Konkordanz – eine Leerformel

Die Schweiz ist stolz auf ihr Regierungssystem – auf die Konkordanz. Doch ein jahrzehntealtes System ist noch kein Garant für eine funktionierende Regierung. Ein Kommentar.

Die Schweiz ist stolz auf ihr Regierungssystem – auf die Konkordanz. Doch ein jahrzehntealtes System ist noch kein Garant für eine funktionierende Regierung.

Wenn in einem Restaurant ­namens «Concordia» eine Schlägerei ­losgeht – was ja durchaus schon vorgekommen sein soll –, so hat sie irgendwie am falschen Ort stattgefunden. Denn Concordia heisst übersetzt Eintracht. Auch Beizen mit dem urdeutschen Namen «Eintracht» sind nicht gefeit vor wüsten Szenen. So ­wenig wie ein politisches System, das man in Anlehnung ans lateinische Concordia «Konkordanz» nennt, ­garantiert, dass alles in gegenseitiger Übereinstimmung entschieden wird.

Alle reden von Konkordanz

Was Konkordanz am konkreten Beispiel der Schweiz genau bedeutet und wie sie interpretiert werden kann, zeigen die Diskussionen vor der anstehenden Bundesratswahl. Nämlich: Es gibt keine Übereinstimmung. Die Leute von der SVP meinen, Konkordanz bedeute, dass sie als stärkste Partei zwei Bundesräte haben müssen. Die Linke geht davon aus, dass man Konkordanz nicht rechnerisch festlegen dürfe, sondern inhaltlich – ihrer Argumentation zufolge genügt es, wenn die rechten Parteien, also SVP und FDP, zusammen drei Sitze erhalten. Die BDP glaubt, weil sie so schön in der Mitte sei, habe sie mit ihren fünf ­Prozent Wähleranteil ausnahmsweise durchaus Anspruch auf einen Sitz, weil ihre Eveline Widmer-Schlumpf eben voll in der Mitte politisiere.

So geht das weiter: Alle reden von Konkordanz und weil alle etwas anderes meinen, ist der Begriff zur Leerformel geworden.

Zum letzten Mal gab es zwischen 2003 und 2007 eine Art Konkordanz. Rein formal wenigstens. Die drei stärksten Parteien (SVP, SP, FDP) hatten je zwei Bundesratssitze, die drittstärkste (CVP) einen. Dies nachdem die Bundesversammlung die jahrzehntealte Zauberformel gesprengt und Christoph Blocher die bisherige CVP-Bundesrätin Ruth Metzler aus der Regierung verdrängt hatte. Es ­waren aber nicht unbedingt die besten Jahre für die Schweiz, es waren Jahre des forcierten Streits. Die urschweizerische Tradition, für anstehende Probleme nach Kompromisslösungen zu suchen, ging vergessen, die erstarkten Pole links und rechts lähmten den politischen Betrieb.

SVP und SP zeigten sich in verschiedenen Fragen unnachgiebiger als zuvor, nur weil sie verhindern wollten, dass rechts beziehungsweise links von ihnen ein Grüppchen erstarken könnte. Die SVP etwa kämpfte gegen die Milliardenzahlung an die neuen EU-Staaten, weil sich die Lega im Tessin und die Schweizer Demokraten dagegen auflehnten. Die SP unterstützte die Revision der Invalidenversicherung, aber erst, nachdem die Grünen vorangegangen waren. Das sind zwei von vielen Beispielen, mit denen sich die vielbeklagte Polarisierung illustrieren lässt.

Nun ist es auch nicht so schlimm, wenn Parteien sich streiten. Sie verfolgen unterschiedliche Ziele und müssen ihre Wählerinnen und Wähler vertreten. In den meisten Demokra­tien der Welt kommt das dann so ­heraus, dass ein paar Jahre lange die einen die Mehrheit haben und sagen, wo es langgeht, und wenn das Volk ­genug von ihnen hat, wählt es andere, die den Ton angeben. In der Schweiz wollen aber alle immer ein bisschen das Sagen haben, und darum stellen sie dann eine Konkordanz-Regierung zusammen wie eben die von 2003 bis 2007.

Streit und immer wieder Streit

Was arithmetisch aufging, war faktisch ein Debakel. Die Konkordanz-­Regie­rung suchte nicht die Übereinstimmung, sondern den Streit. Das Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, das Jahr für Jahr ein knochentrockenes Buch über die vergangenen politischen Ereignisse herausgibt («Année politique suisse/Schweizerische Politik») schreibt fürs 2004: «Was sich hingegen verstärkt hatte, war die me­diale Aufmerksamkeit für öffentlich ausgetragene oder auch bloss vermutete Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Regierungsmitgliedern.» Im Jahr 2005 ortete das Institut die Probleme bei Bundesrat Christoph ­Blocher. Die öffentliche Aufmerksamkeit habe sich auf das Funktionieren der Regierung unter seiner Mitwirkung konzentriert.

Von vermuteten und tatsächlichen Konflikten sei vor allem die Rede gewesen. 2006 hiess es: «Ein recht gros­ser Teil der politischen Diskussion in den Medien blieb auf den SVP-Bundesrat Christoph Blocher fokussiert.» Und im Wahljahr 2007 bilanziert das Institut: «Die Zusammensetzung des Bundesrats bildete eines der Hauptthemen (…). Verantwortlich dafür war primär die SVP, welche ihren Bundesrat Christoph Blocher in ­einer in der Schweiz noch nie gesehenen Weise in den Wahlkampf einspannte.» Kurz: Auf dem Papier bestand die Konkordanz, doch unter der Bundeshauskuppel flogen die Fetzen.

Nach der Abwahl von Christoph Blocher aber und dem Rausschmiss von Eveline Widmer-Schlumpf aus der SVP wurde die arithmetische Konkordanz zwar zur Makulatur, aber der neu zusammengesetzte Bundesrat – besonders nach den Rücktritten des streitbaren Pascal Couchepin und des sauertöpfischen Moritz Leuenberger – arbeitet offenbar wieder. Immerhin meisterte er die UBS-Krise, suchte Rezepte gegen die Frankenstärke, einigte sich nach Fukushima auf einen Atomausstieg, legte einen Entwurf für eine ökologische Steuerreform vor. Jeder einzelne Punkt mag umstritten sein. Das ändert aber nichts an der Feststellung: Der Bundesrat ist nicht mehr vor allem mit sich beschäftigt, sondern entscheidet und bietet Lösungen an.

Die Bisherigen überzeugen

Es wäre deshalb ziemlich unverständlich, wenn die Bundesversammlung ein Mitglied des bestehenden Bundesrats, insbesondere Eveline Widmer-Schlumpf, abwählen und einem ­beliebig inter­pretierba­ren Begriff «Konkor­danz» op­fern würde. Dies besonders, weil die wählerstarke SVP, die den Anspruch auf zwei Sitze erhebt, mit zwei Männern aus der zweiten Reihe antritt. All ihre Wortführer stellen sich, nach ihren persönlichen Niederlagen bei den Ständeratswahlen, nicht zur Verfügung. Dies im Gegensatz zur SP, die zwei Wahlsieger für die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey präsentiert: den geschmeidigen Ständerat Alain Berset und den regierungserfahrenen Nationalrat Pierre-Yves Maillard, der mitverantwortlich ist für den Aufschwung des Kantons Waadt. Die SVP hat es schlicht verpasst, geeignete Kandi­daten aufzubauen. Bis zur nächsten ­Vakanz im Bundesrat hat sie Zeit, dies nachzuholen.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

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