«Leben ohne Solidarität ist ein einsames Leben»

Vania Alleva präsidiert seit Samstag die Unia alleine. Zum Start ihr persönlicher Aufruf zu einem furchtlosen Leben in der Solidarität.

Vania Alleva präsidiert seit Samstag die Unia alleine. Zum Start ihr persönlicher Aufruf zu einem furchtlosen Leben in der Solidarität.

Eine ereignisreiche Woche liegt hinter mir. Am Samstag ist mein geschätzter Kollege, der bisherige Unia-Co-Präsident Renzo Ambrosetti, altersbedingt zurückgetreten. Die Delegiertenversammlung hat mich zur alleinigen Präsidentin gewählt. Für mich als Gewerkschafterin ein sehr emotionaler Moment.

Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, um mich für meine Werte und Überzeugungen zu engagieren. Dass ich diese Chance erhalte, dafür bin ich unseren Delegierten und allen Mitgliedern sehr dankbar. Ich führe von nun an die grösste Gewerkschaft der Schweiz – ein Verein mit 200’000 Mitgliedern, eine soziale Bewegung mit 10’000 Aktiven, ein Unternehmen mit 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Eine Organisation, die immer wieder neue Herausforderungen bewältigen muss: grosse politische Auseinandersetzungen, schwierige Konflikte mit Arbeitgebern, gefährliche gesellschaftliche Entwicklungen. Eine solch grosse Verantwortung könnte schon Angst machen. Aber ich habe keine Angst.

Müssen Sie beim Begriff Solidarität gähnen?

Ich schlafe gut. Sogar letzte Woche, trotz all dem Stress, all den Medienanfragen und Zusatzaufgaben, die mit der Wahl verbunden waren. Und mir ist nochmals klarer geworden, warum. Die Antwort heisst: Solidarität.

Müssen Sie jetzt gähnen? Ist das für Sie nur noch ein verstaubtes Wort aus der linken Mottenkiste?

Nach vier Jahrzehnten neoliberaler Gehirnwäsche – «investiere in dich selbst, übertreffe alle, sei produktiver, stich die anderen aus, verkauf dich besser, passe dich an» – haben leider viele Menschen jeden Begriff von Solidarität verloren. Mit schlimmen Folgen: Denn ein Leben ohne Solidarität ist ein einsames Leben. Ein Leben in Angst.

Zusammenstehen führt zum Erfolg

Was das Zusammenstehen bewirken kann, das erlebe ich laufend ganz konkret. Kürzlich zum Beispiel beim Protest der Angestellten gegen missbräuchliche Kündigungen bei McDonald’s in Burgdorf. Oder bei der Petition mit Unterschriftensammlung des Verkaufspersonals in der St. Galler Shopping-Arena gegen weitere zusätzliche Öffnungszeiten über die nächsten Weihnachtsfeiertage.

Es ist beeindruckend, wie diese konkrete Erfahrung gemeinsamen Handelns die beteiligten Verkäuferinnen, Angestellten, Büezer verändert. Wie sie ihr Bewusstsein stärkt, dass Probleme gemeinsam angepackt, die eigenen Rechte gemeinsam besser verteidigt werden können.

Auch bei uns gibt es Konflikte, auch bei uns wird Leistung verlangt.

Die Unia ist keine «geschützte Werkstatt». Auch bei uns gibt es Konflikte, auch bei uns wird Leistung verlangt. Aber die Bewegung Unia ist keine Kampfzone «jeder gegen jeden». Wir setzen uns ein für gemeinsame Werte und Überzeugungen. Für gemeinsame Ziele, die viel mehr bedeuten als individuelle Erfolge und Niederlagen. Dafür schenken wir uns gegenseitig Respekt und immer wieder Solidarität. Und daraus ziehe ich meine Kraft und Motivation. Darum habe ich keine Angst.

Angst macht krank

Angst ist das Leitmotiv der neoliberalen Arbeitswelt im 21. Jahrhundert. Angst vor den allmächtigen Chefs, Angst vor den ehrgeizigen Kollegen, Angst vor Ausländern, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst den Einstieg nicht zu schaffen, Angst den Anschluss zu verlieren, Angst zu scheitern. Angst macht krank. Es gibt dagegen nur ein Heilmittel: unsere gemeinsamen Interessen entdecken und zusammen dafür einstehen.

Solidarität ist darum kein leeres Wort aus vergangenen Zeiten. Solidarität ist die grosse Herausforderung für die Zukunft und ein wichtiges Leitmotiv der Unia: Wir stehen dafür ein, dass wieder mehr Menschen ganz konkret Solidarität leben und erleben können, an ihrem Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Es würde mich sehr freuen, wenn auch Sie dazu beitragen.


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