den Geruch von Zelluloid», schwärmte er noch, als die digitale Revolution schon nicht mehr aufzuhalten war.
Aufklärerische grosse Filmkunst
Aber selbst wenn die Franzosen die Schönheit des Analogfilms künftig anderen Festivals überlassen sollten – Venedig feierte sie erst im vergangenen Jahr mit der 70mm-Kopie von Paul Thomas Andersons Film «The Master»: Cannes war auch im 66. Jahrgang erste Wahl. Die Vielfalt des Programms ist konkurrenzlos, die Qualität erst recht.
Wie radikal und aufklärerisch grosse Filmkunst sein kann, das zeigte ausgerechnet ein Dokumentarfilm, der Gewinner des mit 30’000 Euro dotierten «Prix Certain Regard»: Für den aus Kambodscha stammenden Filmkünstler Rithy Panh «L’image manquante» («Das fehlende Bild») führt der Weg zur Wahrheit über die Kunst.
Als einziges Mitglied seiner Familie überlebte der bekannte Regisseur als Kind ein Umerziehungslager der Roten Khmer, wo er zwischen 1975 und 1979 inhaftiert war. Doch welche Bilder wären diesem unvorstellbaren Schrecken angemessen? Panh schnitzte sie in Holz: Mit hunderten einzelner Figuren stellte er das Erlebte und Erlittene in Art eines statischen Puppenfilms nach, höchst beklemmend und doch auch ein Verweis auf das Spielerische einer Kindheit, die nicht mehr stattfinden durfte.
Klar, Cannes ist eine Show – aber auch ein Tempel.
Doch Cannes beliess es nicht bei diesem einen, fordernden Film gegen das Vergessen. Auch Claude Lanzmann, der bedeutendste filmische Dokumentarist über den Holocaust, öffnete noch einmal sein Archiv: «Le dernier des injustes» («Der letzte der Ungerechten») ist ein vierstündiges Porträt des einzigen überlebenden «Judenältesten», der den Krieg überlebte. So nannten die Nazis jene Lagerinsassen, denen Verwaltungsaufgaben oblagen.
Diese späte Begegnung mit Benjamin Murmelstein, den Lanzmann 1975 gefilmt hatte, geriet unvergesslich: Mit unerhörtem Eifer und den Tod im Nacken half der zu Lebzeiten verkannte und der Kollaboration verdächtigte Mann 12’000 Juden, zu überleben. Nicht aus Mitleid, sondern aus Vernunft: «Ein Arzt, der bei der Operation weint», sagt Murmelstein, «der ist ein schlechter Arzt.»
Einen ganzen Festivaltag widmete Cannes diesen beiden grossen, erhellenden Filmen. Denn eben das ist Cannes, eine Show gewiss, aber auch ein Tempel. Jenseits des roten Teppichs schlägt das Herz der Kunst.